In der Fremde

Rezensiert von Heike Schmoll · 20.01.2008
Einwanderer, Gastarbeiter oder Asylsuchende, sie alle verbindet, dass sie ihrer eigenen Heimat den Rücken gekehrt haben und in der Fremde ein neues Leben suchen. In der "Enzyklopädie Migration in Europa" wird die Geschichte der Einwanderer seit dem 17. Jahrhundert geschildert und gezeigt, dass Europa seit jeher von interkultureller Begegnung geprägt war.
Bisher ist es keinem europäischen Land gelungen, die Probleme der Migration und Integration überzeugend zu lösen. Die politischen Schwierigkeiten spiegeln sich in der sprachlichen Verweigerungshaltung im neuen Wort "Integrationsland". Offenkundig dient dieses Wort dazu, die missliebigen, schwierigen Themen "Einwanderung", "Einwanderungsland" und "Einwanderungsgesellschaft" semantisch zu überspringen. Integrationspolitik erscheint dabei mehr als Bekämpfung der Schäden einer unerfreulichen migrationshistorischen Ausnahmesituation, die sich vor allem nicht wiederholen sollte.

Von einer historischen Ausnahmesituation jedoch kann keine Rede sein. Der historische Rückblick zeigt, dass die europäische Kulturgeschichte seit jeher von Einwanderung und interkultureller Begegnung geprägt war. Mit Ausnahme der jüdischen Migration und der Wanderungsbewegung der Hugenotten ist über die einzelnen Gruppen im Wanderungsgeschehen wenig bekannt. Die vielfältige Migration in ihrer religiösen, ethnischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Perspektive an ausgewählten Einzelbeispielen darzustellen, ist das Ziel der neuen Enzyklopädie "Migration in Europa". Sie umfasst die europäischen Wanderungsbewegungen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Im Blickfeld der Enzyklopädie stehen ausschließlich allochthone Gruppen, damit sind in erster Linie über Grenzen aus anderen Territorien zugewanderte Nachfahren gemeint. Der Osnabrücker Migrationsforscher Klaus Jürgen Bade, einer der Herausgeber, schreibt dazu im Vorwort:

"Ein bekanntes Beispiel dafür bilden in Deutschland die aus dem preußischen Osten stammenden, im gleichermaßen preußischen Ruhrgebiet zugewanderten ’Ruhrpolen’ im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert: Sie waren, als Ergebnis der Teilung Polens, preußisch deutsche Staatsbürger, aber polnischer Nationalität und Muttersprache sowie katholischer Konfession und erlebten im Ruhrgebiet zwar nicht im rechtlichen, aber im sozialen, kulturellen und mentalen Sinne einen echten Einwanderungsprozess, ohne doch über Staatsgrenzen zugewandert zu sein."

In der Enzyklopädie ist aber auch zu finden, was die Molukker in den Niederlanden suchten oder wie die bosnischen Bärenführer in West- und Mitteleuropa um 1860 ihren Unterhalt mit dressierten Bären verdienten, die auf Straßen und Jahrmärkten tanzten. Allein aus den Abschnitten über die Einwanderung von Spielleuten, Gauklern und Artisten, Schriftstellern und Musikern ließe sich eine eigene Kulturgeschichte destillieren.

Auf seine Kosten kommen wird jedoch auch, wer europäische Migrationsbewegungen unter der Perspektive von Erfolg und Innovation für die Produktion des jeweiligen Landes betrachten will. Auch die unterschiedlichen Zuschreibungen wie Einwanderer, Saisonarbeiter, Gastarbeiter, Kontingentflüchtlinge oder Asylsuchende werden in den Blick genommen.

Das Interesse der Autoren richtete sich auf die jeweiligen Eingliederungsprozesse und die damit verbundenen Assimilationsprozesse, aber auch auf Minderheitenbildungen, Diasporasituationen oder das Erlöschen von Gruppenidentitäten. Wer sich anhand der Überschriften zu den einzelnen Artikeln noch nicht ausreichend informiert fühlt, wird in zwei ausführlichen Sachregistern fündig werden: in einem Verzeichnis der Wanderungsformen, in dem sich auch Berufsgruppen finden, und in einem Register der Länder, Regionen und Orte. Die Initiative für die Enzyklopädie, die von jeweils zwei Wissenschaftlern aus Deutschland und den Niederlanden betreut wurde, hat der Osnabrücker Migrationsforscher Klaus Jürgen Bade ergriffen. Von Anfang an war die Enzyklopädie ein gemeinsames Projekt des Berliner Wissenschaftskollegs, wo Bade mit seinem niederländischen Kollegen Pieter C. Emmer wesentliche Vorarbeiten leistete und dem Institute for Advanced Studies der Niederländischen Akademie der Wissenschaften in Wassenaar. Redakteure und Herausgeber betreuten mehr als 200 Autoren von mehr als 250 Beiträgen. Gefördert haben die Veröffentlichung die Deutsche Forschungsgemeinschaft, durch die Fritz Thyssen Stiftung und durch die Schweizer Stiftung Bevölkerung - Migration - Umwelt.

Einwanderung verstehen die Herausgeber im Sinne der sozial- und kulturhistorischen Migrationsforschung. Der Hauptakzent liegt in den Gruppenartikeln nicht auf der Darstellung der Gründe für die Auswanderung, sondern des Integrationsprozesses, der meist zwei, häufig auch drei Generationen umfasst.
Besonders aufschlussreich ist, wie die Einwanderer die Kultur und Bildungstradition im Einwanderungsland bereichert haben. Das gilt etwa für die südniederländischen Calvinisten im 18. Jahrhundert, die nach Aachen, Wesel und Emden gekommen waren und dort durch Eheschließungen mit Deutschen für eine rasche kulturelle Verschmelzung sorgten:

"Häufig schickte - wie beispielsweise in Emden - die städtische Oberschicht ihre Kinder auf die französische Schule der Exulanten."

Zu den schwierigsten Gruppen gehören in allen Ländern West-, Mittel- und Nordeuropas die eingewanderten Türken, die inzwischen in allen Ländern eine beträchtliche Minderheit bilden. In den letzten dreißig Jahren ist ihre Zahl von 430.000 auf 3,2 Millionen gewachsen, davon leben allein 1,9 Millionen in Deutschland. Die türkische Einwanderung begann schon Anfang der sechziger Jahre, also längst vor dem offiziellen Anwerbeabkommen europäischer Staaten mit der Türkei. In der Anfangsphase kamen sie, so informiert der Artikel in der Enzyklopädie, vor allem aus den prosperierenden Provinzen im Westen und Norden der Türkei, später auch aus den ländlichen Regionen Anatoliens. In Frankreich und in Belgien besuchen zwar doppelt so viele junge Türken mittlere und höhere Schulen wie in Deutschland, Österreich oder in den Niederlanden, dafür ist die Anzahl türkischer Bildungsabbrecher in Frankreich auch besonders hoch.

"Im Integrationsprozess gewinnen ethno-religiöse Abgrenzungen von der Aufnahmegesellschaft eine besondere, identitätsstiftende Bedeutung, auch wenn sie von den Folgegenerationen neu interpretiert und somit zu einer eigenständigen türkischen Migrantenkultur weiterentwickelt werden", hält die Enzyklopädie fest. Im Unterschied zu anderen Migranten hielten die Jugendlichen der zweiten und dritten Generation an ihrer Verbundenheit zum Islam fest, legen religiöse Pflichten offener aus und deuten das Kopftuch eher als Ausdruck selbstgewählten muslimischen Lebensstils.

"Im Integrationsprozeß gewinnen ethno-religiöse Abgrenzungen von der Aufnahmegesellschaft eine besondere, identitätsstiftende Bedeutung, auch wenn sie von den Folgegenerationen neue interpretiert und somit zu einer eigenständigen (türkischen) Migrantenkultur weiterentwickelt werden."

Es wird nicht verschwiegen, dass die türkische Bevölkerung zumeist das urbane Subproletariat bildet, aber es durchaus arrivierte kulturschaffende und Wirtschaftsvertreter türkischer Herkunft gibt. Ein besonderes Aufstiegspotential liegt in den jungen Türkinnen, die sich häufig stärker von ihrer ethnischen Identifikation abgrenzen als die jungen Männer. Dass die einzelnen Artikel sprachlich wie inhaltlich unterschiedlich gelungen erscheinen, liegt in der Natur einer Enzyklopädie. Doch dieses Nachschlagewerk lohnt sich, weil es eine Lücke füllt.

Klaus J. Bade, Pieter C. Emmer (unter anderen): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2007
Enzyklopädie Migration in Europa
Enzyklopädie Migration in Europa.© Verlag Ferdinand Schöningh