"In der Bevölkerung haben die Islamisten sehr wenig Rückhalt"

Saida Keller-Messahli im Gespräch mit Ulrike Timm · 17.01.2011
Tunesiens Präsident ist geflohen - und jetzt? Die Sorge, dass bald bärtige Extremisten das Land übernehmen, hält Saida Keller-Messahli vom Forum für einen fortschrittlichen Islam für unbegründet. Die Tunesier wünschten sich vor allem Freiheit, Würde und Gerechtigkeit.
Ulrike Timm: Wie schnell das gehen kann – wenn plötzlich ein Volk nicht mehr mitspielt und seinen Herrscher in die Wüste schickt. Noch nie in der modernen Geschichte des Nahen Ostens hat ein arabisches Volk aus eigener Kraft seinen Diktator davongejagt: Die Tunesier haben das gemacht. Und auch wenn derzeit dort alles drunter und drüber geht und Tausende Urlauber ausgeflogen wurden, gehört den Aufständischen doch die große internationale Sympathie der westlichen Staaten. Denn wer gegenüber Staatschef Ben Ali den Mund zu weit aufmachte, der hatte schnell den Knüppel im Hals, und plötzlich haben sich Zehntausende den Widerstand einfach zugetraut.

Den autokratisch regierenden Herrschern in den Nachbarländern wird es sehr unbehaglich, und die Tunesier hören jetzt von überall gute Rezepte: Jetzt aber richtige Demokratie, fordert die deutsche Kanzlerin, unterstützt vom Außenminister, nur: Was möchten eigentlich die Tunesier selbst, und welcher Humus hat den Protest erst möglich gemacht? Das kann uns Saida Keller-Messahli vom Forum für einen fortschrittlichen Islam erklären, sie lebt in der Schweiz, ist gebürtige Tunesierin und hat Augen und Ohren derzeit gespannt in Tunis. Frau Keller-Messahli, ich grüße Sie!

Saida Keller-Messahli: Guten Tag!

Timm: Schönen guten Tag! Was hören Sie denn von Ihren Freunden und Verwandten – mehr von Freudentänzen oder doch eher die bange Frage, was kommt jetzt?

Keller-Messahli: Es sind dort Freudentänze, wo es der Bevölkerung und der Armee, die übrigens Hand in Hand arbeiten, gelungen ist, die Milizen von Ben Ali einzufangen, am dringendsten ist jetzt, dass man die [unverständlich] Milizen, die ja versuchen, Terror und Zerstörung zu verbreiten, zu bekämpfen. Damit sind sehr viele Bürgerwehrgruppen pro Quartier jeweils jede Nacht dabei, Barrieren aufzustellen, um zu verhindern, dass sich diese Elemente der Milizen von Ben Ali an ihrem Eigentum und an ihrem Leben vergreifen. Das ist das dringendste und vielleicht auch das größte Bedürfnis zurzeit ist wirklich, so etwas wie eine Gerechtigkeit wiederherzustellen, das heißt, diesen Clan der Ben Alis und Trabelsis, das ist die Frau des geflüchteten Diktators, diesen Clan zur Rechenschaft zu ziehen für das, was er dem Volk angetan hat. Das ist der dringendste Wunsch zurzeit.

Timm: Frau Keller-Messahli, das sind sehr viele Ziele auf einmal, die wahrscheinlich doch eine ganze Weile brauchen werden. Es ist ja auch eine ganz gegensätzliche Stimmung. Die Blogger in Tunesien sind sich virtuell in die Arme gefallen, der arabische Sender Al Jazeera hatte seine große Stunde, in den ersten Tagen des Aufstands sind Regierungsbeamte noch durch die Cafés gegangen und haben überall versucht, den Fernseher abzustellen. Wie groß ist denn die Gefahr, dass nicht die Demokraten, sondern vielleicht auch Islamisten, die sogenannten Bärtigen, dieses Machtvakuum jetzt nutzen und das böse verwestlichte Tunesien auf Linie bringen?

Keller-Messahli: Ich schätze diese Gefahr als sehr gering ein, denn das Regime von Ben Ali hat in den letzten 20 Jahren systematisch die Islamisten entweder vertrieben, eingekerkert oder sonst wie aus der Welt geschafft, und ihr Führer sitzt ja in London, nein, in Oxford, der Herr Raschid Ghannouchi, und er ist vorläufig noch außer Land, ich denke, dass er auch wieder zurückreisen wird. In der Bevölkerung haben die Islamisten sehr, sehr wenig Rückhalt, und diese Aufstände, diese spontanen Aufstände sind vor allem von der Jugend ausgegangen und werden auch aufrechterhalten von Intellektuellen und Gewerkschaften. Und das sind Kreise, die sehr wenig mit den Islamisten zu tun haben beziehungsweise die null Sympathie für Islamisten haben.

Timm: Das ist ja sowieso etwas, was wir derzeit dazulernen, dass Tunesien das gebildetste Land in Afrika war, das reichste, dass die Menschen hier Kirche und Staat getrennt hatten. Es galt immer so ein bisschen als das Musterbeispiel. Jetzt gab es ausgerechnet dort den Umsturz. Inwieweit denn hatte gerade die Bildung der Tunesier den Umsturz mit ermöglicht?

Keller-Messahli: Die Bildung hat eine sehr wichtige Rolle gespielt, denn die meisten Jugendlichen, die, wie soll ich sagen, keine Zukunft mehr sahen, sind Hochschulabsolventen. Man weiß, dass [unverständlich] Prozent der Arbeitslosen einen Hochschulabschluss haben, und dass das [unverständlich] jedes Jahr zigtausend Hochschulabsolventen produziert, ihnen aber kein wirtschaftliches Weiterkommen offerieren kann. Und ja, ich denke, dass die Bildung eine zentrale Rolle gespielt hat.

Timm: Frau Keller-Messahli, wir haben kleine Probleme mit der Leitung, ich hoffe mal, das ist jetzt keine Sabotage, können Sie aber im Moment noch verstehen. Es klingt so ein bisschen, als würde jemand auf die Tasten eines Telefons drücken. Wir können das jetzt nicht klären, ich hoffe, das geht gut weiter.

Keller-Messahli: Ich hoffe auch.

Timm: Wie ist denn das eigentlich, kommen denn jetzt Intellektuelle, die eventuell eine Führung im Land übernehmen könnten, kommen die jetzt zurück, wo die Zeichen doch auf mehr Freiheit stehen könnten?

Keller-Messahli: Ich denke schon, also zum Beispiel sind Leute wie ein Moncef Marzouki aus Paris zurückgekehrt, es gibt auch Frauen, die zurückkehren wie Sihem Bensedrine, es gibt auch Journalisten, Anwälte, Schriftsteller, Künstler, die auf die Straße gegangen sind, die ihre Forderungen gestellt haben, und denen ist etwas gemeinsam: Sie wollen alle einen Neubeginn starten mit sogenannt sauberen Leuten, das heißt mit Leuten, die nichts mit der alten Ordnung am Hut haben.

Timm: Meint Saida Keller-Messahli, nach der Flucht des Diktators Ben Ali sprechen wir mit ihr darüber, welche Hoffnungen sich in Tunesien jetzt auftun. Frau Keller-Messahli, das klingt alles sehr optimistisch. Andererseits hatte man gestern, wenn ich die Nachrichtenlage richtig verfolgt habe, an einem Tag zwei Übergangspräsidenten. Da scheint eine Menge im Moment drunter und drüber zu gehen. Wie groß ist die Hoffnung, dass die Menschen, die Sie beschreiben, die jetzt zurückkommen, die Intellektuellen, die Gebildeten, wirklich das Fundament dort finden für einen anderen, für einen demokratischeren Staat, dass sie das bilden können?

Keller-Messahli: Es hängt sehr davon ab, wie klug jetzt die, die die Verantwortung in den Händen haben, handeln werden. Wir wissen, dass die Leute, die das alte Regime, die Teil des alten Regimes waren, nun die Verantwortung haben, eine vorübergehende Regierung zu bilden bis zu Neuwahlen. Ich bin fest überzeugt, dass die Straße nicht loslassen wird bis zu diesen Wahlen und bis wirklich gewährleistet ist, dass das Volk jene Repräsentanten wählen kann, die es will.

Timm: Wie wünscht sich denn der Tunesier seine künftige Demokratie? Soll die denn automatisch so aussehen wie eine europäische?

Keller-Messahli: Ja, das mit dem europäisch ist sehr relativ, denn Demokratie haben ja die alten Griechen sozusagen erfunden. Ich glaube, dass sich jetzt der Tunesier – wie jedes andere Volk auch, das unterdrückt wird, speziell in der arabischen Welt – vor allem eines wünscht: Freiheit und Würde, und zur Würde gehört auch, dass jemand sich wirtschaftlich weiterentwickeln kann und würdig überleben kann. Ich glaube, Freiheit, Würde und vor allem Gerechtigkeit wiederherstellen, das ist der innigste Wunsch der Tunesier zurzeit.

Timm: Wie hilfreich sind denn da Signale und auch Aufforderungen aus dem Ausland? Ich habe Angela Merkel zitiert, jetzt doch bitte richtige Demokratie. Wie hilfreich ist dieser Blick von außen?

Keller-Messahli: Der ist überhaupt nicht hilfreich. Die Leute reagieren sehr allergisch zurzeit auf Wünsche von außen, denn sie wissen, dass all die, die jetzt rufen, eigentlich mit schuldig sind an diesem Unrechtsregime von Ben Ali, den sie jahrzehntelang mitgetragen haben, mit ihm wirtschaftlich kooperiert haben, militärisch und so weiter. Und ich erachte es als kontraproduktiv, wenn jetzt Signale vom Ausland kommen.

Timm: Wenn Sie das werten müssten, was überwiegt bei Ihnen im Gespräch mit Ihren Freunden und Verwandten in Tunesien – Hoffnung oder auch Ängstlichkeit? Im Moment ist mir das nicht klar, ich habe den Eindruck, es hält sich die Waage.

Keller-Messahli: Vor ein paar Tagen war vor allem die Beunruhigung und die Ängstlichkeit vor den Milizen, die ja wüten, im Vordergrund. Ich kann sagen, dass seit gestern Abend im Dialog mit Verwandten und Freunden vor allem die Freude überwiegt und die Hoffnung, die Hoffnung, dass Gerechtigkeit zu haben ist und dass auch Freiheit zu haben ist. Und das stimmt mich auch sehr positiv.

Timm: Ist die Lage auch deshalb fragil, weil Tunesien, wenn es gelänge, ja eine Insel ist zwischen lauter Staaten, die autokratisch regiert werden? Ist das so?

Keller-Messahli: Wie bitte?

Timm: Ist das auch so, die Ängstlichkeit auch darin begründet, dass Tunesien, wenn es gelänge, dort eine demokratische Form zu installieren, auch eine Insel wäre, umzingelt von lauter Staaten, wo es anders ist, wo ein Mubarak regiert, wo doch Diktatoren sehr fest im Sattel sitzen?

Keller-Messahli: Nein, diese Angst kommt nicht so sehr davon, weil die Menschen ein sehr hohes politisches Bewusstsein haben und wissen, dass das, was die arabischen Herrscher repräsentieren, nicht dem Willen des Volkes entspricht. Es gibt eine sehr große Solidarität zurzeit vom Volk aus Ägypten, aus Algerien, aus Marokko, und das kann man alles im Internet nachlesen. Die Angst kommt im Moment oder kam vor allem von diesen Milizen, die Ben Ali hinterlassen hat und die offenbar bereit sind oder waren, Leute zu töten und ihr Eigentum zu plündern und einfach eine Unordnung zu hinterlassen. Daher rührt die Angst und nicht so sehr von den Nachbarn.

Timm: Saida Keller-Messahli vom Forum für einen fortschrittlichen Islam war das zur Lage in Tunesien, Frau Keller-Messahli, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!

Keller-Messahli: Vielen Dank Ihnen auch!
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