In den Tiefen der Sprache tauchen

06.07.2012
In ihrem neuen Werk geht Barbara Köhler dem, was wir Sprache nennen, auf den Grund. Köhler fragt nach den Ursprüngen gängiger Wörter wie Phrasen. Sie enthüllt dabei ganz Erstaunliches - nicht ohne Komik und mit einer lustvoll-lehrreichen Dimension.
Barbara Köhler (geboren 1959) folgt als Poetin und Multimediakünstlerin gern dem Prinzip des Minimalismus. So fabelt sie lieber "von zwei bis drei Wörtern" als ganze "Märchen in Prosa" zu erzählen. Lyrik ist für sie eine Kunstform, die sich in der Spannung "kürzester Wege" wie "größter Distanzen" von Wort zu Wort entwickelt. Um diese Sprach- wie Denkräume ausloten zu können, bedarf es einer genauen Betrachtung des sprachlichen Materials. Seit ihren vielfach ausgezeichneten Gedichtbänden "Deutsches Roulette" (1991) und "Blue Box" (1995) kann der Leser an diesem Vorgang teilnehmen.

In ihren nun vorliegenden Schriften, die aus den Jahren 2004 bis 2010 stammen, geht sie dem, was wir Sprache nennen, erneut auf den Grund. Köhler fragt nach den Ursprüngen gängiger Wörter wie Phrasen und enthüllt dabei ganz Erstaunliches, das nicht der Komik entbehrt und stets eine lustvoll-lehrreiche Dimension in sich trägt.

Denn wer hat schon über das Märchen vom "HASE & IGEL" als ein grammatisches Abenteuer nachgedacht. Barbara Köhler schon. Für sie beginnt das Dilemma bereits bei der Frage, wie viele Akteure hier eigentlich gegeneinander antreten. "HASE ist ja eine Einzahl, ist einer, ein ER... Von IGEL hingegen ist – solange ohne Artikel – nicht klar, ob Plural oder Singular": "IGEL ist zahllos". Aus dem märchenhaften Wettlauf zwischen Ackerfurchen wird bei Köhler eine Hasengrammatik mit philosophischen Denkschlenkern.

In "Berliner Zimmer" wird der gleichnamige Raum zum Terrain der Erinnerung. Da sich das Fenster stets in der Ecke des Raumes befindet, gelangen weder Tageslicht noch Nachbarblicke hinein. In dieser Struktur begreift Köhler das Berliner Zimmer als eine "obskure Kammer". Wobei das Moment des Unverständlichen, das im Wort "obskur" enthalten ist, sie an das Zimmer des Vaters in Franz Kafkas Erzählung "Das Urteil" erinnert, wo eine "hohe Mauer" bedrohliche Schatten wirft. Nun kann anhand der architektonischen Besonderheit die finstere Seite in der Geschichte Berlins erinnert werden.

Barbara Köhlers Schriften sind souverän und autark. Sie leistet niemandem literarische Dienste. Was darunter zu verstehen ist, davon war schon in "Niemands Frau" (2007) zu lesen, wo Homers "Odyssee" aus der Perspektive Penelopes, Odysseus’ Frau, erfahren wird. Köhler nistet sich in die Lücken der Wörter ein. Mit ihrer Kunstform schafft sie Differenzen dort, wo im Material selbst Unstimmigkeiten herrschen. Es ist ein Vorgang des Bewusstwerdens, bei dem es immer auch um das Geschichtliche im Wortmaterial geht. In ihren Texten zu Mechthild von Magdeburg und in den Übersetzungen Gertrude Steins (1874-1946) und Elizabeth Bishops (1911-1979) wendet sie dieses geheime, da unter der Oberfläche der Sprache verborgene Wissen, an.

Dass wir vom Dialogischen in Köhlers Sprechen aufs Feinste inspiriert werden und dabei den "boden unter den füssen" verlieren, um ihn an anderem Ort neu zu finden, macht den intellektuellen Reiz der Schriftstücke aus. Sind wir doch selbst "grenzfälle des raumes" und damit im buchstäblichen Sinn für den Fall und somit für Veränderung vorprogrammiert.

Besprochen von Carola Wiemers

Barbara Köhler: Neufundland - Schriften, teils bestimmt
Edition Korrespondenzen, Wien 2012
257 Seiten, mit CD, 24 Euro