Im Zeichen der roten Schleife

Detlef Grumbach · 17.09.2008
In mehr als 70 Länder gelten noch heute Einreisebeschränkungen für Menschen mit HIV und Aids - in 30 Ländern werden sie ausgewiesen. Dieser fatale Befund aus der Gegenwart erinnert an eine Problemsicht, die auch einmal in Deutschland kursierte und von Angst und Schrecken und der Diskussion repressiver politischer Maßnahmen gegen Kranke und Infizierte begleitet war.
Heute ist das anders. Einen wichtigen Beitrag zu diesem gesellschaftlichen Wandel leistet eine Organisation, die am 23. September vor 25 Jahren klein begann, gegründet von schwulen Männern und einer Krankenschwester: die Deutsche Aidshilfe.

Alltag in der Hamburger Aidshilfe. Mittwochs von 11 bis 13 Uhr treffen sich hier HIV-Positive, Mitarbeiter und ehrenamtliche Helfer zum gemeinsamen Kochen und Essen.

Köchinnen: "Jetzt muss das nur noch warm werden.
Perfekt. Super gewürzt auch.
Das ist mein schönster Tag, der Mittwoch."

"Die Regenbogen-Kantine" – so wird das Treffen auf den Flyern der Aidshilfe angekündigt. "Von und für Menschen mit HIV/Aids und ihre Freunde."

Aids-Kranke wurden anfangs wie Aussätzige behandelt, verelendeten, starben einsam. Vor 25 Jahre wurde die Deutsche Aidshilfe – zunächst als lokale, Berliner Initiative – gegründet. Auch in anderen Städten in Hamburg Frankfurt, Köln und Berlin, fanden sich Aktivisten zusammen. Ihr Ziel: der neuen Krankheit irgendwie – wie, wusste damals niemand so genau – zu begegnen. Solidarität mit Betroffenen. Ihnen helfen, dass sie nicht allein sind. Neue Infektionen verhindern. Im Herbst 1985 schlossen sie sich dann unter dem Namen Deutsche Aidshilfe als bundesweiter Dachverband zusammen.

Während in der Küche das Essen zubereitet wird, trudeln die Gäste ein: Herzliche Begrüßungen, dann sitzen sie gemeinsam auf der Dachterrasse oder in einem Gruppenraum zusammen, reden, erzählen.

"Wenn man jetzt betroffen ist und Hilfe angenommen hat, dann möchte man ja auch gerne etwas zurückgeben. Die haben Gespräche mit mir geführt, Ämter aufgesucht, und und und. Man weiß ja nicht, was man alles machen soll."

"Ja, ich hatte auch erst Schwierigkeiten mit dem Amt vor ein paar Jahren, als ich hier nach Hamburg gezogen bin, und die haben mir dabei geholfen. Ich war in der Zeit auch sehr angeschlagen, das hat mich auch fertig gemacht, und da haben die mir bei den ganzen Sachen mit geholfen."

Seit den neunziger Jahren gilt die "Rote Schleife" weltweit als das Zeichen der Solidarität mit den Kranken, des Gedenkens an die Opfer. Am 1. Dezember, dem Welt-Aidstag, wird sie wieder in den Einkaufsstraßen an die Bürger verteilt, verbunden mit der Bitte um eine Spende.

Aids-Hilfe ist Selbsthilfe, weil Betroffene zusammenfinden. Daran hat sich nichts geändert. Sie ist Bürgerbewegung, weil viele Menschen die Arbeit unterstützen. Und sie ist eine professionelle Beratung, in der hauptamtliche Mitarbeiter ihren Dienst tun. Das erste, was die Aidshilfen anbieten, ist Information. Jörg Korell, der Leiter der Hamburger Aidshilfe:

"Also was heißt es für mein Leben, was heißt es beispielsweise medizinisch, was muss ich tun, was muss ich veranlassen, wie ist heutzutage eine Behandlung? All diese Fragestellungen. Das kann häufig eine Frage sein, die in eine psychologische Richtung geht: Also kann und soll ich in meiner Partnerschaft bleiben, wie wird das denn zukünftig mit uns weitergehen, oder wenn ich keinen Partner habe, werde ich je eine Partnerschaft haben? Was bedeutet das für meine Arbeit, ist es sinnvoll, dass ich mich weiter in Karrierepläne stürze, also Lebensplanungsfragen, Ressourcenfragen, Fragen der Existenzsicherung."

Über solche Beratungen hinaus unterstützen die Mitarbeiter der Hamburger Aidshilfe spezielle Gruppen wie etwa für gerade neu Infizierte, für Frauen, für Migranten. Sie vernetzen die eigene Arbeit mit anderen Organisationen: mit Einrichtungen der schwulen Subkultur, Institutionen, die sich um Drogenabhängige, um Migranten, um männliche wie weibliche Prostituierte, kümmern. Oder, wie die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz in Hamburg, auch um "ganz normale" – in Anführungsstrichen – heterosexuelle Familien!

"Also es gibt diese Fälle, wenn etwas bekannt geworden ist von HIV und Aids, dass dann die Kinder nicht mehr mit Nachbarskindern, Freunden spielen konnten."

Ute Senftleben von der Arbeitsgemeinschaft.

"Wir wissen von einer Familie, die den Stadtteil wechseln musste, also richtig wegziehen musste, weil das gar nicht mehr ging."

Aids ist im Bewusstsein der meisten Menschen noch immer eine Krankheit der Außenseiter. Die Ironie der Situation: Sogenannte "anständige" Leute, haben es im Fall einer HIV-Infektion doppelt schwer:

"Alle Freundinnen, Bekannte würden auch denken, dass sie niemanden kennen, der HIV hat, einfach, weil man es geheim halten muss, auch für die Kinder."

Christina Lorenz hat sich vor sieben Jahren während einer nur kurzen Affäre infiziert. Beim Blutspenden kam es heraus. Nach dem Schock führte Christina Lorenz’ erster Weg in die Aidshilfe.

"Die Schwulen können damit offensiver umgehen, aber als Mutter hat man Verantwortung für die Kinder. Man muss nicht nur selber mit den Reaktionen umgehen, sondern die Kinder auch. Und das möchte man den Kindern nicht antun. Deshalb verheimlicht, versteckt man das, geht nicht im eigenen Stadtteil zu den Ärzten, zu den Apotheken, nimmt die Tabletten heimlich. Das ist immer noch die große Schwierigkeit, die man selber hat, dass man nicht nur immer mit der Krankheit umgehen muss, mit der Angst, die man hat, sondern mit der Geheimnistuerei."

Wie soll die Familie damit umgehen? Was dürfen, was sollten die Kinder wissen, wenn die Mama oder der Papa häufig krank wird, täglich Tabletten nimmt? Im Netzwerk der Selbsthilfe sind Frauen mit solchen Fragen bei der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz gut aufgehoben. Die Aidshilfe, so Jörg Korell, schickt ihre ehrenamtlichen Mitarbeiter wiederum in Schulen, um frühzeitig in diese "ganz normalen" Kreise hineinzuwirken: Sie klären über die Krankheit auf, werben für Solidarität und informieren über "Safer Sex", darüber also, wie jede und jeder sich schützen kann.

Korell: "Wir machen das mit Jugendlichen ab 14, und es geht immer um die Frage, wie schützt sich der- oder diejenige Jugendliche sehr konkret, also die Frage, welche Lebenssituationen sind riskant und welche sind nicht riskant, welche Sexualpraktiken könnten gefährlich sein, wie funktioniert denn das mit dem Pariser über den Pimmel zu rollen."

Lemmen: "Aids ist nicht mehr die größte Bedrohung in Deutschland."

So resümiert Karl Lemmen, seit Mitte der achtziger Jahre engagiert und seit 1995 Referent bei der Deutschen Aidshilfe, die Entwicklung:

Lemmen: "Vor zwanzig Jahren, wenn Sie jemand gefragt hätten, was er für die größte Bedrohung hält, hätte er wahrscheinlich zuerst Aids genannt und dann die Atomkraftwerke. Ich weiß nicht, was die Leute heute nennen würden, die würden wahrscheinlich Arbeitslosigkeit und internationalen Terrorismus nennen, aber Aids würde wahrscheinlich erst an 15. Stelle erscheinen."

"Schreck von drüben."

So meldet der Spiegel im Frühsommer 1982 noch ganz hinten im Heft:

"Eine Reihe geheimnisvoller, nicht selten tödlicher Krankheiten sucht Amerikas Homosexuelle heim. Jetzt wurden die ersten Fälle in Europa beobachtet."

Adam: "Zunächst wusste man ja gar nicht, was für ein Virus das ist. Man hat schnell gemerkt, dass es das Immunsystem zerstört."

Infektionsmedizinischem Zentrum Hamburg. Axel Adam beschäftigt sich seit seiner Zeit als Assistenzarzt 1985 mit dem Thema Aids.

Adam: "Das heißt, die Menschen sind nicht an HIV selbst gestorben, sondern an den Auswirkungen, die HIV auf das Immunsystem hatte, sprich, sie sind an Infektionen gestorben, die einem immunkompetenten Menschen eben nichts anhaben können. Sie sind ausgezehrt von einer Infektion zur anderen und irgendwann war dann die Infektion die zum Schluss kam, die letzte, die sie körperlich noch geschafft haben. Das Tückische daran ist, dass das Virus seine Erbinformation in die Erbinformation der menschlichen Zelle einbaut und dann integriert ist in die menschliche Zelle und dann auch nicht mehr erkannt werden kann und dann jederzeit loslegen kann, sich in dieser Zelle zu vermehren."

Schnell hat man herausgefunden, wie das Virus übertragen wird: bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr, besonders bei Analverkehr, dadurch, das Drogensüchtige ihre benutzen Spritzen tauschen. Lange Zeit ist das Virus im Körper dann nicht aktiv. Die Inkubationszeit kann Jahre dauern. Die Krankheit wirkt unheimlich und bedrohlich. Hinzu kommen die moralischen Vorurteile gegenüber ihren Opfern: vor allem Homosexuellen, Drogensüchtigen und Prostituierten.

"Aids: Die Bombe ist gelegt."

So schreibt der Spiegel im Herbst 1984:

"Die Seuche Aids ist in der Bundesrepublik viel weiter verbreitet als vermutet. (...) Jeder dritte Homosexuelle, jeder fünfte Drogensüchtige und mehrere tausend Bluterkranke sind mit dem Aids-Erreger infiziert. Mediziner erwarten eine Katastrophe: mindestens 10.000 Aids-Tote in den nächsten fünf Jahren."

Aids-Kranke magerten ab bis auf die Knochen, litten unter einer Art Hautkrebs, unter dem sogenannten Karposi-Sarkom, starben an Durchfall, an einer von einem Pilz verursachten Lungen- oder Hirnhautentzündung. Zwar erfüllten sich die Prognosen des Spiegel und anderer Pessimisten nicht. Aber etwa 1500 Menschen starben in Deutschland innerhalb der ersten fünf Jahre an Aids. Bis heute haben sich hierzulande insgesamt knapp 90.000 Menschen infiziert, knapp 30.000 von ihnen sind gestorben. Fast 50.000 Männer und 10.000 Frauen leben zurzeit mit dem Virus, bei 10.000 von ihnen ist die Krankheit ausgebrochen.

Familien verstießen Betroffene, Freunde wandten sich ab, Arbeitsverhältnisse wurden gekündigt. Ärzte weigerten sich aus Angst vor Ansteckung, infizierte Patienten zu behandeln. Die Schwulen als Gruppe mit den meisten Betroffenen standen unter dem kollektiven Schock der Krankheit, aber auch unter dem einer reißerischen Berichterstattung. Sie hatten Angst. Martin Dannecker, Sexualwissenschaftler und bis vor wenigen Jahren Professor an der Frankfurter Universität, hat sich intensiv mit den Folgen der Epidemie auf das alltägliche Leben, mit den dramatischen Einschnitten ins das Sexualleben, beschäftigt:

Dannecker: "Und da ging es wirklich darum, also wir müssen versuchen, diesen Druck, der auf die Schwulen kommt, und die Zuschreibungen, die damit zusammen hängen, abzuwehren, aufzuklären in einem ganz emphatischen Sinne und auch die maßlosen Übertreibungen, also die Menetekel, die an die Wand gemalt wurden von ungeheuer vielen, die zurückzuweisen, die zu korrigierten. Und die Schwulen haben die Prävention übernommen, weil sie wissen, wir kennen unsere sexuellen Verkehrsformen am besten und wissen am besten, wie man intervenieren könnte."

Aretz: "Aidshilfe war für mich immer Selbsthilfe, weil ich aus meiner Isolation heraus wollte und Mitstreiter suchte."

Frankfurt 1984: Bernd Aretz hält sein positives Testergebnis in den Händen. Der Rechtsanwalt ist 36 Jahre alt, seine Kollegen kündigen ihm den Sozietätsvertrag. Wer HIV-infiziert ist, steht plötzlich alleine da.

Aretz: "Und dass das auch eine politische Geschichte war, das war völlig klar. Die Junkies sind in Frankfurt lange Zeit von einer Ecke in die andere vertrieben worden. Es gab keine angemessenen Hilfsangebote, in Frankfurt wurde über die Internierung uneinsichtiger Infizierter nachgedacht. Es gab damals die Diskussion über namentliche Meldepflicht, es gab die Diskussion über die Tätowierung Infizierter. Wir haben damals Demos gemacht, da ging’s von der Frage Sperrgebietsverordnung in Frankfurt bis hin zu den Forderungen, wir wollen unser Schwulenzentrum haben, wir wollen haben ein Hospiz und und und."

Aus Angst, Aids könne sich in rasantem Tempo auch in der allgemeinen Bevölkerung verbreiten, dachten Politiker über repressive Maßnahme aus dem Seuchenrecht nach: Zwangsweises Testen ganzer Bevölkerungsgruppen, namentliche Meldepflicht der Infizierten, Verbote von Intimkontakten, Internierungslager. Wer Kranken helfen und Gesunde aufklären will, darf sie jedoch nicht verfolgen.

Lemmen: "Homosexualität war damals noch strafbar."

So umreißt Karl Lemmen die Situation.

Lemmen: "Es gab damals noch den § 175. Es gab damals in der Drogenpolitik allein eine repressive Linie, und das waren ja schon gleich die beiden Gruppen, die zu Beginn von HIV am stärksten betroffen waren. Also als es darum ging, die Prävention für Drogengebraucher voranzutreiben, wo einfach von vornherein klar war, es ist eine völlig unrealistische Forderung, von Drogengebrauchern zu erwarten, die sollen jetzt, damit sie sich vor Hiv schützen, aufhören, Drogen zu nehmen. Also Aidshilfe-Arbeit war in der Anfangszeit immer politische Arbeit, auf gesellschaftliche Bedingungen hinzuwirken, die Menschen es überhaupt erst ermöglichen, sich präventiv zu verhalten. Da war sie schon eine ungeheuer politische Organisation, die, so würde ich sagen, vom Rand der Gesellschaft versuchte, Einfluss zu nehmen."

Die Medizin war machtlos und konnte kaum helfen. Aufklärung, Solidarität, Zusammenarbeit waren die einzige Chance. Mit dieser Haltung konnten sich die Aidshilfen mit Unterstützung einer liberalen Öffentlichkeit schließlich durchsetzen. Sie wurden nach langen Querelen zu anerkannten Partnern öffentlicher Stellen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung organisierte allgemeine Aufklärungskampagnen: "Gib Aids keine Chance!" Die Aidshilfen übernahmen die Hilfsangebote und Safer-Sex-Kampagnen für die "Risikogruppen", wie es damals hieß. Die Rahmenbedingungen waren den heutigen jedoch kaum vergleichbar:

Lemmen: "Es gab ja in den achtziger Jahren nur ganz, ganz wenig Menschen, die überhaupt nur begrenzt öffentlich mit ihrer Infektion umgingen. Das war ja so ein Makle, so ein Stigma, HIV-positiv zu sein, dass sich die Positiven-Gruppen unter ganz geschützten Bedingungen betroffen haben. Zum Beispiel haben sich die ersten Positiven-Gruppen gar nicht in den Räumen der Aidshilfen getroffen, weil die Positiven hatten viel zu viel Angst, in die Aidshilfen zu gehen, weil man dann ja von ihnen denken könnte, dass sie positiv sind."

Neben den Schreckensbildern von Aidskranken erschienen dann aber auch Anzeigen und Plakate, die Männerpaare in liebevollem Umgang miteinander zeigten und für Safer Sex warben. Dass Schwule in diesen Jahren überhaupt sehr viel sichtbarer wurden, dass sich ihr Bild auch zum Positiven wandelte, hat viel mit der Arbeit der Aidshilfen zu tun. Auch in der Drogenarbeit gab es plötzlich neue Impulse: Damit Spritzen nicht mehrfach benutzt wurden, wurden kostenlos sterile Spritzen ausgegeben, Fixerstuben wurden eingerichtet, damit sich Abhängige ihren "Schuss" unter hygienischen Bedingungen setzen konnten.

"Treue ist der beste Schutz!" lautete die Parole der Konservativen, um die sexuelle Emanzipation im Windschatten der Aids-Prävention zurückzuschrauben. Auch wenn Eingetragene Partnerschaften keine Garantie für Treue ist: Dass die Politik sich der Forderung nach der Homo-Ehe nicht mehr verschließen konnte – auch an dieser Entwicklung haben Aids und die Arbeit der deutschen Aidshilfen ihren Anteil.

Lemmen: "Ich erinnere mich noch so an 86/87, da ist man dann erstmals mit irgendwelchen Staatssekretären durch schwule Kneipen gezogen, um ihnen mal zu zeigen, wie schwule Männer in dieser Stadt leben. Heute ist unser Bürgermeister schwul. Das ist eine unglaubliche Veränderung!"

Aufklärung, Prävention, Solidarität mit den Betroffenen wurden zur selbstverständlichen Routine. Doch mit der eigenen Infektion, mit der Infektion der Mitstreiter und Freundes innerhalb der Aidshilfe offen umzugehen, blieb lange ein Problem. Als Bernd Aretz sich in der Deutschen Aidshilfe vorstellte und gerade heraus sagte, dass er sich engagieren will, weil er positiv ist, schlug ihm Ablehnung entgegen.

Aretz: "Innerhalb der Deutschen Aidshilfe war HIV ein Tabu-Thema. Darüber konnte man nicht reden. Oder man tat es besser nicht. Ich habe das damals so erlebt, mir wurde signalisiert: Dich darf es eigentlich gar nicht geben. Das war so die Atmosphäre, in der ich damals da angetreten bin und gesagt habe, das halte ich nicht aus, ich habe keine Lust mehr, ein ganzes Leben lang immer nur in fremden Bildern wahrgenommen zu werden. Also da schmeiße ich lieber selber Bilder in den öffentlichen Raum."

Größer noch war das Tabu in der DDR. Drogenprobleme und Prostitution wurden totgeschwiegen, Mauer und Stacheldraht sorgten dafür, dass die Bevölkerung relativ isoliert lebte. Ende 1989 gab es in der DDR lediglich 82 infizierte und 16 erkrankte Personen. Die Öffnung der Grenze hat das Land auch in dieser Frage völlig unvorbereitet getroffen. Die Chance, Aufklärung und Prävention rechtzeitig zu etablieren, war vertan worden. Es dauerte aber nicht lange, bis auch in Ostberlin, Leipzig, Halle und Dresden die ersten Aidshilfegruppen gegründet wurden, bis sich eine Zusammenarbeit auf gesamtdeutscher Ebene entwickelte. Heilung oder eine Impfung gegen Aids waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Sicht.

Adam: "Der Erkenntniszuwachs, was HIV betraf, ging rasend schnell. Also man hat relativ schnell nach bekannt werden dieser mysteriösen Erkrankung das Virus isoliert und wusste, wer der Feind ist, und dass 1989 wir schon eine Substanz in den Händen hatten, die wir einsetzen konnten gegen HIV, das ist eigentlich einmalig in der Medizingeschichte."

Zu Beginn der Epidemie starben 80 Prozent der Infizierten innerhalb von zwei Jahren nach der Diagnose, länger als drei Jahre überlebte kaum jemand das Testergebnis. Der erste Hoffnungsschimmer, so Axel Adam, hieß 1989 AZT.

Adam: "Dieses AZT wurde erstmal so als Segen verkauft, das hat sich aber relativ schnell ein bisschen ins Gegenteil verkehrt. Viele meiner Patienten heute noch kriegen einen Schreck, wenn sie das Wort AZT hören, weil man hat es früher in sehr hohen Konzentrationen verabreicht und, auch da muss man ganz klar sagen, wir haben einige der Patienten durch diese hohen Dosen umgebracht letztendlich. Vergiftet. Bis wir letztendlich wussten, was ist die genaue Dosis, bis wir mit dieser Substanz besser umgehen konnten."

Wer Aids hat, stirbt. Dieser Satz – Ausnahmen bestätigen die Regel – galt auch noch, als mit AZT experimentiert wurde. Wer Aids hat, stirbt noch lange nicht – diese erlösende Botschaft ging von der Welt-Aids-Konferenz 1996 in Vancouver aus. Dort wurden die noch heute erfolgreich angewendeten so genannten Kombinationstherapien vorgestellt.

Adam: "Der Ansatzpunkt war immer und ist auch bis heute geblieben, das Virus an seiner Vermehrung zu hindern. Das heißt, mit solchen Substanzen bestimmte Prozesse im Vermehrungszyklus des Virus in den entsprechenden menschlichen Zellen zu blockieren, damit das Virus sich nicht im Körper weiter ausbreiten kann. Und das ist der Ansatz bis heute geblieben. Man versucht natürlich andere Strategien, Impfungen, das hat man relativ früh schon versucht, das ist bis heute nicht von Erfolg gekrönt gewesen."

Martin Dannecker prägte damals den Begriff des "neuen Aids", denn Aids änderte damit auf dramatische Weise seine Bedeutung. Viele der meist noch jungen Infizierten hatten sich auf einen schnellen und sicheren Tod eingestellt, hatten ihre Ausbildungen abgebrochen, waren aus Jobs raus gegangen, hatten Rentenversicherungen gekündigt oder das Erbe durchgebracht. Noch einmal richtig leben! Jetzt wurde ihr Leben noch einmal von Grund auf umgekrempelt: Die Medikamente haben zwar teils drastische Nebenwirklungen, führen zu Schwäche und Unwohlsein, der Tod – das war die neue Botschaft – lässt sich aber nun doch noch etwas Zeit.

Lemmen: "Wir teilen die Zeit heute in vor 1996 und nach 1996 ein."

So erklärt Karl Lemmen von der Deutschen Aidshilfe den Zeitenwechsel.

Lemmen: "Vor 1996 waren die Hauptthemen der Aidshilfen-Arbeit Auseinandersetzungen mit Leben, Sterben, Tod und Trauer. Heutzutage geht es in Richtung Auseinandersetzung mit Lebensperspektiven, Unterstützung beim Arbeitsplatzerhalt, Reintegration ins Arbeitsleben, also unsere Arbeit hat sich vollkommen gewandelt."

Welche Probleme ergeben sich mit aus einer Frühverrentung und dem Wunsch, doch wieder arbeiten zu wollen? Wie beantrage ich Hartz IV? Viele örtliche Aidshilfen haben eigene Beschäftigungsprojekte gegründet, kleine Restaurantbetriebe oder Fahrradwerkstätten. Die Hamburger Aidshilfe arbeitet mit großen Beschäftigungs- und Bildungsträgern, auch mit dem Hamburger Sportbund zusammen, um Leute in Arbeit zu bringen, die einen normalen Acht-Stunden-Tag nicht durchstehen.

Das "neue Aids" wurde damit zu einer fast ganz normalen chronischen Krankheit, zwar nicht heilbar, aber auch nicht tödlich. Über 20 Medikamente stehen heute zur Verfügung, die die Viruslast im Körper vieler Infizierter dauerhaft unter die Grenze ihrer Nachweisbarkeit drücken. Nach zehn Jahren Erfahrung mit diesen Kombinationstherapien, so aktuelle Forschungsergebnisse, wird Aids seinen Charakter noch einmal radikal verändern. Neben dem Risiko selbst zu erkranken, schwindet jetzt auch die Gefahr, das Virus weiterzugeben. Martin Dannecker:

Dannecker: "Und das ganz Bemerkenswerte an diesem Ergebnis ist, dass zum ersten mal, seit es diese Krankheit gibt, jemand, der positiv ist, zwar positiv ist, aber nicht mehr infektiös. Und das geht natürlich in die Vorstellung, was "positiv" sein, bedeutet. Wenn das jetzt wahr wird, dass jemand, der positiv ist und behandelt ist, nicht mehr positiv ist, hat der natürlich auch einen ganz anderen Leib wieder zur Verfügung, einen ganz anderen Sexualleib."

Aretz: "Die Gefahr liegt jedenfalls nicht bei denjenigen, die offen sagen, so und so ist es, ich bin infiziert, ich bin behandelt, entscheide du, ob wir Kondome nehmen oder nicht. Und das ist jetzt mal endlich der Anlass für ein großes Fest."

Auf dieses Fest muss Bernd Aretz allerdings noch warten. Dafür, dass es bald gefeiert wird, kandidiert er im Herbst erneut für den Vorstand der Deutschen Aidshilfe. Denn die bleibt der neuen Entwicklung gegenüber seiner Meinung nach allzu skeptisch. Sie fürchtet vor allem, dass Verhaltens-Prävention, also Safer Sex, vorschnell als überflüssig erscheint.

Hier die feste Regel, immer ein Kondom benutzen zu müssen. Da eine unverantwortliche Leichtfertigkeit. Zwischen diesen Polen eröffnet sich jetzt für behandelte Hiv-Positive ein Spielraum für verantwortliche Prävention. Situation für Situation können und müssen sie sich entscheiden. Wer aber gar nicht weiß, ob er positiv ist oder nicht, darf nicht leichtfertig sein! Präventionsarbeit steht damit vor ganz neuen Herausforderungen, einfache Botschaften und die Routine des Safer-Sex’ reichen nicht mehr.

Aber auch die Zielgruppen der Aids-Prävention differenzieren sich. Aids hat sich in Folge von weltweiter Migration internationalisiert – auch im Herzen deutscher Großstädte. Eine wachsende Gruppe von Infizierten stammt heute aus den so genannten Hochprävalenzgebieten: aus Asien oder Afrika, wo große Teile der Bevölkerung infiziert sind. Verständigungsprobleme und kulturell bedingte Tabus machen ein offenes Gespräch über Sexualität schwierig. Die Vereine Basis und Woge kümmern sich um jugendliche Migranten und Flüchtlinge in Hamburg, auch um solche, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, keinen Krankenversicherung, keine Papiere, die sich verstecken oder auf der Straße leben, die auf den Strich gehen. Mit Basis und Woge hat die Hamburger Aidshilfe die "Prävention für afrikanische Flüchtlinge" gestartet. Der Europäische Flüchtlingsfonds fördert dieses Projekt: Multiplikatoren aus der Flüchtlingshilfe, aus Gruppen und Vereinen verschiedener Nationalitäten werden geschult, um dort über Aids-Prävention zu sprechen, wo die Leute sich treffen. Amadou Bah aus Guinea:

Bah: "Als Beispiel dafür haben wir eine Migranten-Selbstorganisation aus Togo, mit denen wir zwei oder drei Veranstaltungen organisiert haben, wie man sich schützen kann usw. erklären in ihrer National-Muttersprache. Oder es gibt Vereine hier wie Aconda. Aconda ist ein Projekt von Afrikanern, sie machen Beratung für Afrikaner, sie machen Deutschkurse usw. Wir haben mit denen auch zusammen eine große Veranstaltung organisiert, wo wir viele Afrikaner eingeladen haben, die in verschiedenen afrikanischen Vereinen, nationalen Vereinen, arbeiten. Das war wirklich sehr interessant, dass wir gemeinsam geschafft haben, afrikanische Frauen und Männer zusammen an einen Tisch zu bringen und über Aids zu reden."

Seit 25 Jahren helfen die Deutsche Aidshilfe als Dachverband und die örtlichen Vereine, HIV-positiven Menschen. Anfangs ohne Hoffnung, mit der Gewissheit eines nahen Todes, heute mit der Perspektive Leben – im Zeichen der Roten Schleife. Die Präventionsarbeit ist erfolgreich und hat sich bewährt. Die Zahl der registrierten Neuinfektionen – darunter sind auch alte, die jetzt erst herausgefunden werden – bewegt sich auf niedrigem Niveau. 2007 warten es nach Angaben des Robert-Koch-Instituts in Deutschland ca. 3000. In Deutschland ist es leiser um die Krankheit geworden, fast so etwas wie Normalität ist eingekehrt. Doch Aidshilfen sind nötig und gefordert. Sie brauchen die Finanzierung durch die öffentlichen Haushalte, sie brauchen Solidarität, die Spendenbereitschaft der Bürger. 25 Jahre Deutsche Aidshilfe bedeuten aber auch, dass viel erreicht worden ist. Jörg Korell, der Leiter der Hamburger Aidshilfe:

Korell: "Es gibt eine Infrastruktur, die über die Jahre entstanden ist, eine Unterstützung. Sagen wir mal die Kampagnen zum Welt-Aidstag, da sind wirklich ganz viele Personen, die sagen, ich helfe euch ganz selbstverständlich dabei, wenn wir wieder diese Rote-Schleifen-Aktion machen, wenn wir in der Mönckebergstraße auf- und ablaufen, Passanten ansprechen, ihnen die Rote Schleife übergeben und sie um eine Spende bitten, wenn inzwischen alle Hamburger Theater sagen, selbstverständlich sind für euch unsere Türen offen, am Welt-Aidstag könnt ihr zu uns kommen, sammelt bei und, oder wir helfen euch dabei. Wir haben ja immer mehr Ensembles, die sagen, am Welt-Aidstag oder um den Welt-Aidstag herum, wir stehen selbst am Eingang, dann ist das ganz großartig, dann ist das Bürgerbewegung, echte Nachbarschaft."

Sieben Jahre lebt Christina Lorenz mit dem Virus. Die Kinder, jetzt neun und zehn Jahre alt, kennen nicht den Namen der Krankheit, wissen aber, dass ihre Mutter "etwas hat". Echte Nachbarschaft? Christina Lorenz hat noch heute guten Grund, sich zu verstecken, aber:

Lorenz: "Eine Zeit lang habe ich gedacht, dass ich gar nicht in die Zukunft planen muss, aber mittlerweile ist das so, wenn man in der Haspa sitzt und auf die Riesterrente angesprochen wird, nicht mehr nur den Kopf zu schütteln, sich zu ärgern, dass man nicht sagen kann, warum man sich da keine Gedanken machen möchte, sondern dass man jetzt wirklich überlegt, vielleicht schaffe ich es bis zur Rente und vielleicht ist es doch ganz schlau, sich da noch mal abzusichern."

Alltag in der Hamburger Aidshilfe heute: Für 18 Gäste hat die "Regenbogen-Kantine" heute gedeckt. Einer der Gäste, selbst HIV-positiv, unterstützt die Arbeit als ehrenamtlicher Hausmeister.

"Ich werde aber hier später meinen Hausmeisterschein machen, und dann werde ich sehen, dass ich als Hausmeister weiter arbeite. Ob das jetzt hier bei der Aids-Hilfe ist oder woanders, das kann ich noch nicht sagen."

Das Essen ist fertig, die "Regenbogen-Kantine" bittet zu Tisch.