Im Westen was Neues

Von Norbert Sommer · 27.02.2010
Er ist einer der mächtigsten Philosophen der Welt. Und zugleich ist er - zumindest im Westen - auch einer der unbekanntesten: Konfuzius. Eine neue Biografie des chinesischen Weisen aus dem Verlag der Weltreligionen zeigt auf, wie er lebte und wirkte.
Wahrscheinlich haben sehr viele Deutsche schon von Konfuzius gehört - ohne allerdings Näheres über sein Leben und sein Wirken zu wissen. Manche Deutsche bringen Konfuzius wohl auch nur mit der früheren Harald-Schmidt-Show in Verbindung, weil dort zwei kellnernde Chinesen immer wieder alberten:

"Konfuzius sagt: 'Draußen nur Kännchen.'"

Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Konfuzius hat es im Laufe der letzten 2000 Jahre ebenso gegeben wie eine militante Ablehnung der Gedanken des 551 vor Christi Geburt im Regionalstaat Lu im Nordosten Chinas Geborenen. Dem Konfuzius - so die von den Jesuiten im 17. Jahrhundert latinisierte Fassung des chinesischen Namens Kung-futse, Meister Kung - haben nachfolgende Generationen vieles zugeschrieben oder unterstellt. Deshalb ist es besonders verdienstvoll, dass die in den USA lehrende chinesische Philosophie-Dozentin Annping Chin nun eine umfangreiche Studie zur wirklichen Geschichte des Lebens von Konfuzius vorgelegt hat.

Weil bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts das ganze Leben in China untrennbar mit den Ideen des Konfuzius verschmolzen war und weil das Regierungs- und Gesellschaftssystem, die Auffassung vom Ich, die zwischenmenschlichen Beziehungen sowie sämtliche Entwicklungen in Kultur und Geschichte offenbar aus seinem Denken hervorgegangen waren, ohne dass man wusste, wer Konfuzius wirklich gewesen ist, wollte die Autorin ihn besser kennenlernen. Im Prolog heißt es dazu:

"Seine Liebe zum Lernen und seine Bemühung um die Moral interessierten mich. Ich wollte i h n erreichbar für m i c h machen. Er selbst sollte mir den Weg zu seinen Lehren weisen. Also begab ich mich auf die Suche nach mehr Anhaltspunkten und durchforschte zwei Jahrzehnte lang ältere und neuere Werke und Kommentare."

Da Annping Chin dabei feststellte, dass vieles, was in späteren Berichten über Konfuzius geschrieben wurde, erfunden oder durch nichts belegt war, diente ihr als Leitfaden für die Forschung die - wie sie sagt - "ausführlichste Quelle", nämlich Lun Yu, deutsch: die "Gespräche". Diese "Gespräche" gehören auch zu den wenigen Schriften, die man - entgegen der tradierten Auffassung - zweifellos Konfuzius als Autor zuschreiben kann. In Wirklichkeit hat Konfuzius kein einziges Buch selbst geschrieben.

Als Autor der "Gespräche" gilt er deshalb, weil es sich dabei um eine von seinen Schülern beziehungsweise Gefährten zusammengestellte Aufzeichnung seiner Aussagen beziehungsweise Antworten auf entsprechende Fragen handelt. Sie entstanden, als er sich im Alter von 46 Jahren entschloss, seine politische Karriere als mittlerer Beamter in seinem Heimatstaat Lu aufzugeben. Danach begab er sich in Begleitung von drei oder vier Gefährten auf eine 14-jährige Wanderschaft durch zahlreiche Staaten des chinesischen Reichs. Auf diese Zeit legt Annping Chin den Schwerpunkte ihrer Untersuchung. Zunächst aber beleuchtet sie seine Rolle in der damaligen politischen Umbruchphase nach jahrhundertelanger Lehnsherrschaft:

"Er und andere Männer erkannten, dass sie sich in einer historischen Situation befanden, die ihnen die Möglichkeit gab, politischen Einfluss zugunsten der Rechtschaffenen und Tüchtigen auszuüben. So hatte zum Beispiel Konfuzius den Mut, schlüssig und dogmatisch festzulegen, was Tugend, was eine ideale Regierung und wer ein wertvoller Mensch war. Dennoch achtete er darauf, dass Ideen und Begriffe durch seine Bearbeitung nicht die ihnen innewohnende Kraft und Wahrheit verloren. Daher stützte er sich, als er sein Konzept einer politischen Ordnung schuf, nicht allein auf seinen Intellekt, sondern auf seine Kenntnis der Geschichte und Kultur."

Nach Konfuzius sollte Moral keinerlei Regel unterworfen sein, da diese ihre Schönheit und Erhabenheit minderten. Auf Regeln angewiesen zu sein, kam für ihn dem Eingeständnis eines moralischen Versagens gleich. Dennoch war er froh, dass Fragen wie die nach dem "Wert" des Menschen endlich in die öffentliche Diskussion eingingen. Annping Chin fügt hinzu:

"Doch ungeachtet dieser Vorteile suchte Konfuzius weiter nach Konstanten in Geschichte und Dichtung, in den Sitten und im Denken, in den Riten und in der Musik, die ihm helfen würden, seine Gedanken zu ordnen und etwas Dauerhaftes und Großes zu schaffen."

Wichtigste Grundlage für die Entwicklung seiner Gedanken waren für Konfuzius schon in der Zeit des politischen Engagements Gespräche. Die Autorin meint:

"Sie halfen ihm beim Nachdenken, dennoch hätte er wohl nie erwartet, dass jemand sie niederschreiben würde. Es war nicht Konfuzius' Plan, dass seine Worte zu Regeln erhoben würden. Er hatte auch kein Interesse daran, unsterblich zu werden. Ihm gefiel die Vorstellung, ein Mensch zu sein."

Konfuzius liebte es nicht, dass man ihn Meister und seine Gefährten Schüler nannte:

"Er wurde nie müde, zu lehren, aufzuklären und zu erleuchten. Dennoch glaubte er, der große Hochachtung vor Lehrern hatte, nicht, dass er dies zu einem Beruf machen konnte oder sollte. Die Ironie liegt darin, dass er in den Augen anderer genau das tat, was er selbst nicht für möglich oder passend hielt: Er wurde Lehrer. Sich selbst empfand er aber stets als Lernenden. Und auf die Frage, bei wem er gelernt habe, antwortet er, es gebe wohl niemanden, von dem er nicht lerne."

Genau darauf beruhen die "Gespräche". Einer seiner Schüler bemerkt, dass sich Konfuzius in seinen Überlegungen mit vier Bereichen befasste: Literatur und Kultur, Betragen, Gewissenhaftigkeit und Verantwortungswürdigkeit. Die rechte Ordnung, der rechte Weg, Gerechtigkeit, Harmonie, Tugend, Güte sind dabei die wichtigsten Grundlagen.

Die "harmonische Gesellschaft", die neuerdings von Partei und Regierung der Volksrepublik China wieder propagiert wird, ohne allerdings das Vorbild Konfuzius zu nennen, bedeutete für diesen zwar, das traditionelle hierarchische System beizubehalten, in dem das Volk dem Herrscher, die Frau dem Mann, die Kinder den Eltern und die Jüngeren den Älteren untergeordnet und zum Gehorsam verpflichtet waren. Doch gilt dies für ihn nur, wenn es dabei gerecht zugeht, das heißt wenn die Machthaber für das Gemeinwohl sorgen und das Volk achten. Grundsätzlich warnte er davor, moralische Prinzipien zugunsten des Gemeinwohls aufzugeben, das heißt Harmonie um jeden Preis kam für ihn nicht infrage. Güte ist für ihn Selbstüberwindung. Annping Chin fasst zusammen:

"Ein gütiger Mensch weiß, was er für andere tun kann, und stützt sich in diesem Bewusstsein auf seine Kenntnis der Riten, um das richtige Maß einzuhalten. Er wird nicht ohne Weitblick schauen, er wird nicht ohne Aufmerksamkeit hören, nicht ohne eine klare Stimme sprechen und nicht ohne Sachverstand handeln. Er ist nicht übermütig, wenn er sich freut, oder gebrochen, wenn er Kummer hat. Das Üben von Güte beginnt und endet aber beim Selbst."

Moralisch einsichtiges Verhalten ist für Konfuzius die schwerste und einsamste Bemühung des Menschen. Ein Edler zu sein, gehört für ihn zum erstrebenswerten Ideal. Konfuzius sprach:

"Ein Mensch, der edel und geschickt ist, liebt von Natur aus die Gerechtigkeit, und sein Ziel ist das, was richtig ist. Außerdem hört er auf das, was andere zu sagen haben und achtet auf ihren Ausdruck und ihre Stimmung. Er ist stets darauf bedacht, nicht selbstherrlich zu sein. Ein solcher Mensch besitzt die Eignung eines Edlen."

Neben diesen Hauptthemen befasste sich Konfuzius - wie Annping Chin aufzeigt - auch mit Stilfragen beim Essen und bei der Kleidung ebenso wie mit Musik und dem Tod. Musik galt ihm als "Krone der Kultur" und verkörperte für ihn eine friedliche politische Ordnung. Auf die Frage eines Begleiters nach dem Tod antwortete er zurückhaltend:

"Wer das Leben noch nicht versteht, wie soll der den Tod begreifen?"

Was aber ist aus den "Gesprächen" und der Lehre des Konfuzius im Laufe von rund 2500 Jahren geworden? Auf diese Frage geht die Autorin nur am Rande ein, da dies ihr Thema "Konfuzius - Geschichte seines Lebens" übersteigt und eine eigene ausführliche Untersuchung verdient hätte. Deshalb hier in Kürze ein kleiner Überblick: Bevor Kaiser Wu während der Han - Dynastie im dritten Jahrhundert vor Christus die konfuzianische Schule zur alleinigen Staatslehre erklärte, kam es wegen angeblicher Gefahren durch die Ideen zu einer großen Bücherverbrennung.

Später dann wurde Konfuzius als "vollkommen" geehrt. Ende des 18. Jahrhunderts erhielt er vom Kaiser sogar den Titel "Großer Meister aller Zeiten". Obwohl sich Konfuzius weder als Religionsgründer noch als Prophet verstand, bildete sich bald nach seinem Tod eine beinahe religiöse Form des Konfuzianismus mit strengem Zeremoniell, mit Konfuzius-Tempeln und Konfuzius-Opfern heraus. Der Inhalt der "Gespräche" wurde in den staatlichen Beamtenprüfungen abgefragt und damit ein von Konfuzius so nicht gewollter Standesdünkel gefördert. Das Vordringen der europäischen Mächte in China und die Erfahrung mit westlicher Technik und Überlegenheit führten bei den chinesischen Intellektuellen zu Zweifeln an der konfuzianischen Staatsordnung.

Der Sturz des Kaisers 1911 war schließlich das Ergebnis dieser inneren Revolte. Umso überraschender hieß es dann im ersten Entwurf einer Verfassung der Republik China im Jahre 1913 wieder:

"Für die Volkserziehung gilt die Lehre des Konfuzius als Grundlage der modernen und charakterlichen Ertüchtigung."

Damit sollte der Konfuzianismus wieder zur Staatsreligion erhoben werden, doch in die Praxis wurde dieser Verfassungspassus niemals umgesetzt. Als Mao Tse-tung 1949 die Volksrepublik China ausrief, rechneten viele mit einer endgültigen Abrechnung mit Konfuzius. Doch Mao, buddhistisch erzogen, hatte auch mit Eifer die klassischen Bücher und besonders Konfuzius studiert, bevor er mit marxistischer Literatur in Berührung kam. In seinen frühen Schriften zitierte er sogar noch häufig den alten chinesischen Philosophen. Eine direkte Verurteilung war auch später von Mao selbst nicht zu hören. Lange Zeit galt sein Grundsatz aus dem Jahre 1938:

"Das moderne China ist das Produkt der gesamten historischen Entwicklung Chinas. Wir sind Anhänger der marxistischen Geschichtsauffassung, wir dürfen unsere historische Vergangenheit nicht verleugnen. Wir müssen unsere ganze Vergangenheit – von Konfuzius bis Sun Yat-sen – zusammenfassen und dieses wertvolle Vermächtnis übernehmen."

Die Kulturrevolution von 1966 bis 1976 veränderte alles. Die Devise lautete nun:

"Gegen die revisionistische , reaktionäre, bourgeoise Clique, die mit Hilfe der alten Art von Gedanken, Kultur , Sitten und Gebräuchen den Weg des Neuen China , also die permanente Revolution, aufzuhalten droht."

Die Roten Garden sahen sich aufgefordert zu Zerstörungen und Verfolgungen. 1974 wurde erstmals Konfuzius in der sogenannten Anti-Lin-Piao- und Anti-Konfuzius -Kampagne namentlich erwähnt. Als der frühere Stellvertreter Maos und Verteidigungsminister Lin Piao dann noch als "Konfuzius des zeitgenössischen China" beschimpft wurde, wandten sich die Rotgardisten auch gezielt gegen Konfuzius-Tempel und richteten Verwüstungen in dessen Geburtsort an.

Der Beginn der Öffnung Chinas und des neuen wirtschaftlichen und politischen Kurses unter Deng Hsiao-ping brachte schließlich auch eine Neubesinnung auf den alten Meister. Konfuzius-Texte werden seitdem wieder im Schulunterricht vermittelt. Die chinesischen Auslands-Kulturinstitute heißen Konfuzius-Institute. Diese heutige Verbindung von alt und neu in China kommt vielleicht am besten zum Ausdruck in der Tatsache, dass die beiden wichtigsten "Wallfahrtsorte" im kommunistischen China der Geburtsort von Mao Tse-tung und die Grabstätte von Konfuzius sind.

Literatur:

Annping Chin: Konfuzius – Geschichte seines Lebens
Verlag der Weltreligionen, Frankfurt/Main und Leipzig 2009
288 Seiten, 24,90 Euro