"Im Sport gibt es die unterschiedlichsten Gewaltanwendungen"

Dorota Sahle im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 29.03.2010
Nach dem Skandal in der katholischen Kirche beschäftigen sich auch andere Bereiche der Gesellschaft mit sexuellem Missbrauch. Das, was an Übergriffen in Sportvereinen passiere, sei die Palette, die auch sonst passiere, sagt Dorota Sahle, Referentin für Frauen- und Genderfragen des Landessportbundes Nordrhein-Westfalen.
Stephan Karkowsky: Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche rüttelt nun auch andere Bereiche der Gesellschaft wach, den Sport zum Beispiel. Experten gehen hier von noch viel mehr Missbrauchsopfern aus als in der Kirche. Noch wird aber kaum drüber diskutiert. Eine Ausnahme bildet der Landessportbund NRW.

Seit 15 Jahren bereits sind dort Genderfragen ein Thema, und es wird aufgeklärt über Macht und Machtmissbrauch. Somit ist Dorota Sahle als Referentin für Frauen- und Genderfragen eine der wenigen, die sich innerhalb des Deutschen Olympischen Sportbundes diesen Fragen widmet. Guten Morgen, Frau Sahle!

Dorota Sahle: Guten Morgen!

Karkowsky: 27 Millionen Mitglieder hat der Deutsche Olympische Sportbund und eine Referentin für Gender- und Missbrauchsfragen gibt es nur. Habe nur ich hier das Gefühl, dass das Verhältnis nicht stimmt?

Sahle: Also im Landessportbund Nordrhein-Westfalen bin ich zuständig für den Bereich Gender Mainstreaming und Chancengleichheit und damit auch für die Thematik Prävention und Intervention sexualisierter Gewalt im Sport. Aber im Sport agiere ich nicht alleine. Wir haben Gremien mit Fachleuten, die diese Thematik aufarbeiten, unterstützen.

Wir arbeiten mit professionellen Fachstellen zusammen, die uns helfen, Materialien zu entwickeln, die uns dabei unterstützen, Informationsveranstaltungen durchzuführen. Also hier in Nordrhein-Westfalen sind ein paar Leute mehr, die sich mit der Thematik befassen.

Karkowsky: Frau Sahle, Sie sind seit 18 Jahren jetzt Referentin für Frauen- und Genderfragen, wie oft sind in dieser Zeit denn Opfer von Missbrauch an Sie herangetreten und haben Ihnen Verdachtsfälle gemeldet? Und was für Fälle waren das?

Sahle: Ich führe keine Statistik darüber, weil wir oftmals nicht alle Vorfälle ja auch erfahren. Denn die, die sich direkt an Beratungsstellen wenden oder an die Staatsanwaltschaft, Polizei, die berücksichtige ich dann ja gar nicht. Deshalb vermeiden wir es, über Zahlen zu reden.

Karkowsky: Welche Mechanismen greifen in den Sportvereinen? Gibt es da so etwas wie einen typischen Übergriff?

Sahle: Also das, was an Übergriffen in Sportvereinen passiert, ist die Palette, die auch sonstig passiert. Im Sport gibt es die unterschiedlichsten Gewaltanwendungen ...

Karkowsky: Zum Beispiel?

Sahle: ... so, wie wir sie kennen. Das ist von gestischen Übergriffen bis hin zu Beleidigungen, Wortbeleidigung, bis hin zu Vergewaltigung. Also ich glaube, dass der Verein natürlich auch ein Ort ist, in dem Körperkontakt da ist. Und also das, was wir in der Darstellung auch der Präventionsarbeit erleben, ist ja, dass wir mit plakativen Aussagen wie, du setzt die Grenzen, natürlich diese Nähe von Männern und Frauen, Mädchen und jungen Mädchen untereinander und Jungen untereinander thematisieren, weil man sich nach einem guten Schlag in die Arme fällt.

Du setzt deine Grenzen, respektier die Grenzen der anderen – das thematisieren wir in der Arbeit mit Mädchen, mit Jungen und mit Frauen –, nimm deine eigenen Grenzen wahr – und versuchen, innerhalb der Sportvereine eine Kultur zu schaffen. Und die Sportvereine sagen, bei uns respektieren wir die Grenzen des anderen. Und das, was natürlich sehr, sehr viel und oft diskutiert wird, ist die Frage der Hilfestellung.

Karkowsky: Die Hilfestellung zum Beispiel in der Leichtathletik.

Sahle: Ja, also in allen Sportarten, und das ist ein schwieriges Thema. Und das, was wir in diesem Bereich besprechen mit den Übungsleitern, mit den Übungsleiterinnen, ist, wie kann eine Hilfestellung geleistet werden, können das die Mädchen, Jungen untereinander machen, könnte man das vorbereitend mit den Mädchen und Jungen besprechen, welche Hilfestellungen dann notwendig sind.

Also je transparenter, desto besser, glauben wir, kann der Sportverein damit umgehen. Und je stärker die Kinder wissen, bestimmte Grenzen dürfen nicht überschritten werden, und das ist Unrecht, so erhoffen wir uns, dass sie dann auch ein offenes Ohr innerhalb des Sportvereins, ihrer Eltern oder sonst wo finden, ja, und dass sich so eine Kultur der Aufklärung entwickelt.

Karkowsky: Es ist ja genau das Problem, was ist hier die Grenze gibt. Man weiß nicht genau, ab wann soll ich denn überhaupt etwas als Missbrauch melden. Wenn der Trainer mich am Po anfasst, ist das Missbrauch oder eine Hilfestellung? Wo sitzen Sie da die Linie?

Sahle: Ja, und deshalb widmen wir uns all diesen Anfragen. Also wenn eine Mädchenmannschaft anruft und sagt, wir haben eine Preisverleihung, und unser Präsident nimmt uns da in den Arm, und das ist uns unangenehm, genau so versuche ich das auch zu klären, weil das für die Mädchen aus ihrer Sicht etwas Unangenehmes ist, also eine Grenzüberschreitung.

Und deshalb widmen wir uns dem genauso wie schweren Übergriffen. Wenn jemand anruft und sagt, ich habe den Verdacht, dass bei mir im Verein dieses oder jenes läuft, dann konzentriere ich mich mit der Person darauf, den Weg zu erarbeiten, was als Nächstes zu tun ist. Also dass diese Person erst mal ein Gedächtnisprotokoll erstellt und dass wir dann überlegen, was sind die nächsten Schritte und welche Institutionen müssen eingeschaltet werden.

Karkowsky: Sie hören im "Radiofeuilleton" Dorota Sahle, Referentin für Frauen- und Genderfragen im Landessportbund NRW. Frau Sahle, wie läuft das ab, wenn ein Sportverein etwas erfährt, einen Verdachtsfall, kommen die Leute dann direkt auf Sie zu im Landessportbund NRW oder gibt es andere Mechanismen, um Missbrauch im Sport zu melden?

Sahle: Unterschiedlich. Also die Vereine wissen darum, dass es Beratungsstellen vor Ort gibt, und in der Regel wendet sich ein Verein dann an eine Beratungsstelle vor Ort. Das, was wir machen, wenn es Verdachtsmomente gibt und die Vereine rufen an und sind unsicher, dann unterstützen wir die.

Also ein Verein, der anruft und sagt, bei uns ist etwas vorgefallen, wir wissen nicht, wie wir damit umgehen, dann kümmere ich mich darum, dass wir vor Ort Beratungsstellen ausfindig machen, diese Beratungsstellen kommen mit dem Vorstand gegebenenfalls mit den Eltern zusammen, und dann wird ein gemeinsamer Weg entwickelt. Also welche Schritte werden wann eingeleitet, dass auf gar keinen Fall über die Köpfe der Opfer hinweg gehandelt wird. Und so ist in der Regel dann der Weg.

Karkowsky: Nehmen Sie uns mal mit auf diesem Weg: So ein Missbrauchsverdacht ist aufgetaucht, und damit wird ja dann nicht nur der Übungsleiter, der Trainer schwer belastet, auch das Opfer belastet sich. Es wird getuschelt, es muss fürchten, gerade in der Provinz, dass bald das ganze Dorf Bescheid weiß. Welche Empfehlungen gibt der Landessportbund NRW seinen Vereinen in diesem Fall?

Sahle: Ja, es ist, das, was ich gelernt habe in der jahrelangen Arbeit, auch von den professionellen Institutionen, ist, in so einem Fall Ruhe zu bewahren und auf gar keinen Fall über den Kopf des Opfers hinweg handeln und mit der Person, dem Verein, dem Vereinsvorstand zu besprechen, welche Wege gehen wir jetzt: Holen wir uns eine Beratungsstelle, der Verein kann eine Rechtsberatung einholen von einem Anwalt, es gibt unterschiedliche Möglichkeiten.

Die Beratungsstelle, die Institution vor Ort unterstützt dann Eltern und die Opfer, also macht diese Beratung. Wir sind auf das Netzwerk auf kommunaler Ebene angewiesen.

Karkowsky: Nun sind Sie aber auch nicht neutrale Vertrauensperson, Sie sind ja Teil der Institution als Vertreterin des Landessportbundes NRW. Wie oft geschieht das denn überhaupt, dass Sie über Missbrauch von Opfern ins Vertrauen gezogen werden?

Sahle: Das ist unterschiedlich. Also mir werden ja nicht alle Fälle bekannt gegeben, sondern wenn vor Ort ein Übergriff passiert, geht es möglicherweise auch direkt über die Polizei, Anwalt und eine Beratungsstelle. Wir bieten uns als die Servicestelle an, wir erhoffen uns, dass wir mit den Informationsmaterialien die Vereine dazu befähigen, dass sie zum einen ein gutes Aufmerksamkeitssystem innerhalb ihrer Reihen aufbauen, und zum anderen, wenn Unsicherheiten entstehen oder wenn etwas passiert, wissen, an wen sie sich wenden können.

Karkowsky: Die Kirche hat jahrelang Täter einfach nur versetzt, statt sie für immer aus dem Kirchendienst zu entfernen, und bereut das heute. Wie rigoros ist denn der Umgang mit Trainern, die schon im Verdacht standen, Kinder missbraucht zu haben, im Sport?

Sahle: Also wenn jemand unter Verdacht steht, legt er sein Amt nieder, verlässt den Verein, und danach ist die Justiz dran. Wir richten uns da nach den Gesetzen.

Karkowsky: Was heißt das? Wird jemand, der als Kinderschänder, als jemand, der Kinder missbraucht hat, wenn der verurteilt wurde, dann wird er nie wieder einen Job als Trainer, als Übungsleiter bekommen im Deutschen Olympischen Sportbund?

Sahle: Das ist ... Natürlich ist das etwas, was wünschenswert ist, und ich glaube, dass wir innerhalb des Systems auch gerade mit unserem Rechtsberater auch einen Ablauf für unsere Vereine versuchen zu formulieren, sodass die Bescheid wissen, wie sie in so einem Fall agieren können, wenn sie die Sorge haben, dass jemand bei ihnen anfangen will, dem ein Gerücht anhaftet beziehungsweise der tatsächlich auch verurteilt worden ist.

Karkowsky: Aber noch fehlen Ihnen da die Richtlinien?

Sahle: Ja.

Karkowsky: Danke an Dorota Sahle, die Referentin für Genderfragen im Landessportbund NRW. Sie ist die Einzige, die sich innerhalb des Deutschen Olympischen Sportbundes diesen Fragen intensiv widmet. Frau Sahle, vielen Dank dafür!

Sahle: Danke Ihnen!