Im Nebel des Vergessens

Vorgestellt von Hans-Ulrich Pönack · 05.12.2007
"Im Vergessen liegt manchmal etwas Zauberhaftes", sagt die an Alzheimer erkrankte Hauptfigur Fiona in "An ihrer Seite" zu ihrem Mann. Das Regiedebüt der erst 28-jährigen Kanadierin Sarah Polley behandelt das Thema sensibel und bilderstark. Im französischen Film "Mein bester Freund" geht es um eine Wette und eine Männerfreundschaft.
"An ihrer Seite"
Kanada 2006, Regie: Sarah Polley, Hauptdarsteller: Julie Christie, Gordon Pinsent,
ohne Altersbeschränkung


Der kanadische Spielfilm von 2006 lief bei der letzten Berlinale im "Panorama"-Programm. "Away From Her", so der Originaltitel (mit der Bedeutung des Sich-Entfernens), ist das erstaunliche wie wunderbare Regie-Debüt der heute 28-jährigen Schauspielerin und Drehbuch-Autorin Sarah Polley, die sich anfangs bevorzugt Independent-Filmen widmete ("Das süße Jenseits" von Atom Egoyan, 1997; "Mein Leben ohne mich" von Isabel Coixet, 2003; die erste große Hollywood-Produktion: "Dawn Of The Dead" von Zack Snyder, 2004).

Polley, die auch das Drehbuch verfasste, adaptierte eine Kurzgeschichte der kanadischen Schriftstellerin Alice Munro ("The Bear Came Over The Mountain", erschien bei uns unter dem Titel "Der Bär klettet über den Berg" im Erzählband "Himmel und Hölle" 2006 im Fischer-Taschenbuchverlag).

Thema: Alzheimer. Fiona und Grant leben schon seit Urzeiten zusammen. Eine harmonische Ehe, ein liebevoll miteinander umgehendes Alt-Ehepaar, das den Lebensabend irgendwo außerhalb verbringt, in einem idyllisch am See gelegenen Haus, von wunderbaren Gelb-Braun-Orangetönen des Herbstes umgeben. Die in vielen Ehejahren erworbene Vertrautheit aber bekommt "Risse", denn bei ihr mehren sich "Aussetzer" im praktischen Alltag ebenso wie im gedanklichen.

Unaufhaltsam nistet sich die tückische Krankheit ein, ganz sachte, unaufgeregt, aber nun nicht mehr zu verbergen. Und sie (be-)trifft ihn genauso. Fortan wird das gemeinsame Leben völlig anders verlaufen als geplant. "Im Vergessen liegt manchmal etwas Zauberhaftes", lautet zwar ihr gelassen-schmerzhaftes Erkennen, doch mehr und mehr "entschwindet" sie ihm. Und Grant muss staunend-betäubt-entsetzt und auch eifersüchtig die Auswirkungen erkennen. Denn in ihrer "neuen Welt", im Heim, ist für ihn kein Platz mehr. "Kann man loslassen, was man am meisten liebt?", lautet der Untertitel zum Film.

Fazit: Endlich einmal ein Spielfilm für Erwachsene. Ein Film, der über etwas erzählt, das es in Zukunft immer häufiger geben wird. Ältere Menschen, noch, wie sie glauben, fit in Körper, Planung, Geist, entschwinden plötzlich, nach und nach im Herbstnebel der Demenz.

Der letzte Ernst zu nehmende Alzheimer-Spielfilm stammt aus dem Jahr 2001 und heißt "Iris". Der britische Regisseur Richard Eyre drehte dieses Biopic-Drama über die irische Schriftstellerin Iris Murdoch, die im Alter von 74 Jahren an Alzheimer erkrankte, mit der phantastischen Judi Dench in der Titelrolle. Judi Dench bekam damals für ihre ausdrucksstarke Interpretation der Iris Murdoch eine "Oscar"-Nominierung.

Hier hat die britische 60er, 70er Filmjahre-Ikone und "Oscar"-Preisträgerin Julie Christie ("Darling", 1965; "Doktor Schiwago"; "Fahrenheit 451"; "Mc Cabe & Mrs. Miller"; "Wenn die Gondeln Trauer tragen") den schwierigen Part der Erkrankten übernommen. Mit leisen, fast ironisch-lächelnden Gesten, Gedanken, Bewegungen ist diese ebenso großartige wie unglaublich altersschöne Darstellerin sehr überzeugend, ergreifend, berührend, faszinierend. Sie, die im Kino seit vielen Jahren nur noch gelegentlich auftritt, strahlt eine wunderbare Präsenz, Kraft, Sinnlichkeit aus, ist zugleich mit würdevoller Kostbarkeit und nahegehender Intensität versehen. Eine brillante darstellerische Leistung!

Ihr (Ehemann-)Partner wird vom 76-jährigen Gordon Pinsent, der zu den angesehensten und populärsten Schauspielern Kanadas zählt, vortrefflich-zurückhaltend gespielt. In weiteren überzeugenden Rollen u.a.: Olympia Dukakis ("Mondsüchtig", 1987, Mutter von Cher) und Michael Murphy (langjähriger Ensemble-Player bei Woody Allen).

Dass eine damals 27-jährige Regisseurin über solch ein (Alters-)Thema so seriös-leicht wie sensibel, bilderstark, hochemotional und (landschafts-)atmosphärisch einen unterhaltsam-spannenden Spielfilm zu schaffen vermochte, ist ebenso erstaunlich wie herrlich. Was für ein schöner, bewegender, kluger Menschen-Film!

"Mein bester Freund"
Frankreich 2006, Regie: Patrice Leconte, Hauptdarsteller: Daniel Auteuil, Julie Gayet, ohne Altersbeschränkung

Der 60-jährige Patrice Leconte (Co-B+R) zählt zu den profiliertesten Filmemachern Frankreichs ("Die Verlobung des Monsieur Hire", 1989; "Der Mann der Friseuse", 1990; "Ridicule - Von der Lächerlichkeit des Scheins", 1996, "Oscar"-Nominierung; "Das zweite Leben des Monsieur Manesquier", 2002, mit Jean Rochefort + Johnny Halliday).

Die Geschichte, die er hier erzählt, wäre in jedem anderen Land (z.B. bei uns) ein Sammelsurium von Kitsch, Peinlichkeiten, Langeweile geworden. Nichts so bei Leconte, der eine - wie man so schön sagt – typisch französische Charme-Komödie schuf. Ausgangspunkt: Sagen wir mal "Casablanca": "Louis, ich glaube, das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft", heißt es da bekanntermaßen im Schluss-Monolog von Humphrey Bogart.

Thema: Monsieur Francois ist ein Mann von heute. Typ: Schnell, pfiffig, recht passabel aussehend, klasse in seinem Erfolgskarriere-Schnüffler-Job als begüterter Antiquitäten-Händler. Allerdings: So erfolgreich Francois auch beruflich ist, privat ist er ein oberflächlicher Solist. Mit vielen Mehr-oder-Weniger-Bekannten, aber ohne wirklichen Freund. Er will das zwar nicht wahrhaben, doch seine Geschäftspartnerin Catherine (Julie Gaylet) stößt ihn massiv darauf. Man vereinbart eine Wette, und schon befindet sich Francois im Schlamassel: Binnen kurzer Zeit soll er einen wahren Freund präsentieren, doch woher einen solchen nehmen? Was überhaupt ist ein richtiger Freund?

Aber wie das halt so im Kino ist: Da gibt es den Taxi fahrenden Solisten Bruno (Dany Boon, ein in Frankreich bekannter, beliebter Stand-Up-Comedian), ein freundlicher Typ, der in Sachen Allgemeinbildung viel weiß und dies auch gerne herausplappert und dessen größter Wunsch es ist, einmal in der französischen Ausgabe von "Wer wird Millionär?" mitzumachen. Francois und Bruno begegnen sich zufällig, man geht sich zunächst auf die Nerven, doch dann bemerkt Francois gerade noch irgendwann-rechtzeitig, was für ein Juwel von Mensch und Freund Bruno ist.

Fazit: Kitschig? Ein wenig. Aber: Mit viel Lächeln. Blöd? Nein. Langweilig? Auf gar keinen Fall. Eher: Angenehm-unterhaltsam. Sowie eben französisch-diskret. Und: Weil er eben diesen Part, diese im Grunde nicht gerade sympathische, isolierte Hektik-Figur des Francois überzeugend-charmant vorführt: Daniel Auteuil, Jahrgang ´50, der französische Bogart. Auteuil zählt zu den charismatischsten Schauspielern im französischen Kino, wurde bereits 11 Mal für den französischen "Oscar", den "CESAR", nominiert und bekam ihn 2 Mal: 1987 für "Jean Florette" und 2000 für "Die Frau auf der Brücke", ebenfalls von Patrice Leconte. In weiteren Filmen wie neulich "Malen oder lieben", "36 - Tödliche Rivalen" (bei uns nur auf DVD erschienen), "Ein Mann sieht rosa", "Die Bartholomäusnacht" oder "Milch und Schokolade" von Coline Serreau (1989) wurde er auch bei uns bekannt, wird er geschätzt. Er gibt dieser augenzwinkernd-lockeren französischen Identitätsfindung Halt, Glaubwürdigkeit, Ausstrahlung; vermittelt ein gutes Spaß-Gefühl, macht diesen "Boulevard" zur liebenswert-heiteren Melancholie-Unterhaltung. Schönes Emotionskino.