"Im Augenblick ist Nothilfe angesagt"

Markus Höhne im Gespräch mit Susanne Führer · 14.07.2011
Somalia leidet unter der schwersten Hungerkatastrophe seiner Geschichte. Selbst kann sich das Land kaum helfen, da es nach einem jahrelangen Bürgerkrieg am Boden zerstört ist. Der Ethnologe Markus Höhne kritisiert, dass die internationale Gemeinschaft Somalia jahrelang vernachlässigt hat.
Susanne Führer: Markus Höhne vom Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung in Halle hat sich in seiner Dissertation mit der Staats- und Identitätsbildung in Somalia befasst und dafür das Land selbstverständlich mehrfach und lange bereist. Guten Tag, Herr Höhne!

Markus Höhne: Ja, guten Tag!

Führer: Hunger in Somalia, hören wir in diesen Tagen, ist denn das ganze große Land gleichermaßen betroffen?

Höhne: Diese Hungerkatastrophe, die augenblicklich in den Medien ist, die betrifft vor allem Südsomalia, Süd- und Zentralsomalia, würde ich sagen. Nordsomalia ist da deutlich anders strukturiert, politisch, aber auch ökologisch, und die Flüchtlinge, die jetzt da in Kenia ankommen zu Tausenden oder Hunderttausenden, das sind Leute aus dem Süden.

Führer: Ja, zu Hunderttausenden, offenbar. Gerade aus Somalia fliehen die Menschen nach Kenia, was ja selbst auch leidet unter der Katastrophe. Aber sie fliehen, habe ich gelesen, nicht nur vor dem Hunger jetzt, sondern auch vor dem Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Clans und Warlords in ihrem Land. Wer kämpft denn eigentlich in Somalia gegen wen?

Höhne: Also ich würde gar nicht mal sagen, dass da Clans und Warlords gegeneinander kämpfen, sondern im Wesentlichen seit ungefähr 2005, 2006 kämpfen islamistische Milizen, die bekannteste von denen heißt Al-Shabab, gegen eine von der internationalen Gemeinschaft eingesetzte Übergangsregierung, die derzeit Transitional Federal Government oder TFG heißt, und diese Clanstrukturen spielen da natürlich noch eine Rolle. Aber diese ganzen Warlord-Geschichte, die ist im Grunde genommen eine Sache der 90er-Jahre, und im Augenblick geht es tatsächlich immer stärker in Richtung auch ideologischer Konfrontationen, also wie gesagt der militanten Islamisten gegen die Verbündeten des Westens in Somalia.

Führer: Was ist das für eine Miliz, Al-Shabab-Miliz, die den Süden des Landes ja, glaube ich, ziemlich flächendeckend besetzt hält, oder?

Höhne: Ja. Ursprünglich war das eine ganz kleine Terrorzelle, so um 2003, 2004 herum, die wirklich nur aus einer ganz kleinen Gruppe sehr überzeugter militanter Islamisten bestanden hat. Dann, in einem relativ komplizierten Prozess, wurde das die Jugendmiliz der islamischen Gerichtshöfe, die 2006 kurzzeitig Mogadischu und die Umgegend kontrolliert haben – das war sozusagen ein Aufstand gegen die Warlords. Die Warlords wurden interessanterweise vom Westen, also vor allem von Nordamerika, den USA und von Äthiopien unterstützt, um in Somalia Terrorverdächtige ausfindig zu machen und zu eliminieren. Diese Islamischen Gerichtshöfe hatten 2006 eine sehr große Legitimität unter der lokalen Bevölkerung in Mogadischu und auch in der Umgegend. Aber innerhalb dieser Gerichtshöfe gab es eben diese Extremistengruppe Al-Shabab, die noch ein Teil dieser Gerichtshöfe war, aber die sich dann im Zuge weiterer Kampfhandlungen immer stärker als selbstständige Miliz etabliert hat und sich dann, als Ende 2006 die Äthiopier militärisch in Somalia interveniert haben, sehr stark profiliert hatte als sozusagen Befreier Somalias. Sie müssen sich vorstellen, Äthiopien ist eigentlich der Erzfeind Somalias, politisch-historisch gesehen, und die haben Ende 2006 eine Militärintervention in den Süden gestartet, um diese Gerichtshöfe zu stoppen. Und Al-Shabab hat es dann geschafft, sich zu regruppieren und die Äthiopier in so einen Guerillakampf zu verwickeln in Mogadischu. Und in dem Kontext sind die groß geworden. Und in dem Kontext haben sie auch neue Legitimität gewonnen, weil viele Somalis wirklich unter den Äthiopiern gelitten haben, und sozusagen, da ist das Monster erst entstanden, was man damals in den Zeitungen schon vorhergesagt hat.

Damals wurde ja gesagt: Die Talibanisierung Somalias – das war gar nicht so schlimm, das ist dann alles erst später gekommen. Und Al-Shabab ist eben auch eine sehr militante, aber auch heterogene Bewegung. Teile der Al-Shabab sind tatsächlich mit Al-Kaida verbunden oder sympathisieren mit Al-Kaida, Teile von Al-Shabab sind aber sehr stark national orientiert, denen geht es im Wesentlichen um politische Erneuerung in Somalia, und das lässt sich schwer über einen Kamm scheren. Und diese Hungerkatastrophe, um jetzt gleich mal darauf einzugehen, die ist zum Teil von Al-Shabab mitkreiert worden, weil Al-Shabab 2009 und Anfang 2010 das World Food Program aus Somalia rausgeekelt hat und gesagt hat: Wir wollen keine westliche Nahrungsmittelhilfe mehr haben, wir kriegen das alleine hin, und dann eben auch Angriffe auf Büros von WFP gemacht hat, aber das hat …

Führer: … dem World Food Program, ja?

Höhne: … genau, aber das war sozusagen, diese Politik gegen den Westen, das war eigentlich nur die Spitze von Al-Shabab, die das gewollt hat. Es gibt auch in Al-Shabab Gruppierungen oder Untergruppierungen, die nicht auf dieser extrem antiwestlichen Linie sind.

Führer: Der Ethnologe Marcus Höhne vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle erläutert uns die Lage in Somalia, die offensichtlich ja sehr kompliziert ist, Herr Höhne. Die Al-Shabab-Miliz herrscht im Süden, dann gibt es die, wie Sie vorhin erwähnt haben, international anerkannte Übergangsregierung in Mogadischu – was auch ziemlich südlich liegt, aber da sozusagen eine Enklave oder Exklave bildet, wie auch immer. Aber diese Übergangsregierung, die zwar von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt wird, hat die denn irgendeine Macht?

Höhne: Also, wie sie eingesetzt wurde, hatte sie so gut wie gar keine Macht, außer die externe Unterstützung. Inzwischen wurde sie – also in den letzten Jahren – sehr stark von einer afrikanischen Friedenstruppe, der sogenannten AMISOM, also African Union Mission for Somalia, unterstützt – das ist eine Mission, so ähnlich wie früher die UN-Missionen, aber in dem Fall eben auf der regionalen, kontinentalen Ebene von der Afrikanischen Union geleistet, und die hat das Mandat, die Übergangsregierung zu schützen. Und am Anfang war es so: Diese Übergangsregierung hatte wie gesagt überhaupt keine Macht, so, sagen wir, 2004 bis 2007, 2008 war diese Übergangsregierung überhaupt nicht fähig, sich selbst zu verteidigen, und AMISOM hat sie wirklich jeden Tag geschützt und geschaut, dass die islamischen Milizen nicht näher rücken. Dann hat sich aber auch im Lauf der letzten Jahre so eine Kooperation ergeben, zum Teil auch zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem ganzen politischen Prozess in Somalia, wo dann eben Soldaten und auch Polizisten dieser Übergangsregierung in Uganda ausgebildet wurden. Und dieser Ausbildungsprozess ist in den letzten – ab 2009 hat der sozusagen Früchte getragen, und es gibt jetzt auch eigene Truppen dieser Übergangsregierung, die zum Teil in Mogadischu jetzt auch Land gewinnen können, zusammen mit den AMISOM-Truppen, aber im Vergleich zu einem stabil regierten Staat ist diese Übergangsregierung immer noch vollkommen … erreicht das Ziel einer stabilen Herrschaft überhaupt nicht.

Es geht eigentlich darum, Straßenblöcke in Mogadischu unter Kontrolle zu bringen und nicht das Land unter Kontrolle zu bringen. Die AMISOM und die TFG, also diese Übergangsregierung, kämpfen immer noch überhaupt darum, die Oberhoheit über Mogadischu zu gewinnen, und sie kämpfen aber vereinzelt jetzt auch in Teilen Westsomalias, wo dummerweise gerade diese Hungersnot jetzt auch eskaliert. Und dieser Krieg hat natürlich auch was mit dieser Hungersnot zu tun.

Führer: Herr Höhne, ohne jetzt in die Einzelheiten gehen zu wollen: Somalia zerfällt ja in mehrere Teile, wir haben jetzt über den Süden vor allem gesprochen mit der Al-Shabab-Miliz. Dann gibt es eben Westsomalia, Nordwest-, Nordostsomalia; gibt es überhaupt jemanden in dem Land, der wirklich ein Interesse daran hat, dass der Staat Somalia als ganzer Staat wieder funktioniert?

Höhne: Ich würde sagen, sehr viele Somalis, die auf die ganze Welt verstreut sind als Flüchtlinge und in einer Diaspora leben, und natürlich auch viele Somalis in Somalia, einfache Menschen, haben durchaus ein Interesse, dass wieder Friede und politische Ordnung herrschen. Und Somalis sind auch extreme Nationalisten. Die wollen tatsächlich ein starkes Somalia wieder entstehen lassen. Allerdings hapert es dann tatsächlich an der Kooperation zwischen den wichtigen lokalen politischen Akteuren. Und es gibt – wenn Sie das jetzt mal noch vereinfachter sagen wollen – es gibt tatsächlich auch in Somalia eine Partei, die sehr stark auf die Wiederentstehung eines somalischen Staates hinarbeitet, das ist nämlich der Nordosten, Puntland. Die puntländische Regierung, die ist tatsächlich relativ – das ist zwar ein autonomes Gebiet, was sich auch von Somalia fortentwickelt hat, aber mit dem Ziel, die somalische Staatlichkeit in Form von einer Bundesrepublik Somalia wieder aufzubauen. Das ist sozusagen noch der Hort – kann man sagen – der Hort somalischer Stabilität im Nordosten, wohingegen es im Nordwesten die Republik Somaliland gibt, und die will eigentlich Somalia aufspalten in zwei Staaten: Somalia und Somaliland.

Führer: Und wenn wir jetzt wieder in die Hungerregionen gucken, und ich sehe, was die UN-Organisationen für Ernährung und Landwirtschaft, die FAO, gesagt hat zu dem Hunger in Somalia – die haben nämlich gesagt, das Grundproblem seien die mangelnden Investitionen in die Landwirtschaft. Die Leute könnten sich selbst ernähren, denn es ist eine reiche Region. Und immer wieder lernen wir ja, um den Hunger wirklich langfristig zu bekämpfen oder nachhaltige Entwicklungshilfe zu leisten, wie es heute heißt, muss man Bewässerungssysteme einrichten, muss moderne Anbaumethoden unterrichten und so weiter, und so weiter. Aber genau das scheint ja aufgrund der von Ihnen geschilderten Situation unmöglich zu sein, ein wahrer Teufelskreis.

Höhne: Ja, also auf jeden Fall in den letzten Jahren, seit 2006, würde ich sagen, ist das tatsächlich ein Teufelskreis von Gewalt und Instabilität und sich abwechselnden mächtigen politischen Akteuren, das stimmt, aber davor hätte man tatsächlich auch schon mal was machen können. Somalia hatte in den letzten, sozusagen zwischen 1995 und 2005 ungefähr, eine Periode internationaler Vernachlässigung erlebt, die allerdings irgendwie auch vor Ort zu einer gewissen Stabilität geführt hat, also Stabilität auf einem lokalen Level natürlich, kein zentralstaatliches Level …

Führer: Okay, aber wenn wir mal jetzt auf heute blicken: Ich meine, die Al-Shabab-Miliz hat alle rausgeworfen, alle westlichen Hilfsorganisationen. Was könnte denn heute die internationale Staatengemeinschaft tun?

Höhne: Na, im Augenblick ist sicherlich Nothilfe angesagt, und die Al-Shabab haben ja auch schon darum gebeten. Jetzt kann man eigentlich im Grunde genommen nur versuchen, Schaden zu begrenzen. Und ob diese Erfahrung der aktuell dramatischen Hungerkatastrophe, ob die dann auf längere Sicht dazu führt, dass Al-Shabab, wenn sie denn überhaupt noch sich weiter halten können in Südsomalia, dass die kompromissbereiter werden, das ist schwer abzusehen. Aber im Augenblick kann man sicherlich nur Schadensbegrenzung leisten, und da muss natürlich auch noch ein bisschen mehr getan werden, was auch die Bundeskanzlerin vor wenigen Tagen in Kenia versprochen hat, diese eine Million für die flüchtenden Somalis in Dhabad, das ist natürlich viel zu wenig, wenn Sie das mal vergleichen, was die Bundesrepublik alleine für die deutschen Fregatten am Horn von Afrika in Zuge der Mission Atalanta ausgibt, dann ist eine Million ja nicht mal ein Taschengeld.

Führer: Sagt der Ethnologe Markus Höhne vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle zur Situation in Somalia. Ich danke Ihnen fürs Gespräch, Herr Höhne!

Höhne: Ja, vielen Dank, Frau Führer, bitte!

Die Äußerungen unserer Gesprächspartner geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
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