Ihrer Zeit weit voraus

Von Mathias Schulenburg · 31.10.2006
Flugzeuge, die hunderte von Menschen über die Meere fliegen, zum Tauchkurs in Ägypten, zum Wellnessevent in Sri Lanka - nichts dieser Art bringt den Durchschnittsbürger noch zum Staunen. Dabei ist die erste Flugzeugfabrik der Welt erst heute vor hundert Jahren von den Gebrüdern Voisin gegründet worden.
Eine seiner technischen Ersttaten war ein Dampfboot, das den "König der Konstrukteure", wie Gabriel Voisin sich einmal selbst bezeichnete, zusammen mit seinem Bruder Charles über die Saone trug, ein kleines Flüsschen in der Nähe von Lyon.

Das Boot war nur eine Episode im Leben der Brüder Voisin. Sie wurden in die hohe Zeit der Industriellen Revolution hineingeboren. In den großen Städten erschienen elektrische Straßenbahnen, die ersten Autos nahmen Fahrt auf, und die Konstrukteure schickten sich an, im Wortsinne in die Luft zugehen. Unter ihnen die Voisins: Sie konstruierten und erprobten motorlose Gleitflieger.

Sie waren Söhne eines Gießerei-Besitzers aus der kleinen französischen Stadt Belleville-sur-Saone. 1898/99 - Gabriel war gerade einmal 18, sein Bruder Charles 16 Jahre alt - konstruierten die beiden ihr erstes Automobil. Die Eltern förderten Gabriels technisches Talent und schickten ihn nach Paris zum Studium von Architektur und Maschinenbau. Dort fand Gabriel zu einer Gruppe von Flugenthusiasten und beschloss 1904 gemeinsam mit dem französischen Ingenieur Louis Blériot eine Produktionsanlage für Flugzeuge aufzubauen. Es wäre der Welt erste gewesen, allein: Blériot und Voisin zerstritten sich. Und so tat sich Gabriel wieder mit seinem Bruder zusammen:

Am 31. Oktober 1906 gründeten sie Les Frères Voisin, die Gebrüder Voisin, die erste Flugzeugfirma der Welt. Ihre Flieger waren ihrer Zeit oft voraus; während die anderen Konstrukteure meist noch Holz und Stoff verwandten, bestanden die Geräte der Gebrüder Voisin schon aus Stahlgerippe und Aluminiumverkleidungen. Später bauten sie einige Dutzend Flugzeuge mit Schubpropeller, bei dem der Propeller am hinteren Ende der Flugzeugzelle angebracht ist.

1912 starb Charles bei einem Autounfall, von seinem Bruder Gabriel heftig betrauert. Dann kam der erste Weltkrieg. Die Militärs hatten die Bedeutung des Flugzeugs als Kampfmittel erkannt. In das Jaulen der Granaten mischte sich nun auch der Lärm von Flugzeugmotoren.

Nach dem Krieg wandte Gabriel Voisin sich vom Flugzeugbau ab. Voisin war jetzt ein reicher Mann und interessierte sich wieder mehr für Automobile. 1915 vollendete er die Konstruktion eines Luxuswagens mit Schiebemotor, die André Citroen begonnen hatte. Das Prinzip - eine amerikanische Erfindung, gestattete den Bau sehr leiser Motoren, deren Leistung freilich - nach heutigen Maßstäben- zu wünschen übrig ließ.

Am Ende seiner Automobilbauerkarriere, zahllose Modelle später, zwischenzeitlich am Rande der Pleite, verdiente sich Voisin mit einem Kleinwagen, dem "Voisin Bi-Scooter", einen komfortablen Lebensabend.

Den verbrachte er am Fluss seiner Kindheit, der Saone; die Muße gestattete ihm jetzt, ganz großen Ideen nachzugehen. So entwarf er 1960 ein Großraum-Überschallflugzeug. Gabriel Voisin, wurde 93 Jahre alt. Er war offenbar kein Kind von Traurigkeit gewesen; seine Witwe, eine Spanierin, war Mitte dreißig.