Ideologischer Leitfaden

Rezensiert von Andreas Rinke · 25.10.2009
Norbert Bolz stichelt seit langem gegen den Zeitgeist. Mit seinem neuen Buch "Profit für alle" hat er aber so etwas wie die Regierungsphilosophie der schwarz-gelben Koalition geschrieben.
Es gibt Bücher, die zu früh erscheinen oder zu spät. Und es gibt Bücher, die treffen den Zeitgeist genauer, als es selbst die Autoren erwartet hatten. Solch ein Treffer ist jetzt dem Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz mit seinem Buch "Profit für alle" gelungen. Der Titel klingt zwar wie ein Slogan für die Linkspartei, die gerade mit Plakaten "Reichtum für alle" geworben hatten.

Aber in Wahrheit lässt sich Bolz Buch auch als passender ideologischer Leitfaden für die gerade neu angetretene schwarz-gelbe Regierungskoalition lesen – auch wenn dies der Autor möglicherweise gar nicht beabsichtigt hatte.

Doch Bolz räumt auf 187 Seiten mit der alt hergebrachten Vorstellung einer sozialen Gerechtigkeit in Deutschland auf und zeichnet eine zutiefst positive Perspektive für die gesellschaftliche Entwicklung. Die derzeitige Weltwirtschaftskrise, so seine These, lenkt im Prinzip nur von den großen Trends ab. Sie ist eine kleine Störung in einem großen Prozess, in dem sich eine völlig neue, chancenreichere Form des Kapitalismus abzeichnet.

"Meine These ist, dass die Entdeckung des sozialen Reichtums im 21. Jahrhundert einen neuen Geist des Kapitalismus geboren hat. Nach der Versöhnung von Ökonomie und Ökologie am Ende des 20. Jahrhunderts geht es im 21. Jahrhundert um die Versöhnung von Profitmotiven und sozialer Verantwortung."

Künftig ist es danach sinnlos, noch nach den Grenzen des Wachstums zu fragen. Gefragt werden muss nach dem neuen Reichtum. Und der lässt sich für Bolz keineswegs mehr nur an der Dicke des Portemonnaies ablesen. Im postindustriellen Zeitalter, das der Medienprofessor der Technischen Universität in Berlin beschreibt, geht es mindestens ebenso um die Erfüllung von Werten, um "erfüllte Arbeit", um die Einbindung in neue soziale Netzwerke.

Das kommt zunächst überraschend. Denn der Rest der Welt scheint sich derzeit tatsächlich eher an der Finanzkrise und ihrer Bewältigung abzuarbeiten. Aber der Reiz des Bolzschen Ansatzes liegt darin, dass er auf die tiefer liegenden Grundgefühle und Grundentwicklungen in der Gesellschaft schaut.

Tatsächlich liefert er eine bessere Erklärung als viele Leitartikel, warum die SPD mit ihrem alten Verständnis der "sozialen Gerechtigkeit" als reinem staatlich organisierten Umverteilungsmechanismus nicht mehr punkten konnte. Viele Wähler haben längst begonnen, sich und ihr Leben anders zu definieren.

Und Bolz liefert vier Ansätze, um genau diese Veränderung zu beschreiben – die sogenannte Selbsttranszendenz, das Entstehen neuer sozialer Netzwerke, den Sozialkapitalismus und den vorsorgenden Sozialstaat. Die vier Kapitel stehen für vier verschiedene Blickwinkel. Der erste ist der einzelne Bürger mit seinen Wünschen und Bedürfnissen, der zweite die alles veränderte Technologie des Internets, der dritte die Rolle der Unternehmen und der vierte die Rolle des Staates.

Stark vereinfacht beginnt Bolz mit der Analyse, dass sich Menschen heute anders definieren als früher. Sie entwickeln in der Wohlstandsgesellschaft den Drang nach größerer Sinnerfüllung. Gleichzeitig verstärkt sich der Drang nach Anerkennung, weshalb man sich stärker von anderen abheben muss.

"Der Arbeitsmarkt wird im 21. Jahrhundert zum Persönlichkeitsmarkt."

Das politische Wahlverhalten wird dabei in der Wohlstandsgesellschaft immer stärker durch bewusste Kaufentscheidungen abgelöst, mit denen Bürger ein "statement" machen. Der Konsumismus löst den Kommunismus ab, wiederholt Bolz eine These aus einem seiner früheren Bücher.

Das Internet liefert dabei die Plattform, auf der sich diese Veränderungen noch beschleunigen. Waren Gesellschaften früher stabiler, so werden die sozialen Bindungen durch das Internet lockerer, so die These. Statt durch Inhalte entsteht schon durch die Art der Vernetzung ein neues, eigenes Profil. Es entsteht völlige Transparenz, die "Weisheit der Vielen" löst das vereinzelte Expertenwissen ab, stärkt also den Teamgeist.
Weil die Menschen andere Bedürfnisse entwickeln, müssen sich in der Folge aber auch die Unternehmen anpassen. Sie müssen für Bolz selbst sinnstiftend wirken. Statt bloße Produkte zu verkaufen, gilt es nun eine Wertorientierung zu bieten. "Gut" und "fair" zu sein, wird plötzlich zu einem Wert auch in der Wirtschaft, sagt der Optimist Bolz. Wer nicht für einen Ausgleich etwa von Umwelt und Industrie sorgt, wird abgestraft.

Und schließlich muss sich der Staat ändern. Er wird nicht mehr in der klassischen Rolle als großer Nivellierer gefordert. Er darf auch nicht der Illusion einer "Chancengleichheit" erliegen, die er in Wahrheit nie herstellen kann. Statt dessen muss er den Einzelnen ermutigen. Gleichzeitig aber mahnt Bolz, dass dies nicht etwa den einfachen Rückzug des Staates bedeutet:

"Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit führt auf eine abschüssige Bahn, sobald er einen an den Staat gerichteten Anspruch auf Glück geltend macht. Angesichts dieser Gefahr führt aber der altliberale Reflex "Weniger Staat" in die falsche Richtung. Denn modernes Leben hat einen Preis: Wie ich mein Leben führe, wird immer stärker abhängig von Entscheidungen des Staates."

Allerdings bleiben Fragen. So erliegt Bolz sichtlich der derzeitigen Internet-Euphorie und der angeblich heilenden Kräfte virtueller sozialer Netzwerke. Es stimmt zwar, dass das Netz neue Bezüge schafft. Aber nötige neue Kontrollen bei Wikipedia zeigen, dass sich ganz offensichtlich eben nicht automatisch eine "Schwarmintelligenz" einstellt, wenn sich 200.000 statt 200 Mitarbeiter an einer Enzyklopädie beteiligen. Im übrigen lösen die lockeren Beziehungsverhältnisse im Netz die alten starken, familiären Bande nicht etwa ab, sondern ergänzen sie nur. Wo diese Ergänzung nicht gelingt, entwickeln sind eher soziale Zombies, die gar nicht mehr in der Lage zu Beziehungen mit gegenseitigen Verpflichtungen sind.

Zu hinterfragen ist auch Bolz’ positiver Blick auf die Entwicklung der Unternehmen. Es stimmt zwar, dass Firmen bestrebt sind, einen Mehrwert zu liefern. Doch was daran ist fundamentaler Wandel und was bloße Taktik? Eine Brauerei mag für die Rettung des Regenwaldes werben – aber aus den Zwängen des knallharten Wettbewerbs wird sie sich dadurch nicht ausklinken können. Am besten lässt sich an der Pharmaforschung ablesen, dass die Summe der Einzelinteressen nicht zwangsläufig einen Mehrwert für alle erbringt – erforscht werden auch weiter vor allem die Krankheiten, die die beste Rendite versprechen.

Und um es provokant zu sagen: Bolz liefert mit der "Selbsttranszendenz" für das Internetzeitalter ein Wunsch-Konzept, in dem sich vor allem Intellektuelle in einer Wohlstandsgesellschaft wiederfinden, für die tatsächlich ihr Job ein wesentlicher Bestandteil der Sinnerfüllung ist – und für die der Arbeitsplatz zum Ort des zentralen Gemeinschaftserlebens, also zum "Club" werden kann, wie Bolz es ausdrückt. Aber diese "schöne neue berufliche Erfüllungswelt" ist für das große Heer der Angestellten und die vielen neuen Beschäftigten in schlecht bezahlten Dienstleistungssektor nicht erreichbar.

Die Einwände schmälern den Reiz des Buches von Bolz jedoch nicht. Immerhin stellt sich der TU-Professor offen gegen den Mainstream der derzeitigen oberflächlichen und pessimistischen Krisenberichterstattung, in der der Kapitalismus mal für tot erklärt wird, nur um in der nächsten Minute wieder zum Monster erhoben zu werden. Verkannt wird dabei, dass er sich in der Krise und mit allen technologischen Veränderungen nur häutet.

Der Kern des Kapitalismus, nämlich das Streben nach Mehrwert, wird weiter existieren. Und Bolz sieht zu Recht, dass es vor allem darauf ankommt, in welchen Rahmenbedingungen diese Kraft wirkt. In einer Gesellschaft, die nicht nur Profitmaximierung des Einzelnen als Ziel hat, kann sie erstaunliche und positive Wirkungen für alle freisetzen. Wenn der Begriff nicht schon so vielfältig besetzt wäre, könnte man diesen Zustand glatt als "soziale Marktwirtschaft" bezeichnen.


Norbert Bolz: Profit für alle. Soziale Gerechtigkeit neu denken
Murmann Verlag, 192 Seiten, 18 Euro
Cover: "Norbert Bolz: Profit für alle"
Cover: "Norbert Bolz: Profit für alle"© Murmann Verlag