Identitätssuche mit Balkanbeats

Von Christiane Kreiner · 11.12.2012
Wenn Stefan Hantel alias Shantel mit dem Bucovina Club Orkestar auf die Bühne geht, ist das mehr als nur ein Konzert: Manchmal wird es geradezu exzessiv. Seit über zehn Jahren begeistert er mit einer wilden Mischung aus Balkan-Rhythmen, Blechbläser-Sound und Pop-Musik sein Publikum.
"Eigentlich sind wir heimatlos, und wir sind Exoten, aber in dem Moment, wo wir zusammenkommen und diese Musik zelebrieren und uns amüsieren und tanzen und weiß der Teufel, ist auf einmal Heimat – das ist kein Ort, sondern ein Gefühl. Und dieses Gefühl ist das Spannende daran. Da kann sich jeder andocken oder nicht, und manche rennen davon und andere Geben sich mit Herz und Seele der Sache hin."
Zu Hause bei Stefan Hantel, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Shantel. Er sieht entspannt aus. Der Sohn ist im Kindergarten, seine Frankfurter Wohnung wirkt wie eine ruhige Oase inmitten der Stadt. An den Wänden hängen Gitarren, Verstärker und Effektgeräte stehen herum – und in den Regalen endlose Reihen von Schallplatten.

"Das ist schon keine Schellackplatte mehr. Doch! Das sind Pressungen aus Rumänien. Kurz nach dem Krieg - Maria Tanase, die Edith Piaf Rumäniens. Also die und noch ein paar andere habe ich gesichert. Weil, nachdem meine Großeltern gestorben waren, wurde der Nachlass, oder das was noch übrig war, ziemlich schnell, entsorgt."

Shantels Großeltern sind nach dem Krieg aus Czernowitz geflüchtet. Sie wollten nach Amerika auswandern. Doch dann blieben sie in Westdeutschland hängen, zuerst im Schwarzwald und dann in Mannheim. Hier wird Shantel 1968 geboren, hier wächst er auf – als Kind einer Mutter mit rumänischen Wurzeln und eines deutschen Vaters. Er erzählt vom Großvater, der Eisenbahner in der Bukovina war, und von der Großmutter – von ihrem dicken schwarzen Haar, von dem Geruch nach Zwiebeln und Knoblauch in ihrer Küche in Mannheim, von Honigbroten. Und von ihrer Musik.

"Es wurde traditionelle Musik gespielt, ob das rumänisch oder ukrainisch war, weiß ich nicht, es war auf jeden Fall anders, irgendwie schräg. Und dann fingen auf einmal alle an zu weinen und wurden ganz nostalgisch und ganz melancholisch. Es war immer beides, Nostalgie, Sentimentalität, aber auch lachen und fröhlich sein und tanzen. Das war für mich eine kleine heile Wunderwelt, wo es auch immer ziemlich zur Sache ging. Es war eher laut, man hat sich gestritten, es ging relativ deftig und rustikal zur Sache, und es hat mich als Kind fasziniert."

Eigentlich wollte er Grafiker werden. Doch Anfang der 90er-Jahre schmeißt Shantel das Design-Studium und macht in Frankfurt mit Freunden einen Club auf - anarchisch, elektronisch, chaotisch, hip. Shantel legt selbst Musik auf und fängt an, Musik zu produzieren. Eine Reise nach Moskau bringt ihm Gerüche und Erinnerungen aus der Kindheit zurück. Er entschließt sich weiter zu reisen, in die Bukovina, nach Czernowitz, in die Heimat seiner Großeltern. Doch was er dort findet, deckt sich nicht mit den Geschichten, die er aus ihren Erzählungen kennt

"Ich dachte irgendwann, als ich diesen 'ich suche meine Wurzeln'-Prozess abgelegt hatte: Ok. Bukovina hin oder her, diesen Mythos gibt es nicht mehr. Vergiss es. Aber es gibt für dich selber den Begriff der virtuellen Bukovina!"

2001 beginnt der Bukovina Club als Party-Experiment im Frankfurter Schauspielhaus. Shantel lädt Musiker einer serbischen Blaskapelle nach Frankfurt ein, veranstaltet mit ihnen eine Party – und macht am nächsten Tag eine Aufnahme mit ihnen im Studio, um Material für Samples zu bekommen. Das war der Anfang des Bucovina Club Orkestars. Club und Band sind seitdem immer in Bewegung. Ein offenes Bühnenkunstwerk, mit wechselnden Musikern und Musikerinnen aus Osteuropa. Shantel bleibt der Frontmann, der Gitarre spielt und singt – obwohl er gar keine Noten kann:

"Auf meinen Konzerten und Parties kamen auf einmal Menschen zusammen, die ähnlich vielschichtig zusammengewürfelt waren wie ich selber. Sie waren in Deutschland geboren, sind in Deutschland aufgewachsen, sie sprechen deutsch und haben Eltern oder Großeltern mit Wurzeln in Südosteuropa. Aber eigentlich wussten sie nicht, wohin damit. Und jetzt haben sie auf spielerische oder auch hedonistische Weise das ganz neu kennengelernt. Weil normalerweise ist alles, was mit der vergangenen traditionellen Kultur zusammenhängt, irgendwie uncool – weil es nicht modern ist, weil es nicht modisch ist, weil es nicht hip ist."

Altmodisch, romantisch, chaotisch? Shantel holt seinen Laptop herbei. Die Tielman-Brothers beschäftigen ihn gerade, indonesisch-holländische Rockmusiker, die in den 60er-Jahren in Hamburger Clubs gespielt haben. Der musikalische Kosmos von Shantel ist groß, skurril und er steckt voller Geschichten:

"Wenn ich mich mit diesen Geschichten beschäftige, ob es die Kosher Nostra ist, oder der Bukovina-Club, oder jetzt das Rock'n'Roll-Projekt, dann sind das immer Protagonisten, die mich an meine eigene Familiengeschichte erinnern. Menschen, die etwas ganz Zerrissenes, vielleicht Gebrochenes in ihrer Identität haben, die irgendwie in der Fremde ihr Leben neu organisieren mussten, aber eigentlich nie ihre Wurzeln verneint haben, sondern versucht haben, Ihre Wurzeln irgendwie weiterleben zu lassen, damit weiter zu arbeiten, aufleben zu lassen."

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