Identitäten und Biografien im Rampenlicht

Von Eberhard Spreng · 02.05.2009
Zwei radikale Ansätze von Theaterarbeit flankieren das Programm beim diesjährigen Theatertreffen. Zu Eröffnung thematisiert Christoph Schlingensief die eigene Krebserkrankung in einer Fluxus-Messe, zum Abschluss lässt Volker Lösch einen Chor von Hamburger Hartz-IV-Empfängern auftreten, eine Gruppe aus dem Schattenreich einer mediatisierten Gesellschaft. Das Kranke, der Tod und das Verdrängte einer schmerzvollen Privatheit drängen so auf die Bühne. Aber wird das Theater so seiner öffentlichen Aufgabe noch gerecht? Eine problematische Entwicklung konstatierte die Publizistin Carolin Emcke gleich zu Beginn bei der Diskussion im Haus der Berliner Festspiele.
"Ich glaube, es gibt einen unglaublichen Mythos der Authentizität im Moment, und auch so einen Mythos der Schnelligkeit. Nicht jede Innerei muss veröffentlich werden und auch nicht jede Emotion muss im größtmöglichen Tempo eins zu eins präsentiert werden. Sowohl als Autorin als auch als Leserin würde ich sagen: Langsamkeit und eine gewisse Neigung zum Unauthentischen könnten auch ganz gesund sein."

Sehr bald war der Dissens zwischen der politischen Journalistin mit reicher internationaler Erfahrung und den beiden Theatermachern erkennbar. Wo sie, angesichts einer internationalen Vielfalt unterschiedlichster Bewältigungsstrategien für Krankheit, Tod und Elend für allgemeingültige Sprachen und Verständigungssysteme wirbt, treibt insbesondere den Regisseur Volker Lösch die Erfahrung der Kraftlosigkeit der traditionellen Theatersprache um.

"Das Private, würde ich sagen, ist das Unverstellte, und ich kann als Theatermensch gar keine unverstellte Antwort mehr geben. Ich filtere das sofort auf der Probebühne. Wenn ich einen Schauspieler zu bestimmten sozialen Themen befrage, dann macht der einen Witz, dann kommt ein Zynismus raus, dann kommt eine überintellektualisierte Antwort raus oder irgend etwas gefiltertes, weil ein Schauspieler sich ja berufsmäßig mit all diesen Folien, diesen Abziehbildern, mit all diesen Stücke und Literaturen beschäftig muss. Wenn ich jemanden einlade, über sich und sein Leben zu sprechen, der noch nie auf einer Bühne bestanden hat, kriege ich von dem - aber auch nur ein Mal, beim zweiten Mal klappt es meistens nicht mehr - eine Antwort, die sehr interessant sein kann."
Löschs unverblümter Angriff auf die Wohlhabenden dieser Gesellschaft mithilfe seines Chors aus Hartz-IV-Empfängern, vor allem das Offenlegen ihrer Eigentumsverhältnisse auf der Bühne, hatte in Hamburg zu einem veritablen Theaterskandal geführt. Carolin Emcke versucht eine Erklärung.

"Warum ist diese Echtheit auf der Bühne auf einmal so relevant geworden und warum regt sie so auf? Da würde ich als Kritik unseren beiden Branchen sagen: Na, ja, weil bestimmte Leute einfach gar nicht mehr repräsentiert werden und weil sie nicht sichtbar sind in politischen Prozessen; nicht so sichtbar, aber auch weil die Medien sich auf die Hartz-IV-Empfänger, die Echten, vielleicht gar nicht genug konzentrieren oder ihnen nicht genug Raum geben, oder nicht genug Stimme geben. In diesem Moment springt das Theater auch in einen Bruch hinein, den die Medien und die Politik vielleicht gelassen haben. Es ist auch eine Frage der Krise der Repräsentation."

Theater als privilegierter Ort gesellschaftlicher Wahrheitsfindungen und Sichtbarkeit mit dem Monopol für Empathie und soziale Wahrhaftigkeit? Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier wollte dies so nicht stehenlassen.

"Ich bin für diese Reibung, ich bin für politisches Theater. Wir brauchen politisches Theater, wir wollen politisches Theater. Wir wollen die Freiräume für politisches Theater. Dies alles vorweg gesagt, sage ich aber auch: Auch wenn politisches Theater grenzenlos unausgewogen sein soll und sein kann, und wenn es arrogant sein darf, aber zu unterstellen, als würde erst politisches Theater ein Thema auf die gesellschaftliche Bühne holen, ist natürlich auch falsch. Ich könnte jetzt mit andern Worten ebenso zurückgehen und sagen: Sie versuchen jetzt das Thema Hartz-IV und Arbeitslosigkeit, fünf Jahre nach den Gesetzgebungsmaßnahmen, für die ich ja auch stehe, auf die politische Bühne zu holen. Ich sage umgekehrt: Vor fünf Jahren haben mich die fünf Millionen Arbeitslosen geschmerzt und wir haben darüber nachgedacht, was man dagegen tun kann."

Christoph Schlingensief, der in seiner Arbeit "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" den eigenen Körper und dessen Krankheit in einem durchaus religiösen ecce homo und zugleich in einer artifiziellen Kunst-Aktion zum öffentlichen Thema machte, erkennt derzeit den Ort des Politischen nur in der privaten Erfahrung.

"Wann ist ein Staat tatsächlich noch sozial? Organisiert er uns nur oder kümmert er sich auch noch und gibt mir wirklich die Möglichkeit, dass ich mich als Mensch auch wieder mögen darf? Wenn alle nur an mir rumschnibbeln und alle immer nur erzählen und im Fernsehen immer nur erfolgreiche Menschen rumturnen, dann muss ich auch sagen, habe ich auch ein Bedürfnis, mal andere zu sprechen, denen es auch Scheiße geht. Ob die sich dann noch einmal aufraffen und zusammentun, um dann loszukämpfen, das bezweifle ich, aber: Ich finde der Akt der Einsamkeit ist das Politischste, was eigentlich in unserer Gesellschaft stattfinden kann. Der Rest ist meist Geschwätz."

Schlingensief findet in der Messe, der Installation, dem Fluxus und mit dem Rückgriff auf Joseph Beuys Wege für die emotionale Beteiligung des Publikums am eigentlich Unsagbaren. Also mit aus Religion und der bildenden Kunst entlehnten Ritualen. Auf die Mittel der Repräsentation nach klassischem Vorbild hat er immer schon verzichtet. So sind seine Schauspieler keine Repräsentanten, keine Stellvertreter, keine Zeichenträger innerhalb eines dramatischen Diskurses. Droht da nicht auch eine neue Sprachlosigkeit, fragt sich Carolin Emcke.

"Eine der Sorgen, die ich habe - wenn wir unterstellen, dass man sozusagen nur über das sprechen kann, was man selbst erfahren hat und das ist das, was ich mit dem Mythos des Authentischen meine - ist, dass wir uns selbst die Möglichkeit zur Empathie absprechen. Die Kunst des Schauspielers ist doch gerade, sich hineinzuversetzen in eine andere Figur und diese dann darzustellen, ohne dass man die Erfahrung selber gemacht hat."

Letztlich unvereinbar blieben die Positionen von Carolin Emcke - Vereinbarkeit der Zeichensysteme mit kulturell übergreifenden Verständigungsmöglichkeiten einerseits und Konzentration auf die individuelle, singuläre Erfahrung als Nukleus jeder Lebensäußerung andererseits. Schlingensiefs Synkretismus begeistert das Publikum und scheint derzeit die klassischen Verfahren der Aufklärung, der reinen Vernunft und ihrer Sprache zu widerlegen.