Identität und Beruf

Verloren in der Weltirrelevanz

04:18 Minuten
Eine Frau sitzt mit Büchern in einem Stuhl in einem Feld.
Werden Menschen freier, wenn der Zwang zum Arbeiten abnimmt oder ganz wegfällt? © Unsplash / Sheri Hooley
Überlegungen von Nicola Schubert · 07.07.2020
Audio herunterladen
Wer bin ich, wenn ich nicht arbeite? Gerade in Zeiten der Kurzarbeit stellt sich die Frage nach unserer Identität und unserem Selbstbild. Sind wir das, was wir beruflich tun? Die Autorin und Schauspielerin Nicola Schubert sucht nach einer Antwort.
Die Definition des eigenen Selbst über Arbeit ist ein für den Neoliberalismus praktisches Prinzip und über die letzten Jahrzehnte so in uns eingesickert, dass die Formel "Ich bin meine Arbeit" für viele normal geworden ist. Was heißt es aber dann, wenn Millionen in Kurzarbeit sind oder "Stillbeschäftigung" im Homeoffice haben? Was macht das mit ihrer Identität?
Bei Fragen der Identität geht es, strukturalistisch gesehen, um Rollen. Rollen speisen sich aus Erwartungen. Die sehen in der Krise anders aus. Zum Beispiel, wenn Kinder nicht in die Schule gehen können. Dann wird von Eltern, meist Müttern erwartet, sie zu betreuen. Die Rolle als Mutter nimmt einen viel größeren Raum ein als zuvor. Und verschiebt auch die Eigenwahrnehmung: Familie statt Karriere!
Im Job hingegen fallen die Erwartungen mitunter: weniger Stunden, weniger Druck. Ist das Individuum dadurch freier? Frei vom Definiertsein vielleicht. Aber ist das eigentlich gut?

Womit man sein Geld verdient, sagt wenig über das Selbst

"Was sind Sie von Beruf?" Das Sein an sich ist es, das eng mit dem Beruf verknüpft ist. Und Rechtfertigung verlangt: "Wie verdienen Sie ihr Geld?" Dahinter steht die Frage: "Was tun Sie für Ihr Recht auf Selbsterhaltung?"
An Kunst- und Kulturschaffenden, die momentan gar nicht oder nur unter sehr anderen Voraussetzungen arbeiten, lässt sich eine Identitätskrise gut beschreiben. Seit Jahren wird der/die Künstler:in als ideales, selbstausbeutendes und immer arbeitendes Role-Model - da ist sie wieder, die Rolle! - für den Kapitalismus betrachtet. Immer zu arbeiten, ist diesem Wesen immanent. Das braucht es allein schon, um die eigene künstlerische Identität immer wieder zu reproduzieren.
Identitätsfragen stellen sich in dieser Branche permanent. Wenn das nicht geht mit der Arbeit, steht meist eine Krise, ein Identitätsverlust ins Haus. Die ist im Moment verbunden mit dem Wort: Systemirrelevanz. Dieses uns alle umgebende System kann man auch gleichsetzen mit Welt: Weltirrelevanz.

Identität ist ständig in Bewegung

In dem Moment, in dem ich diesen Text schreibe, bin ich Autorin. Bin ich in der Kurzarbeit überhaupt noch Schauspielerin, mit acht Stunden Theaterarbeit pro Woche? Hat es einen Effekt auf meine Identität, dass das in den letzten Jahren mein Hauptberuf war? Natürlich. Aber Identität ist fluid, ständig in Bewegung. Sie muss durch die Praxis bestimmter Rituale aufrechterhalten werden oder ändert sich, wenn diese wegfallen.
Wir sind alle in ständiger Performance unserer Rollen: "All the world is a stage." Es gehört zu den Kränkungen der Krise, dass manche nicht mehr gebraucht oder zumindest nicht mehr bezahlt werden, was – außerhalb von Reproduktionsarbeit, die sowieso nicht bezahlt wird – im Kapitalismus dasselbe ist. Neben verletzter Eitelkeit steht reale wirtschaftliche Bedrohung. Und die Frage, wie das eigene Ich nun einzuordnen sei?
Das Selbstbild des Status quo ante erscheint uns wie das "Normale". Wenn alles so schnell wie möglich wieder "normal" werden soll, dann auch deshalb, weil viele von uns zur alten Identität zurück möchten. Aber wie gesagt: Identität ist schlecht speicherbar.

Das Sein von der Arbeit trennen

Darin steckt aber auch Potenzial: Wir können die Rollen annehmen, die uns gefallen und ihnen mehr Gewicht geben als anderen, die wir nicht so mögen. Wir können anerkennen, dass wir Mischwesen sind, die sich aus sich stets verändernden Erwartungen von und an uns selbst zusammensetzen. Wir haben die Möglichkeit, bewusste Hybride zu sein.
Ich bin Schauspielerin und Autorin und Freundin und, und, und. Bewusst hybrid zu sein, ist nicht immer leicht, in scharfen Kategorien zu denken einfacher. Das Sein von der Arbeit schrittweise zu trennen kann ein erster Schritt, ein subversiver Akt sein.

Nicola Schubert ist Schauspielerin und freie Autorin. Sie begann bei den "Ruhr Nachrichten" und "Radio 91,2" in Dortmund und mit einem Theater- und Medienwissenschaftsstudium. Zurzeit ist sie, nach Schauspieldiplom in Frankfurt am Main und Erstengagement in Ostwestfalen, am Theater Ulm engagiert.

© Birgit Hupfeld
Mehr zum Thema