Ideengeschichte zur Einheit Europas

Bollwerk gegen den "Hornvieh-Nationalismus"

Ein großes Bronzedenkmal der "Europa auf dem Stier mit Erdkugel und Taube" steht im Hafen der kretischen Stadt Agios Nikolaos.
Die Sage erzählt, dass die phönizische Königstochter Europa von Göttervater Zeus in Gestalt eines Stiers entführt wurde. Das Bronzedenkmal steht in Kreta. © picture alliance / dpa / Waltraud Grubitzsch
Von Klaus Englert · 22.03.2017
Wer heute die mentale Geografie Europas überblickt, wird nahezu überall auf nationale Abschottung und patriotische Schutzwälle treffen. Der Geist der europäischen Integration ist passé. Dabei war Europa von Beginn an weniger ein Ort, sondern vielmehr eine Idee.
Die Horizonte werden nicht erweitert, sondern verengt. Der bissige Kommentar eines deutschen Freigeistes scheint heute gültiger denn je:
"Ein wenig reine Luft! Dieser absurde Zustand Europas soll nicht mehr lange dauern! Gibt es irgendeinen Gedanken hinter diesem Hornvieh-Nationalismus? Welchen Wert könnte es haben, jetzt wo alles auf größere und gemeinsame Interessen hinweist, diese ruppigen Selbstgefühle aufzustacheln."
Friedrich Nietzsche, der in Basel lehrende Altphilologe, ein Liebhaber französischer Kultur und italienischer Lebensart, hatte zusehends das Gefühl, das Preußentum schneide ihm die Luft zum Atmen ab. Doch der Rufer in der Wüste ließ von seinen Visionen nicht ab:
"Die wirtschaftliche Einigung Europas kommt mit Nothwendigkeit – und ebenso, als Reaktion, die Friedenspartei."
Der aus dem sächsischen Röcken stammende Pfarrerssohn gehörte zu den großen Europäern des 19. Jahrhunderts. Als Staatenloser lebte Nietzsche in der Schweiz und erlebte dort, wie Preußen gegen das geliebte Frankreich in den Krieg zog, an dessen Ende Bismarck 1871 seinen preußisch dominierten Nationalstaat schuf, der den Nationalismus auf dem Kontinent anheizte. Die europäischen Staaten und Reiche waren auf sich selbst bezogen. Eine Idee von Europa, von seinen Ursprüngen, vom Mythos Europa hatte in diesem Denken keinen Platz.

Europa heißt "Abend"

Für den Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmann kommt es darauf an, die Perspektive zu weiten und wahrzunehmen, wie Europa entstanden ist:
"Europa entsteht in Asien. Europa ist ein semitisches Wort, kein indo-europäisches Wort und heißt der 'Abend'. Also Europa ist tatsächlich das Abendland. ( ... ) Warum? Das Abendland ist ja nur dann das Abendland, das vergisst man, das ist nie eine Selbstbezeichnung, sondern der Abend ist der Westen, wo die Sonne untergeht. Und Europa liegt nur im Westen, wenn ich nicht in Europa bin, sondern wenn ich irgendwo an den phönizischen Gestaden bin und nach Westen blicke – und dort geht die Sonne unter, und hinter dem Sonnenuntergang liegt noch ein Kontinent, und das ist Europa. Genauso wie für uns das Morgenland unsere Perspektive auf den Orient ist. Nur für uns geht dort die Sonne auf. ( ... ) Abendland und Morgenland sind komplementäre Begriffe, und zwar Fremdzuschreibungen."
Wenn Liessmann die "phönizischen Gestade" an der östlichen Mittelmeerküste erwähnt, dann darf natürlich nicht die phönizische Königstochter Europa fehlen. Auf die hatte es nämlich Göttervater Zeus abgesehen. In Gestalt eines Stiers entführte er sie, schwamm, mit Europa auf dem Rücken, nach Kreta und vergewaltigte sie dort.
Liessmann: "Das heißt Europa beginnt in Asien. Wir hatten immer dieses Verhältnis zu diesem Osten, zum asiatischen Raum. Das ist die Wurzel unserer Kultur bis zu einem gewissen Grad."
Europa war in den ersten Jahrhunderten keineswegs ein Kontinent mit geschlossenen Grenzen. Die Ostteile empfingen orientalische Einflüsse durch das Osmanische Reich, die Iberische Halbinsel durch die Umayyaden, die anfangs aus dem umkämpften Damaskus flohen, um später im neuen Kontinent das Kolonialreich Al Andalus zu gründen.

Fortschritt entstand durch Wissenstransfer

Weil Europa von Beginn an keine gesicherten Grenzverläufe besaß, war es weniger ein Ort, sondern vielmehr eine Idee. Nichts zeigt das anschaulicher als die legendäre Bibliothek von Alexandria, die auf afrikanischem Kontinent fast das gesamte Wissen Europas versammelte. Aufgebaut wurde sie vom Mazedonier Ptolemaios I., dem Feldherrn von Alexander dem Großen. Innerhalb von zwei Generationen wuchsen die Bestände der Bibliothek auf über eine halbe Million Pergamentrollen an, darunter fanden sich alle wichtigen Werke der griechischen Natur- und Geisteswissenschaften seit Homer.
In den antiken und mittelalterlichen Bibliotheken entstand wissenschaftlicher Fortschritt durch Wissenstransfer von einer zur anderen Kultur – vom Abendland zum Morgenland und wieder zurück: Das war so im antiken Alexandria, im Bagdad des 8. Jahrhunderts und wenig später im muslimischen Córdoba. In Bagdad und Córdoba waren die arabischen Gelehrten nicht nur führend in Wissenschaft und Philosophie, sie waren auch die besten Kenner der griechischen Werke, die sie in die eigene Sprache übersetzten. Angereichert durch eigene Kommentare gelangten die Werke schließlich zurück ins Abendland.
(Auszug)
Das vollständige Manuskript als PDF- und als TXT-Dokument.
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