"Ich male keine Akte, ich male Nacktporträts"

Von Günter Kaindlstorfer · 07.10.2013
Das Kunsthistorische Museum in Wien ist sonst nur den unsterblichen Schöpfungen Alter Meister vorbehalten. Doch mit einer großen Retrospektive ehrt das Museum nun einen modernen "alten Meister": den vor zwei Jahren gestorbenen Maler Lucian Freud. Der Enkel von Sigmund Freud hatte noch an der Konzeption der Ausstellung mitgewirkt.
Eine schwangere Frau mit entblößter Brust, auf ihrem Schoß die Schnauze eines gelangweilten Bullterriers; ein Zyklamengesteck in Weiß, Braun, Grün und duftigem Rosa; ein stämmiger Mann in lasziver Stellung, nackt und mit gespreizten Beinen auf dem Boden posierend. Das sind einige der Sujets, die Lucian Freud noch persönlich für die Wiener Ausstellung ausgewählt hat.

Man merkt sofort: Der 2011 verstorbene Künstler war an Vitalem interessiert, an allen Phänomenen des Lebens, wie Jasper Sharp, Kurator der Wiener Ausstellung und früherer Freund des Malers, betont. Lucian Freuds Enthusiasmus galt der menschlichen Existenz ebenso wie tierischem und pflanzlichem Leben:

Jasper Sharp: "I would say: life generally, human life, animal life or plant life. He was fascinated by living objects."

Dabei machte Lucian Freud, ein radikaler Vitalist, keinen Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Leben. Immer wieder posieren Hunde auf seinen Porträts, Bullterrier vor allem und Whippets, die schlanken, flinken Windhunde der englischen Oberschicht. Eines der berührendsten Gemälde der Wiener Ausstellung, ein kleinformatiges Bild, zeigt denn auch das Grab des Whippets "Pluto", eines der Lieblingshunde des Künstlers, im Garten Lucian Freuds.

Daneben: jede Menge nacktes Fleisch. Hüllenlose Dickmadames, die sich träge auf Blümchensofas rekeln, hat Lucian Freud ebenso schonungslos auf Leinwand gebannt wie seine nackten Freunde, seine nackten Töchter und vor allem auch: sich selbst. Eine der eindrucksvollsten Positionen der Wiener Schau stammt aus dem Jahr 1993: Man sieht Lucian Freud pudelnackt in seinem Atelier stehend, in den Händen Palette und Malgerät, die Füße in offenen Filzpantoffeln: Porträt des Künstlers als nackter Oldie in Schlappen:

Sharp: "In der Kunstgeschichte hat man immer von 'Akten' gesprochen, wenn es um Nacktheit ging. Für Lucian Freud war zeit seines Leben klar: Er malte keine Akte, Akte haben immer etwas Idealisiertes. Lucian hat immer gesagt: Ich male keine Akte, ich male Nacktporträts. Die sind ehrlicher und direkter. Lucian wollte Menschen nicht so malen, wie sie aussehen, er wollte sie malen, wie sie SIND. Auch wenn er angezogene Menschen gemalt hat, waren das für ihn nackte Menschen, die zufällig Kleider anhaben."

Lucian Freud, ein Enkel Sigmund Freuds, ist in Berlin aufgewachsen, bis die Familie 1933 nach Großbritannien emigrieren musste. Freuds innige Beziehung zum Kunsthistorischen Museum Wien geht auf einige Reproduktionen von Highlights des Hauses zurück, die ihm Opa Sigmund als Knaben geschenkt hat und die die Berliner Wohnung der Freuds geziert haben: Brueghels "Jahreszeiten" gehörten ebenso dazu wie berühmte Werke von Dürer und Tizian.

In einem seiner raren Fernsehinterviews – ebenfalls in Wien zu sehen - hat der öffentlichkeitsscheue Lucian Freud einmal über ein Gemälde des von ihm verehrten Tizian philosophiert: Wenn ein Bild wirklich überzeugend gemalt sei, so Lucian Freud, denke er nicht darüber nach, wie es gemalt sei, sondern nur, welche Wirkung es auf ihn ausübe.

Die Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien ist chronologisch aufgebaut und dokumentiert die 70-jährige Schaffenszeit Lucian Freuds von 1943 bis zu seinem Tod 2011. Seinen Stil, das ist in der Schau deutlich nachzuvollziehen, fand der Künstler erst Anfang der 1950er-Jahre. Die früheren Arbeiten Freuds wirken hölzerner, plumper, ungelenker als seine reifen Tableaus, die heute längst im Rang moderner Klassiker stehen. Dabei hatte Lucian Freud auch manche Durststrecke durchzustehen, wie Kurator Jasper Sharp betont:

"Lucian war ein figurativer Maler – auch zu einer Zeit, als das wirklich 'out' war. 20 Jahre ist es ihm echt dreckig gegangen: Er hat nichts verkauft, keine Galerie wollte seine Bilder ausstellen, seine Art zu malen galt als hoffnungslos altmodisch. Damals machten alle in Minimalismus, in Konzeptkunst und Performing Arts. Und was hat Lucian in dieser Zeit getan? Er saß in seinem Studio, Tag für Tag, und malte seine Familie, er malte seine Freunde und Tiere – und das zu einer Zeit, als seine Art zu malen aber so was von unangesagt war."

Und heute? Auf dem Kunstmarkt erzielen die Gemälde Lucian Freuds Sensationspreise, sein berühmtes Porträt der Queen hängt im Buckingham Palace, und jetzt, zwei Jahre nach seinem Tod, erobert Freud auch das Kunsthistorische Museum in Wien, das sonst nur den unsterblichen Schöpfungen "Alter Meister" vorbehalten ist. Seinen Großvater hätte es gefreut.

Service:
Die Lucian-Freud-Retrospektive im Kunshistorischen Museum in Wien ist vom 8. Oktober 2013 bis 6. Januar 2014 zu sehen.

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Martin Gayford: "Mann mit blauem Schal. Ich saß für Lucian Freud", Piet Meyer Verlag 2011, 248 Seiten