"Ich hatte gedacht, dass es sehr viel schneller geht"

Günter Beckstein im Gespräch mit Nana Brink · 02.10.2010
Er wohnte nur 70 Kilometer von der deutsch-deutschen Grenze entfernt und erlebte 1990 eine "ganz, ganz spannende Zeit". Doch Günter Beckstein kennt auch den ernüchterten und enttäuschten "Westblick" der Bevölkerung im Freistaat.
Nana Brink: Morgen jährt sich der Tag der deutschen Einheit zum 20. Mal, und vielleicht ist Ihnen ja auch schon bei der Berichterstattung aufgefallen, dass meistens in Richtung Osten geschaut wird: Wie geht es den neuen Ländern, was denken die Ostdeutschen über die Einheit, wie hat sich ihre Einstellung gewandelt - von Euphorie zur Ernüchterung? Und wir wollen jetzt mal den Blick nach Westen richten, was ist denn in den Köpfen der Westler vorgegangen, wie sehen sie die deutsche Einheit 20 Jahre danach und haben sich ihre Einstellungen und Gefühle geändert?

Und dazu begrüße ich jetzt am Telefon Günter Beckstein, ehemals CSU-Ministerpräsident in Bayern und vor 20 Jahren Staatssekretär im bayrischen Innenministerium, das er dann auch als Minister übernommen hat. Einen schönen guten Morgen, Herr Beckstein!

Günter Beckstein: Einen schönen guten Morgen!

Brink: Können Sie sich noch genau daran erinnern, was Sie am 3. Oktober 1990 gedacht und gefühlt haben?

Beckstein: Ja, natürlich, das war eine ganz, ganz spannende Zeit, und ich war häufig in Vertretung für Stoiber bei den Verhandlungen für die deutsch-deutschen Verträge dabei, und deswegen hat mich das ungeheuer bewegt. Und ich kann nur sagen, es war für mich ein ganz großes Glücksgefühl, weil die Herstellung der deutschen Einheit immer ein großer politischer Traum gewesen ist und das in Frieden und Freiheit ohne einen einzigen Schuss und dass gleichzeitig ja der Kalte Krieg zu Ende gegangen ist und damit auch die atomare Bedrohung, die ja gerade bei uns - ich wohne vielleicht 60, 70 Kilometer von der Demarkationsgrenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR entfernt - da hat man da schon wirklich auch mitgefühlt.

Und es war noch ganz frisch diese großartigen Erlebnisse beim Fall der Mauer, wo die unendlichen Trabbi- und Wartburg-Schlangen dann rübergekommen sind. Wir haben Begrüßungsgelder gegeben, und es hat unbeschreibliche Wiedersehensszenen gegeben, auch zwischen wildfremden Menschen.

Brink: Was hatten Sie denn für Hoffnungen, gerade von bayrischer Seite, wie sich die deutsche Einheit gestalten würde, als Erfolgsmodell? Haben Sie wirklich an die blühenden Landschaften geglaubt?

Beckstein: Also ich gestehe, dass ich da ganz eindeutig dran geglaubt hatte. Ich hatte gesagt, das Wirtschaftswunder ist in der Bundesrepublik Deutschland gewesen, weil tüchtige Menschen ihre Möglichkeit hatten, in der Wirtschaft Initiative zu ergreifen. Und ich hatte ja auch halt - das muss ich sagen - die Illusion, dass das in der ähnlichen Weise in der damaligen DDR ist, wenn die Grenzen der Planwirtschaft fallen, wenn die Hemmnisse fallen, wenn Leute Handwerker werden können, wenn alle in die Möglichkeiten der sozialen Marktwirtschaft kommen und die Unterstützung aus dem Westen.

Ich hatte gedacht, dass es sehr viel schneller geht, als es dann wirklich geschehen ist. Es sind ja zunächst ja auch viele Gelder geflossen und man hat gesehen ... Straßen wurden gebaut. Jeder hat sich ein Auto kaufen können, auf das er sonst zehn, 15, 20 Jahre warten musste. Jeder hat Telefon bekommen, was auch ja früher in der DDR kaum denkbar war. Also es ist zunächst schnell gegangen. Aber dass dann die eigentliche Herstellung der Einheit so lange dauert, das hat mich dann schon sehr überrascht und natürlich auch, dass es so teuer geworden ist für den Westen.

Brink: Es murren ja jetzt auch viele Leute im Westen darüber, dass die Gelder in den Osten, also dass die Stadtzentren in Leipzig und Dessau saniert werden, aber zum Beispiel im Ruhrgebiet nicht, und ein Viertel der Menschen in den neuen Bundesländern zum Beispiel glaubt, dass die Westdeutschen ja aber eigentlich am meisten von der Einheit profitiert haben. Gibt es einen Westblick auf die Einheit?

Beckstein: Es gibt schon eine Menge von Menschen, ich erlebe das auch immer wieder in den Gesprächen, die sagen, jetzt muss aber mal Schluss sein, jetzt können wir nicht immer noch weiter Geld in den Osten pumpen. Es gibt Leute, die auch sagen, dass einfach sehr viel Geld, manche sagen, zu viel Geld in den Osten geflossen ist. Da gibt es schon bei uns im Westen nennenswerte Stimmungen, die also hier, jetzt sag ich mal entweder enttäuscht sind, wie lange es dauert, vielleicht auch enttäuscht sind über manches Verhalten, das sie den Bürgern der DDR, den Ossis, wie sie genannt werden in diesen Gesprächen, dann entsteht. Aber …

Brink: Was sagen Sie denen denn, müssen die noch ein bisschen Geduld haben?

Beckstein: Ich selber bin nun relativ häufig in den neuen Bundesländern und sehe, dass es immer noch nicht gleichwertige Lebensverhältnisse sind. Die Arbeitslosigkeit ist sehr viel höher, die Wirtschaft ist nicht in demselben Umfang präsent, wie das bei uns in Bayern ist, und deswegen sage ich, es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als noch viele Jahre weiter mit Transfers in die neuen Länder zu leben. Das ist eine ja auch patriotische Aufgabe, und ich werbe da für Verständnis.

Allerdings gestehe ich, dass ich mir nie hätte träumen lassen, 1990, dass wir auch im Jahr 2010 noch nicht die vollständig blühenden Landschaften haben, dass es noch drum geht, immer noch was zu bezahlen. Wobei ich allerdings dann sage: Es sind nicht Kosten der Wiedervereinigung, sondern es müssen die Trümmer des kommunistischen Systems der DDR immer noch weggeräumt und ersetzt werden.

Brink: Günter Beckstein, ehemals CSU-Ministerpräsident in Bayern, und wir sprachen über 20 Jahre deutsche Einheit aus Westsicht. Schönen Dank für das Gespräch, Herr Beckstein!

Beckstein: Danke, Wiederhören!