"Ich habe keine Albträume mehr"

Eva Mozes Kor im Gespräch mit Klaus Pokatzky: · 27.01.2012
Das Verzeihen habe geholfen, "das gebrochene Leben wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen", erklärt die Autorin und Auschwitz-Überlebende Eva Mozes Kor. Sie habe nicht darauf gewartet, dass die Täter sich bei ihr entschuldigen, dann hätte sie den Tätern Macht über sich gegeben.
Klaus Pokatzky: Es war ein Morgengrauen an einem Frühlingstag des Jahres 1944, als Eva Mozes Kor in Auschwitz ankam mit ihren Eltern und ihren drei Schwestern im Viehwaggon aus Rumänien, wo sie ihre Kindheit bis dahin verbracht hatte. Ihre Eltern und zwei ihrer Schwestern sollte sie nie wieder sehen. Sie wurden in Auschwitz ermordet.

Eva Mozes Kor überlebte gemeinsam mit ihrer Schwester Miriam, weil die beiden Zwillinge waren. Zehn Jahre alt waren sie. Und nachdem Eva Mozes Kor in Großbuchstaben die Nummer A-7063 ins Fleisch gebrannt worden war, wurde sei vom SS-Arzt Josef Mengele als menschliches Versuchskaninchen für seine Experimente an Zwillingspärchen benutzt.

An 3.000 solcher Opfer hat sich Josef Mengele ausgetobt, kaum 200 von ihnen lebten noch, als die Rote Armee heute vor 67 Jahren Auschwitz befreit hat. Wie Eva Mozes Kor gemeinsam mit ihrer Schwester Miriam überlebt hat, hat sie vor drei Jahren in einem Jugendbuch beschrieben, das jetzt auf Deutsch erschienen ist. Willkommen im Deutschlandradio, Eva Mozes Kor.

Eva Mozes Kor: Danke!

Pokatzky: Was empfinden Sie, wenn Sie die deutsche Sprache hören? Vor allem wenn Sie das Wort Zwilling auf Deutsch hören, das Sie ja damals, 1944, auf der Selektionsrampe in Auschwitz gehört haben, als ein SS-Mann Sie und Ihre Schwester Miriam gesehen hat und dann ihre Mutter gefragt hat: Sind das Zwillinge?

Mozes Kor: Jetzt ist das okay, aber das hat sehr lange gedauert. Es war wirklich sehr, sehr schwer für mich, noch im Jahr 1984, 85 hat mich die deutsche Sprache immer sehr, sehr zurückgeworfen. Sie hat mir regelrecht einen Schock versetzt und mich geistig zurück zur Selektionsrampe nach Auschwitz gebracht. Und auf einem Lufthansaflug habe ich dann beschlossen, dass mich von nun an die deutsche Sprache nicht mehr stören soll. Ich habe versucht, sie zu akzeptieren, sogar mehr und mehr von ihr zu lernen. Und ich denke, eine Sprache kann nicht nur verletzen, sie kann einem auch helfen.

Pokatzky: Wenn Sie von Auschwitz träumen, gibt es da ein Motiv, ein Bild, das immer wieder auftaucht in den Träumen?

Mozes Kor: Nicht mehr. Ich habe keine Albträume mehr über Auschwitz gehabt in den letzten 16 Jahren, keinen einzigen.

Pokatzky: Das ist ein Schlüsseldatum: Am 27. Januar 1995 wurde in Auschwitz des 50. Jahrestages der Befreiung durch die Rote Armee gedacht, und damals haben Sie einem Arzt aus der Verbrechermediziner um Josef Mengele, nämlich Hans Münch, ganz öffentlich und offiziell verziehen. Wie war das genau und ist das der Grund dafür, dass Sie heute keine Albträume von Auschwitz mehr haben?

Mozes Kor: Ich muss hier eine kleine Korrektur anbringen. Der Herr Münch hat nicht wirklich mit Herrn Mengele zusammengearbeitet. Er hat außerhalb von Auschwitz gearbeitet. Er war Bakteriologe und hatte dort ein Labor für Bakteriologie. Ich kannte ihn also vorher nicht. Und ich bin zweitens 100 Prozent davon überzeugt, dass dieses Vergeben mich geheilt hat, dass es dafür gesorgt hat, dass meine Albträume verschwunden sind. Und ich denke, viele Leute verstehen nichts von der Vergebung. Sie denken, es hätte etwas mit einer Entschuldigung der Taten der Täter zu tun. Es hat nichts mit den Verbrechern an sich zu tun. Ich dachte dabei nicht an Mengele.

Ich habe Münch auch vergeben, weil ich ihn auch mochte, und ich kleines Versuchskaninchen aus den Experimenten in Auschwitz habe gemerkt, dass ich die Kraft hatte, diesen Menschen zu vergeben. Ich hatte die Kraft, Münch, Mengele, Hitler zu vergeben, allen, die mir etwas angetan hatten, allen, die mich verletzt haben, hatte ich die Kraft zu vergeben.

Ich habe nicht darauf gewartet, dass sie sich entschuldigen bei mir. Denn wenn ich das tun würde, dann würde ich ja den Tätern Macht über mich geben oder Macht über mein Leben geben, und das werde ich niemals freiwillig tun. Und das Verzeihen, das Vergeben gibt einem Kraft, es heilt einen, befreit einen, und ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass es das gebrochene Leben wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen hilft.

Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur ist zu Gast Eva Mozes Kor, die Auschwitz und den SS-Arzt Josef Mengele überlebt hat. Frau Mozes Kor, in einer Rede 2001 in Berlin haben Sie gesagt, ich fühlte mich wie ein Tier in einem Käfig, wenn Ihnen in Auschwitz Keime und Chemikalien injiziert worden waren und danach viel Blut abgenommen worden war. Woher nehmen Sie die Kraft für ein solches Verzeihen, und wie lange hat das gedauert, bis Sie innerlich dazu bereit waren?

Mozes Kor: Ich habe keine Ahnung, wo genau die Kraft herkam, außer dass ich entdeckt hatte, als ich mich bei dem Arzt Münch bedanken wollte für die Dokumentation der Funktion der Gaskammern, die er für mich angefertigt hatte - ich wollte ihm etwas geben, und ich habe lange überlegt, was das sein könnte. Ich habe viele Ideen mir durch den Kopf gehen lassen, bis ich zu dem Schluss gekommen bin, dass ich ihm einen Brief des Vergebens, der Verzeihung schreiben möchte.

Und das war für ihn bestimmt ein bedeutendes Geschenk. Aber ich bemerkte vor allem, dass es für mich wichtig war, da ich gemerkt habe, ich habe die Kraft zu vergeben. Und ich mochte diese Tatsache, mir hat das gefallen, dass ich das kann. Ich habe dann später auch in Berlin gemerkt, dass ich mir noch nicht so ganz klar darüber war, wie es genau immer funktionieren würde. Aber es war eine Idee, die mir gefiel, und wie auch der Hass kann das Vergeben gelernt werden. Man kann es ausbauen, man kann es kultivieren, und jeder Mensch hat in sich die Kraft, anderen zu verzeihen.

Keiner kann einem diese Kraft geben und keiner kann sie einem aber auch wegnehmen. Man hat sie in sich. Sie ist unsere und wir können sie nutzen, so wie wir wollen. Die Meisten wissen nicht, wie man das anstellen soll, aber man muss dafür nicht religiös sein, man kann auch als Atheist auf diesen Weg finden, man kann einfach feststellen, man hat das menschliche Recht, ohne den Schmerz zu leben, den einem andere angetan haben. Und das versuchen wir jetzt, der Welt zu sagen, wir versuchen den Opfern zu sagen, durch das Vergeben erhaltet ihr die Möglichkeit, euch selbst zu heilen. So erreicht ihr die Möglichkeit, Frieden zu erhalten, statt Rache zu üben.

Pokatzky: Wie haben denn andere Auschwitz-Überlebende auf diesen Akt des Verzeihens, des Vergebens, der ja ganz öffentlich und offiziell damals, 50 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, stattgefunden hat, wie haben die anderen Auschwitz-Überlebenden darauf reagiert?

Mozes Kor: Die haben sehr wütend reagiert und sie weigern sich bis heute, mir die Tür zu öffnen, überhaupt mit mir zu sprechen. Ihrer Meinung nach habe ich das jüdische Volk betrogen. Ich weiß nicht, wie sie zu diesem Schluss gekommen sind, aber wenn ich mit Rabbis spreche, so denke ich doch, dass sie auch merken müssten, dass schon in der Religion das Vergeben tief verankert ist, dass an Jom Kippur Gott unsere Sünden vergibt, und wir sollten auch die Sünden unserer Mitmenschen vergeben.

Was vielleicht in den religiösen Texten fehlt, ist, dass da steht, dass wir eigentlich nicht auf Jom Kippur warten müssen oder auf Gott warten müssen, bis die Sünden vergeben werden, sondern dass es in unserer Macht ist, dass wir es selbst in der Hand haben, zu vergeben und den Schmerz zu lindern und damit auch der Welt zu helfen.

Die Überlebenden sagten auch zu mir, dass man alles vergeben könne außer den Verbrechen der Nazis. Und ich dachte, nur weil das das größte, das schlimmste Verbrechen aller Zeiten war bisher, als aller Schmerz zuvor, heißt das auch, das ich als Überlebende jetzt für immer Opfer zu bleiben habe? Wer sagt denn, dass ich nicht das Recht habe, mich aus dieser Rolle zu befreien? Wer sagt, wie groß ein Verbrechen sein muss oder sein darf, damit es vergeben werden kann? Ich denke, diese Entscheidung sollte bei mir liegen, oder bei jedem Einzelnen.

Pokatzky: Gibt es überhaupt noch bestimmte Ereignisse, auch im Alltag, oder Schlüsselworte, oder gibt es vielleicht einen Geruch, und sobald Sie das sehen, hören oder riechen, dann erscheint das alles wieder, was Sie in Auschwitz erlitten haben, vor Ihren Augen?

Mozes Kor: Nichts ist mehr unerträglich, es gibt aber noch eine einzige Schwierigkeit, mit der ich leben muss: Ich muss immer noch heftig weinen und bin kurz vor dem Zusammenbruch, wenn ich Dinge sehe, die mich daran erinnern, wie ich von meiner Mutter getrennt wurde oder wenn ich darüber sprechen muss, wie ich von meiner Mutter getrennt wurde.

Aber ansonsten kann ich von morgens bis abends reden und leben, es ist in Ordnung. Ich habe keine Albträume mehr. Aber eine andere Schwierigkeit, die ich auch immer noch habe, ist es, wenn ich darüber sprechen muss, dass sie in Israel nicht mit der Beerdigung meiner Schwester gewartet haben, bis ich gekommen bin, weil das für mich bedeutet hat, dass ich kein einziges Familienmitglied habe begraben können.

Pokatzky: Thank you so much, Eva Mozes Kor. Ihr Buch "Ich habe den Todesengel überlebt" ist im Verlag CBJ erschienen, für Leser ab 12 Jahren empfohlen, es hat 224 Seiten, und übersetzt wurde es von Barbara Küper.

Für uns jetzt hat Mara Ermia übersetzt. Und Sie, die Sie heute in Terre Haute im US-Bundesstaat Indiana leben, haben dort einen Verein gegründet und ein Museum für die Überlebenden der Nazi-Menschenversuche, und das kann jeder im Internet besuchen unter www.candlesholocaustmuseum.org.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema