"Ich hab nicht in Auschwitz überlebt, um zu schweigen"

Von Matthias Bertsch · 23.11.2012
Heinz Galinski überlebte Deportation und Konzentrationslager. Anstatt das Land der Mörder seiner Familie zu verlassen, kehrte er nach Berlin zurück und baute die jüdische Gemeinde wieder auf. Am 28. November wäre ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden 100 Jahre alt geworden.
"Der Tod hat Heinz Galinskis Stimme gebrochen. Die unüberhörbare, unbequeme Stimme eines Überlebenden aus Auschwitz gegen das Vergessen der Naziverbrechen, gegen Diskriminierung, Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit."

In ihrer Rede auf der Trauerfeier für Heinz Galinski im Juli 1992 ließ die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth keinen Zweifel daran, dass mit dem Tod des 79-Jährigen eine Ära zu Ende ging. 43 Jahre lang war er mehr als die Bezeichnung "Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin" erahnen lässt: Die Gemeinde war sein Leben.

"Heinz Galinski hat keinen anderen weiteren Beruf ausgeübt, also seine ganze Zeit konnte er der jüdischen Gemeinde widmen, das ist ein großes Plus, er hat die Interessen würd ich sagen fast rund um die Uhr im Kopf gehabt und sie brillant, auch nach außen, vertreten."

Die Ehrenvorsitzende des jüdischen Sportvereins Makkabi, Inge Borck, hat Heinz Galinski kurz nach Kriegsende in Berlin kennengelernt – mit seinen Sonnen- und Schattenseiten.

"Er war diktatorisch, vielleicht war das auch gar nicht so falsch und nötig, es hat ihm auch keiner übel genommen, und er hat zumindest mit dieser diktatorischen Art unsere Belange sehr schnell durchgesetzt."

Auch Inge Marcus kann sich gut an Heinz Galinski erinnern. Die Gemeindeälteste der jüdischen Gemeinde war viele Jahre mit Heinz Galinski und seiner Frau Ruth befreundet und hat ihn oft im Gemeindehaus in der Fasanenstraße getroffen.

"Er hat manchmal im Haus rumgebrüllt in der Fasanenstraße, wenn etwas nicht in Ordnung war. Er hat sich ja um alles gekümmert: Wir haben immer gesagt: Er kümmert sich, ob Klopapier in der Toilette ist, er hat das Licht ausgemacht, wenn es irgendwo brannte, wo es nicht nötig war, also er war Preuße durch und durch, ja."

Doch alle Ordnung innerhalb der jüdischen Gemeinde wäre sinnlos gewesen, hätte Galinski nicht vor allem um eines gekämpft: um die Erinnerung an die Untaten der Nationalsozialisten, auch wenn viele Deutsche genau das nicht wollten, wie er 1955 in einer Rede zum Gedenken an die Reichspogromnacht betonte:

"Mit größter Besorgnis müssen wir feststellen, dass es nicht wenige Anzeichen gibt, dass weite Kreise in Deutschland einem Kult absichtlichen Vergessens und der Verneblung harter unangenehmer Tatsachen huldigen."

Die Tatsache, an die er dabei vor allem dachte, war der Mord an den europäischen Juden, den er – im Unterschied zu seinen Eltern und seiner ersten Frau – nur durch Glück überlebt hat. Dass in der Shoa sechs Millionen Juden vernichtet wurden, stand für ihn dabei nie im Vordergrund, machte er noch wenige Monate vor seinem Tod deutlich - bei der Eröffnung der Mahn- und Gedenkstätte "Haus der Wannseekonferenz".
"Wären dieser barbarischen Maschinerie nur drei Millionen Menschenleben, nur eine Million oder auch nur 5.000 zum Opfer gefallen, so würde es an ihrer monströsen Beschaffenheit und an der Verantwortung derjeniger, die sie zugelassen oder gar entworfen haben, nichts verändern. Für die Nachgeborenen bleibt das größte Verhängnis, dass sich die deutsche Nation aus eigener Kraft dem Nationalsozialistischen Regime und seinen Verbrechen kaum widersetzt hatte."

Ein Verhängnis, von dem viele der Nachgeborenen längst nichts mehr wissen wollten – vor allem seit mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten die Nachkriegsgeschichte zu einen Ende gekommen schien. Bei aller Freude über den Fall der Mauer machte Heinz Galinski aus seiner Skepsis gegenüber der Wiedervereinigung deswegen auch keinen Hehl.

"Mir war klar, dass ein verstärkter Antisemitismus, ein verstärkter Nationalismus, Ausländerfeindlichkeit um sich greifen würde, aber ich habe nicht daran geglaubt, dass es in solchem Ausmaße geschehen würde."

Eine Entwicklung, die sich nach seinem Tod noch verstärkt hat, sagt seine Frau Ruth:

"Er hatte sehr recht, das seh ich immer mehr jetzt, wenn ich den Antisemitismus überall sehe, der sehr gestiegen ist, aber der war ja schon immer auch da, mehr oder weniger."

Neben dem traditionellen Antisemitismus von rechts sah Galinski dabei auch einen Antisemitismus, der eher auf der politischen Linken angesiedelt war: den Antizionismus. Als die Vollversammlung der Vereinten Nationen im Herbst 1975 eine Resolution verabschiedete, die den Zionismus als Rassismus brandmarkte, organisierte die Jüdische Gemeinde eine Protestkundgebung:

"In dieser ungeheuerlichen Verunglimpfung der zionistischen Bewegung, des Staates Israels, der die einzige Demokratie im Nahen Osten darstellt, und der gesamten jüdischen Gemeinschaft sehen wir den Versuch einer nachträglichen Rechtfertigung der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen sowie eine Schmähung des Andenkens derer, die dem nationalsozialistischen Völkermord zum Opfer fielen."
Als im Dezember 1987 in den Palästinensergebieten die erste Intifada ausbrach und sich Israel wegen seiner Vergeltungsmaßnahmen in den Medien zunehmender Kritik ausgesetzt sah, ergriff Heinz Galinski ebenfalls das Wort.

"Wahre Freunde, die heute zur Mäßigung aufrufen und zur Besonnenheit, die sind gefragt, aber nicht hier Politiker, die sogar ein gewisses Gefühl der Schadenfreude empfinden, dass es heute solche Vorfälle gibt, und die auch wieder versuchen aufzurechnen mit der schrecklichen Vergangenheit."

Nach seinem Tod wurde Heinz Galinski auf dem Jüdischen Friedhof Heerstraße in Berlin-Charlottenburg beigesetzt, auf sein Grab wurden bereits mehrfach Sprengstoffanschläge verübt. Sein Kampf gegen das Vergessen hatte ihm schon zu Lebzeiten nicht nur Freunde gemacht, betont Ruth Galinski.

"Von vielen wurde er gehasst, denn man hat ihm ja auch ne Bombe geschickt, ne Briefbombe und so weiter aber er hat immer die Wahrheit gesagt, er hat immer gesagt, das ist ja ein berühmtes Wort: Ich hab nicht in Auschwitz überlebt, um zu schweigen, und das war sein Leben."
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