"Ich glaube schon, dass wir diesen Preis verdienen"

Moderation: Nana Brink · 10.12.2012
Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union warnt der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, den Frieden als selbstverständlich zu nehmen. "Die Dämonen, die wir gebannt haben", seien noch lebendig.
Nana Brink: Die Nachricht des norwegischen Nobelpreiskomitees vor zwei Monaten hat viele überrascht. Der Friedensnobelpreis 2012 geht an die Europäische Union, gerade zum Zeitpunkt ihrer vielleicht größten Krise. Die Begründung allerdings liegt in der Vergangenheit: Die Staatengemeinschaft hätte in den letzten sechs Jahrzehnten zur friedlichen Entwicklung in Europa beigetragen.

Heute, wie gesagt, wird der Preis verliehen, und einer, der ihn in Empfang nimmt, ist Martin Schulz, und ich begrüße jetzt den Präsidenten des Europäischen Parlaments.

Schönen guten Morgen, Herr Schulz!

Martin Schulz: Einen guten Morgen!

Brink: Sie glauben, so war Ihre Reaktion auf die Verleihung, die EU bekomme den Preis, weil wir die Dämonen des 20. Jahrhunderts gebannt haben. Überschätzen Sie da nicht den Einfluss der EU?

Schulz: Nein, im Gegenteil. Ich glaube, dass eine Betrachtung des 20. Jahrhunderts zeigt, dass dieses Jahrhundert zwei Hälften hatte: den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, die Zwischenkriegszeit, die bei uns die Weimarer Republik war und Auschwitz als den Tiefstpunkt der Zivilisationsgeschichte - das war die erste Hälfte.

Und die Einigung von Staaten und Völkern über Grenzen hinweg in gemeinsamen Institutionen zur Bewältigung der wirtschaftlichen und der demokratischen, der sozialen und der ökologischen Probleme, das war der zweite Teil des 20. Jahrhunderts, und das ist die EU. Also ich glaube schon, dass wir diesen Preis verdienen.

Brink: Jetzt möchte ich noch mal ganz genau auf die Begründung des Komitees kommen. Das Komitee sagt ja, die EU hat den Frieden ja nicht gebracht, sondern hat ihn gepflegt, also gesichert.

Schulz: Das ist so. Der Frieden kommt ja nicht aus Institutionen, sondern er kommt, weil Menschen ihn wollten. Und die Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den Gründungsländern der EU diesen Frieden geschaffen haben, das waren ja Menschen wie de Gaulle oder wie de Gasperi, wie Adenauer, wie Willy Brandt, auch wie Helmut Schmidt oder Giscard d‘Estaing. Denken Sie mal an die Leute, die haben ja teilweise den Ersten und den Zweiten Weltkrieg erlebt.

Das waren ja Leute, die hatten bitterste Erfahrungen in ihrem Leben gemacht. Und dass die ihre Völker davon überzeugen konnten, dass, wenn wir jemals Frieden auf diesem Kontinent haben wollen, dann müssen wir uns zusammenschließen. Für uns Deutsche hat das also übrigens den Vorteil, dass wir erhobenen Hauptes in die demokratische Staatengemeinschaft zurückkehren konnten. Die mussten ihre Völker überzeugen. Es waren die Folgen, die das am Ende gewollt haben und mit getragen haben. Und das ist dann durch die EU gepflegt worden. Insofern fand ich die Begründung des Komitees durchaus gerechtfertigt.

Brink: Aber ein Krieg zum Beispiel zwischen einem Nicht-EU-Mitglied, um mal Ihre Argumentation aufzugreifen, wie Norwegen oder auch Schweden, ist ja heute so unwahrscheinlich wie zwischen Deutschland und Frankreich. Kann die EU deshalb dann einen alleinigen Besitzanspruch auf diesen Frieden reklamieren?

Schulz: Das tut sie ja nicht. Und ich verstehe die Frage auch nicht. Die EU hat nie irgendeinen Monopolanspruch erhoben, aber sie ist ganz ohne Zweifel in ihrer Form der heutigen 27 Staaten die Verwirklichung eines Jahrhunderte alten Traums. Und ich warne vor einem - wenn man anfängt, Frieden und Stabilität als selbstverständlich hinzunehmen, wenn man glaubt, der Rassismus und der Hass sei auf ewig gebannt, dann empfehle ich Ihnen, mal nach Ungarn zu schauen, wo vor wenigen Tagen nicht irgendein Durchgeknallter, sondern ein Mitglied des ungarischen Parlaments gefordert hat, man müsse jüdische Regierungs- und Parlamentsmitglieder wieder registrieren wegen der weltweiten Verbindungen, die die hätten.

Die Dämonen, die wir gebannt haben, wie ich das ausgedrückt habe, die sind noch lebendig. Wir haben die Institutionen und Strukturen in Europa durch die EU verändert. Was wir nicht verändert haben, sind die Menschen. Wenn Sie die Strukturen zerschlagen, dann haben Sie die Dämonen bald wieder am Tisch sitzen, deshalb: Ich glaube schon, die EU erhebt keinen Monopolanspruch, aber sie kann für sich schon reklamieren, ein friedens- und sozialpolitisches Erfolgsprojekt zu sein.

Brink: Aber dann bleiben wir doch mal genau bei diesem Beispiel Ungarn und den Dämonen, die Sie dort wieder sehen. Was kann denn so ein Preis dann nützen, zum Beispiel, um diese Dämonen, die Sie dort sehen, zu bannen, in der Zukunft?

Schulz: Der Preis ist eine Ermahnung. Er ist eine Warnung. Ich habe gestern, und das werde ich auch heute wiederholen, was ich gestern gesagt habe - ich habe erinnert, wenn wir auf die EU und auf die Begründungen dieser Entscheidung genau schauen, fühlte ich mich erinnert an einen anderen Nobelpreisträger, für Literatur, Thomas Mann, der seine "Buddenbrooks"-Beschreibung aus der Familiensaga seines Romans, beschrieben hat mit drei Generationen: der Gründergeneration, der Generation der Verwalter und der Generation, die das Erbe verspielt hat. Und ich möchte nicht zu der Generation gehören, die das Erbe verspielt hat.

Und deshalb, in der konkreten Beantwortung Ihrer Frage: Dieser Preis wird nicht von heute auf morgen in Ungarn was verändern, auch nicht in Deutschland. Aber er ist eine Ermahnung an die handelnden Politiker, die friedensbildende Kraft von Staaten und Völkern, die über Grenzen hinweg in gemeinsamen Institutionen zusammenarbeiten, diese friedensstiftende Kraft nicht aufs Spiel zu setzen.

Brink: Dann bleiben wir doch wirklich beim Thema, denn Frieden bedeutet ja immer auch, und das ist ein sehr großes Anliegen unter anderem von Ihnen, sozialer Frieden. Ist der vielleicht zum ersten Mal in Europa, in vielen Ländern angesichts der hohen Verschuldung und auch der rigiden Sparpolitik nicht in Gefahr?

Schulz: Er ist in vielen Ländern der Europäischen Union nicht in Gefahr, sondern nicht mehr existent. Und das ist eines der großen Probleme. Und deshalb verstehe ich auch viele Leute, die kritische Fragen an die Europäische Union richten. Ich warne eh davor seit ewigen Zeiten, dass man die Leute, die Kritik an der EU üben, nicht abstempeln darf, in die Ecke Euro-Kritiker oder Euro-Skeptiker.

Wer die Europäische Union in ihrem heutigen Zustand kritisiert, hat in vielen Punkten recht. Die EU ist nicht in einem guten Zustand und deshalb müssen wir sie auch reformieren. Es kann ja nicht sein, dass große Banken, große Versicherungsgesellschaften, spekulative Fonds Milliardenbeträge versenken und verspekulieren, anschließend staatliche Haushalte diese Banken retten müssen, und die gleichen Banken und die gleichen Ratingagenturen, die die Bankprodukte positiv bewertet haben, gehen anschließend hin und sagen, diese Staaten haben zu viele Schulden, die zahlen jetzt mal ein bisschen mehr Zinsen.

Brink: "Das ist ein Preis für die Bürger Europas". Das haben Sie im Oktober bei der Verkündung getwittert. Was fühlen Sie, wenn Sie heute den Preis als einer von drei - daneben ja noch Kommissionspräsident Barroso und Ratschef van Rompuy -, wenn Sie ihn heute mit diesen beiden in Empfang nehmen?

Schulz: Stolz. Ich bin stolz darauf, dass ich - auch als Deutscher, nach all dem, was unser Land auf diesem Kontinent angerichtet hat, aber was unser Land auch in den letzten 60 Jahren für Europa getan hat, bin ich stolz, dass ich heute als ein Vertreter meiner Generation - ich bin Abgeordneter Deutschlands im Europaparlament -, aber eben auch als Vertreter der Abgeordneten der europäischen Völker, der ich ja bin als Präsident, - diesen Preis entgegennehmen darf.

Das ist institutionell eine hohe Ehre, und für mich persönlich, als Mensch, ist es sicher ein Stück Krönung auch in meiner politischen Laufbahn.

Brink: Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments. Herzlichen Dank, Herr Schulz, für das Gespräch!

Schulz: Danke Ihnen!


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Der Schriftsteller Thomas Mann, aufgenommen in Los Angeles, USA, am 30. Okt. 1942.
Der Schriftsteller Thomas Mann, aufgenommen in Los Angeles, USA, am 30. Okt. 1942.© AP
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