"Ich gehe davon aus, dass das hier wirklich ein Einzelfall ist"

Kurt Reinicke im Gespräch mit Joachim Scholl · 19.05.2010
Nach der Ölpest am Golf von Mexiko gibt es Vorwürfe an den BP-Konzern wegen technischer Schlampereien. Nach der Fertigstellung der Bohrung an einer Plattform habe man eine sogenannte Messung zur Feststellung der Qualität des Zementes nicht durchgeführt, sagte Kurt Reinicke vom Institut für Erdöl- und Erdgas-Technik an der Technischen Universität Clausthal.
Joachim Scholl: Mindestens 800.000 Liter täglich, und das seit vier Wochen - das Leck der versunkenen Ölplattform "Deepwater Horizon" im Golf von Mexiko ist einfach nicht zu stopfen. Immerhin ist es jetzt gelungen, zumindest einen Teil des Öls aufzufangen. Jetzt gibt es schwere Vorwürfe an den Konzern BP wegen technischer Schlampereien schon bei der Installation der Plattform.

Ich bin jetzt verbunden mit Kurt Reinicke vom Institut für Erdöl- und Erdgastechnik an der Technischen Universität Clausthal. Guten Tag, Herr Professor Reinicke!

Kurt Reinicke: Guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: Seit vier Wochen läuft das Öl ins Meer, täglich eine Kapazität von 30 Tanklastern, um sich das mal vorzustellen. Wie lange sprudelt eigentlich so eine Quelle?

Reinicke: Das kommt darauf an, ob man etwas unternimmt gegen diesen Ausbruch beziehungsweise nicht. Wenn man jetzt darauf warten würde, dass diese Quelle von alleine versiegt, dann reden wir dort über Jahre.

In diesem Fall handelt es sich eben nicht um den üblichen Ausbruch, sondern es handelt sich um den Ausbruch aus einem mehr oder weniger fertiggestellten Bohrung, die Bohrung ist also gegen Verbruch gesichert, sie kann nicht mehr einstürzen, sind nämlich Rohre drin, diese Rohe sind zementiert. Der übliche Ausbruch, der ereignet sich während der Bohrphase, sodass das Bohrloch dann mehr oder weniger von alleine versandet und sich selber verfüllt. Aber in diesem Fall ist es so: Das ist eine offene Bohrung, das kann lange dauern.

Scholl: 530 Schiffe sollen im Einsatz sein, Hunderte von Experten, eine riesige Glocke wurde geschmiedet, um sie über dem Leck abzusenken. Das sah spektakulär aus. Warum hat das eigentlich nicht geklappt? Der Aufwand war ja gewaltig.

Reinicke: Es hat nicht geklappt, weil sich unter dieser Glocke Gashydrate gebildet haben. Gashydrate sind bekannt aus den Medien als dieses brennende Eis, als das es dann immer wieder gezeigt wird. Gashydrate bilden sich, wenn Gas mit Wasser reagiert und der Druck und die Temperatur stimmen. Bei Atmosphärendruck werden sich keine Gashydrate bilden - bei Temperaturen bis zum Gefrierpunkt runter, bei einem Druck von 150 Bar, und um einen solchen Druck geht es hier. In 1500 Metern Tiefe muss man damit rechnen, dass sich Gashydrate bilden, wenn man 20, 25 Grad unterschreitet.

Scholl: Das hat man aber vorher nicht wissen können?

Reinicke: Ich meine, sagen wir mal so: Das, was man vorher nicht gewusst hat: dass bereits bei einem Druck von 150 Bar sich Gas aus dem Öl entlöst. Das war zumindest für mich eine Überraschung.

Scholl: Sie, Herr Reinicke, haben 30 Jahre lang für Erdölkonzerne gearbeitet. Wie beurteilen Sie denn als Fachmann die technische Arbeit der Kollegen von BP?

Reinicke: Das ist aus der Ferne schlecht zu beurteilen, aber ich meine, sagen wir mal, das, was man hört, lässt schon vermuten, dass die Standards doch etwas unterschiedlich sind. Man hat ganz offensichtlich nach Fertigstellung der Bohrung eine sogenannte Messung zur Feststellung der Qualität des Zementes, die hier üblicherweise in Deutschland durchgeführt wird, die hat man nicht durchgeführt.

Man hat dort sich auf Druckteste verlassen, man hat trotz negativen Ergebnisses zumindest eines dieser Druckteste weitergemacht, wahrscheinlich in der Hoffnung: Wenn irgendwas passiert, wir haben noch die (…). Also, es gibt eine ganze Reihe von Anzeichen, die darauf hindeuten, dass hier Dinge passiert sind, die eigentlich hätten nicht passieren brauchen und die nicht hätten passieren dürfen.

Scholl: Ein ehemaliger Techniker von BP hat dem Konzern schwere Vorwürfe gemacht. So seien schon bei der Installation der Plattform erhebliche Schlampereien vorgekommen, also zerfetzte Dichtungsringe seien nach oben gespült worden und trotzdem hieß es, mach weiter. Ich meine, wenn man das hört, könnte einem Angst und Bange werden um die Sicherheit der zig Plattformen, die auf den Weltmeeren im Einsatz sind, oder nicht?

Reinicke: Ich meine, sagen wir mal, ich gehe davon aus, dass das hier wirklich ein Einzelfall ist und dass zumindest jetzt durch diesen Unfall – so schlimm er natürlich ist für die Umwelt dort unten –, dass dort erhebliche Lehren gezogen werden. Und wenn man die Presse aufmerksam verfolgt beziehungsweise das verfolgt, was sich jetzt da drüben im amerikanischen Kongress abspielt, ist man ja auch dabei jetzt, die entsprechenden Lehren zu ziehen, und das, was man früher mehr oder weniger als freiwillige Leistung von den Unternehmen erwartet hat, das dann jetzt auch per Gesetz dann oder per Verordnung dann auch einzufordern.

Scholl: Die Ölpest im Golf von Mexiko – wir sind im Gespräch mit Kurt Reinicke vom Institut für Erdöl- und Erdgastechnik in Clausthal. Es heißt nun, Herr Reinicke, man wolle die Quelle mit Bohrschlamm zuschütten, um die Ventile der Rohre mit Reifenresten und Golfbällen zu verschließen. Da staunt erst mal der Laie: Golfbälle? Das hört sich eher nach einer Idee des Vorstandsvorsitzenden von BP an, der gerade mal Golf spielt und sagte, wäre doch ganz nett - oder ist das richtig realistisch?

Reinicke: Also, sagen wir mal so: Diese Art der Verfüllung hat man ganz offensichtlich sehr erfolgreich vorgenommen damals nach dem Kuwait-Krieg. Der Irak hatte ja beim Rückzug aus Kuwait dort ganze Ölfelder gesprengt und dann diese Ölbohrungen dann eben auch geöffnet, und wir hatten dort an Land ähnliche Situationen wie das, was sich jetzt im Golf in 1500 Metern Wassertiefe abspielt. Und ich meine, dort hat man das ganz offensichtlich eingesetzt und wie wir ja alle wissen auch mit sehr viel Erfolg, denn man hat relativ schnell den größten Teil dieses ausströmenden Öls unter Kontrolle bringen können.

Scholl: Jetzt fängt man zumindest einen Teil des Öls auf. Was macht man eigentlich mit dieser Masse Altöl?

Reinicke: Ich meine, die wird ganz normal aufgefangen. Sie wird in die Raffinerie transportiert und wird dort raffiniert, genauso wie das mit jedem anderen Öl auch der Fall ist.

Scholl: Mal grundsätzlich, Herr Reinicke, angesichts der Auswirkungen eines solchen Unfalls: Ist das Risiko, in solcher Tiefe nach Öl zu bohren, nicht einfach zu groß, wenn der menschliche Faktor doch so desaströs wirken kann?

Reinicke: Ich sage mal, davon bin ich richtig überzeugt. Ich glaube, die Technik ist entwickelt, um in Tiefen von 1500 bis 2000 Metern nach Öl und Gas zu explorieren und dieses Öl und Gas auch zu fördern. Was eben sichergestellt werden muss, das ist, dass der Mensch dort möglichst nicht so eingreifen kann in die ganzen Abläufe, wie das hier geschehen ist, und da muss man jetzt einfach die richtigen Lehren ziehen.

Scholl: In den USA spricht man bereits von einem Tschernobyl der Ölindustrie. Ich meine, das Vertrauen in diese Technik ist doch ziemlich hin, oder?

Reinicke: Ich meine, sagen wir mal so, wir haben ja vorhin darüber gesprochen, dass es doch ganz offensichtlich hier nicht so sehr an der Technik gelegen hat, sondern dass es hier daran gelegen hat, dass man dort zu Fehlbeurteilungen gekommen ist und Entscheidungen getroffen hat, die man eigentlich nicht hätte treffen können. Zumindest das, was sich jetzt darstellt, das deutet darauf hin – also, (…) Testvorlagen, auf deren Basis man nicht hätte weitermachen dürfen.

Scholl: Das heißt, dass es technische Konsequenzen für die zukünftige Tiefseebohrung gar nicht haben wird?

Reinicke: Ich meine, das wird sicherlich auch technische Konsequenzen haben. Man wird dort sicherlich das eine oder das andere auch an der Technik nachbessern und wird versuchen, dann vielleicht noch ein zusätzliches System zu stricken, mit dem solche Ausbrüche verhindert werden können.

Aber ich meine, das, was meiner Ansicht nach viel wichtiger ist: dass hier organisatorisch etwas getan wird, um eben per Verordnung sicherzustellen, dass eine Bohrung erst dann verlassen wird, wenn der Nachweis erbracht worden ist: Sie ist auch sicher. Und dieses war hier einfach nicht der Fall.

Scholl: Lohnen sich Aufwand und Risiko von Tiefseebohrungen, Herr Reinicke?

Reinicke: Wenn sich Aufwand und Risiko oder wenn sich Aufwand und Kosten, sagen wir es erst mal so, nicht lohnen würden, würde man es nicht tun. Man geht also heute in Tiefwasserbereiche, die liegen so oberhalb von 2000 bis 3000 Metern, in Brasilien beziehungsweise auch im Golf von Mexiko wird auf diese (…) bereits exploriert. Ich, wie gesagt, ich bin der Meinung, dass man auch in solchen Tiefen das sicher voranbringen kann, wenn man die Technik richtig einsetzt.

Scholl: Aber man kann ja auch ausrechnen, wann auch diese Ölquellen versiegt sind. Ich meine, die Industrie rechtfertigt jede Bohrung, kein Konzern verdirbt sich das Geschäft. Aber muss man nicht gerade so unter ökologischem Aspekt hier einen Riegel vorschieben?

Reinicke: Ich glaube nicht, dass wir dort auf diese Produktion aus dem Meere verzichten müssen. Ich glaube schon, dass es dort Wege gibt, um dort auch dem ökologischen Aspekt Rechnung zu tragen und in Zukunft zu verhindern, dass so was passiert.

Es müssen jetzt nur eben die richtigen Schlüsse gezogen werden, und ich meine, was mir persönlich, meiner Ansicht nach, besonders wichtig ist, das ist, dass man nicht wartet, bis so ein Unfall passiert, um dann aus diesem Unfall die richtigen Lehren zu ziehen, sondern dass man jetzt so eine Art Indikatorsystem, so ein Frühwarnsystem entwickelt, das rechtzeitig anzeigt, wenn bestimmte Dinge in die falsche Richtung laufen. Und da hat es ja ganz offensichtlich hier im Golf von Mexiko auch eine ganze Reihe von Anzeichen gegeben, die eigentlich hätten die Alarmglocken schrillen lassen müssen.

Scholl: Kann so was auf den Plattformen in der Nordsee nicht passieren?

Reinicke: Es kann ... Ich meine, wir haben ja gesagt, dort, wo der Mensch im Spiel ist, ... so was kann grundsätzlich immer passieren, dass was schiefläuft. Aber sagen wir mal so: In der Nordsee sind die Sicherheitsstandards meiner Ansicht nach ein bisschen höher wie im Golf von Mexiko.

Scholl: Kurt Reinicke vom Institut für Erdöl- und Erdgastechnik an der Technischen Universität Clausthal. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Reinicke!

Reinicke: Herzlichen Dank, Herr Scholl!