"Ich finde, ehrlich gesagt, die Rede von dem Kehlmann ein bisschen peinlich"

Von Arno Orzessek · 31.12.2009
Peter Sloterdijk klagte über ein Leben im steuerstaatlichen Semi-Sozialismus, Michel Friedmann über Henryk M. Broders Wunsch, Vorsitzender des Zentralrats der Juden zu werden. Und Autor Daniel Kehlmann? Der bezeichnete seinen Vater posthum als ein Opfer des postmodernen Regietheaters. Die kulturellen Entgleisungen 2009:
Überflüssig, zynisch in der Sache, unangefochten auf Platz eins im Verzichtbarkeits-Ranking: Henryk M. Broders Pseudo-Kandidatur zum Vorsitzenden des Zentralrats der Juden.

"Ich hab mich ein paar Mal wahnsinnig in letzter Zeit über den Zentralrat geärgert. Und da dachte ich, okay, statt mich ständig zu distanzieren, könnte ich die Firma ein bisschen aufmischen und das vielleicht besser machen."
Broders medialer Extremismus, sämtliche Aufmerksamkeit von den Problemen, welchen auch immer, abzuziehen und gewaltsam auf sich selbst umzulenken, missfiel unter anderen Michel Friedmann, der bis 2003 Mitglied des Zentralrats gewesen war.

"Sollte sich rausstellen, dass das Ganze nichts anderes war als eine narzisstische egomanische Tripgeschichte, um sich in die Öffentlichkeit zu bringen, dann hat er sich in meinen Augen jedenfalls von jeder Ernsthaftigkeit und Seriosität verabschiedet. Dazu ist das Amt zu ernst."

Tatsächlich war Broders Kandidatur-Androhung genau das: eine "narzisstische egomanische Tripgeschichte" - eine Wortwahl übrigens, die im Munde Friedmanns besonders kompetent klang. Wie auch folgende:

"Bei allem Respekt für Henryk M. Broder, der sich gerne selbst hoch- und überschätzt, ein Theodor Herzl ist er nicht und wird er auch nicht werden. Dazu fehlt ihm dann doch die Vision und das Genie."

Auf anderem Niveau, aber oft verquer: die 2009er-Folge in der ewigen Serie namens "Sloterdijk-Debatte". Dieses Mal ging es – in auffälligem Kontrast zur Finanzkrise, zu den Bankenrettungen und der Wiederkehr der Mega-Boni – um die Ausbeutung der Reichen durch die Armen per Steuerbescheid.

"Wir leben in einem steuerstaatlichen Semi-Sozialismus – und niemand ruft zum fiskalischen Bürgerkrieg auf",

klagte der Steuerzahler Peter Sloterdijk in der FAZ. Beifall gab es von Wolfgang Nowak von der Alfred-Herrhausen-Stiftung der Deutschen Bank:

"Irgendwann ist der Staat am Ende. Dann haben wir einen Staat, der nichts mehr leisten kann. Der voll zugeschüttet ist mit Wohltaten, die er versprochen hat und die er auf Kosten der Zukunft ausgibt. Diese unerhörte Aufblähung der Staatlichkeit führt zu einer Aufblähung der Ohnmacht."

Als sich der Philosoph Axel Honneth gegen Sloterdijks Bürgerkriegs-Attitüde wandte, protzte dieser wie ein Porschefahrer mit PS-Zahlen mit den vielen Tausend Seiten seines Werks und dekretierte, dass Honneth ohne deren Lektüre gar nicht mitreden dürfe – basta.

Da wurden im Vexierbild der schweren Jungs des deutschen Geistes halbstarke Raufbrüder erkennbar.

Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke verließ sich lieber auf linke Argumente:

"Das Bild, was Sloterdijk zeichnet, das scheint mir in ganz großem Maße ein Zerrbild zu sein. Wir haben heutzutage Steuersätze, die weit unter der Zeit der Kohl-Ära lagen bei den Gutverdienenden, und das ist zu erheblichem Maße von den Schwachsituierten getragen worden."

Nun kommen Steuertransfers nicht nur gierigen Hartz-IV-lern zugute, sondern auch der Hochschule, die Sloterdijk das Gehalt überweist, und den Straßen, auf denen er als Zeitgeistmedium durch Europa tingelt – aber dieses Mal sollten halt die Armen ihr Fett weg bekommen.

Genauso wie an anderer Stelle die überzähligen türkischen Obsthändler und arabischen Kopftuchmädchen, die sich Tilo Sarrazin in "Lettre International" vorknöpfte. Im kraftvollen Henryk-M.-Broder-Stil stigmatisierte das Vorstandsmitglied der Bundesbank muslimische Migranten zum Problem überhaupt.

Armin Laschet, CDU-Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen, traktierte Sarrazins Einlassungen mit türkenfreundlicher Empörung.

"Ich weiß nicht, woher ein Bundesbanker so exakte Zahlen wie 70 Prozent der einen Volksgruppe als nicht integrierbar und nicht integrationsfähig beschreibt. Er demotiviert Menschen, wie er das mit all seinen Aussagen, jedes Mal, wenn er sich zu gesellschaftspolitischen Fragen äußerst, gemacht hat."

Dass sich die Strategien Sarrazins und Sloterdijks gleichen, dass beide die publizistische Kampfzone gern auf ehemals vermintes Gelände ausweiten, fiel Albrecht von Lucke ins Auge.

"Diese Melange, sich immer gewissermaßen unter dem Verdikt des Tabus zu sehen, der großen Political Correctness, die führt dazu, dass man eigentlich immer die eigenen Aufschläge danach anschließend verharmlost. Und das ist ein Prinzip: Harter Einstieg, anschließend Verharmlosung und zu sagen 'es war doch nicht alles so gemeint'. Und das führt dazu, dass man letztlich immer als Opfer dieser Gesellschaft dasteht."

Als ein Opfer des postmodernen Regietheaters stilisierte der neo-konservative Schriftsteller Daniel Kehlman in der Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele seinen Vater, den im Jahr 2005 verstorbenen Regisseur Michael Kehlmann. Dazu der Berliner Theatermacher Matthias Lilienthal:

"Ich finde, ehrlich gesagt, die Rede von dem Kehlmann ein bisschen peinlich."

Bleibt eines letzten, durchaus komischen Promi-Opfers zu gedenken – Frank Schirrmachers. Der FAZ-Herausgeber fiel 2009 den faszinierenden Attraktionen seines Computers samt dem eingebauten Internet-Anschluss zum Opfer.

"Sie suchen eine Information und stoßen auf 20 andere und sind immer noch nicht satt. Das ist, ich will jetzt nicht sagen Suchtverhalten, aber ein Abhängigkeitsverhalten, das durch diese modernen Maschinen hervorgerufen wird."

Nachdem Schirrmacher durchschaut hatte, dass seine Medienkompetenz zum synapsenschonenden Abschalten nicht ausreicht, schrieb er das Bekenner-Buch Payback und machte seine private PC-Krise zur Krise des planetarischen "Wir".

"Die Frage, die ich mir ja stelle ist, welchen Preis wir dafür bezahlen. Der erste, den wir dafür zahlen, ist wirklich Gedächtnisverlust, Konzentrationsstörungen."

Nein, es gibt kein Zurück ins Analoge: Das begriff Schirrmacher 20 Jahre nach dem Beginn der Diskussion über neue Medien und rief zur Konterrevolution auf.

"Jetzt müssen wir mal Konsequenzen ziehen und erkennen, dass wir bestimmte Dinge diesen Computern überlassen sollten, zum Beispiel bestimmte Faktensachen, und dass wir tatsächlich Ruheräume – auch in den Schulen – wie lernt man denken? – wie kommt man wieder zu sich selber? – wie kann man wieder lesen lernen?"

Schirrmachers humanistische Besorgtheit fand grammatikalisch kein wünschenswertes Ende.

"Gedächtnisverlust, Konzentrationsstörungen"

Dennoch bitten wir den Frankfurter Chef-Apokalyptiker ums letzte Wort.

Herr Schirrmacher, wie wäre es, wenn wir, also Sie, also die Menschheit, statt auf Krieg auf Partnerschaft mit den digitalen Maschinenbrüdern setzten würde? Wäre das nicht schön?

"Dann haben wir eine ideale Gesellschaft in gewisser Weise."

Und wenn's nicht klappt?

"Wenn nicht, werden wir zu Robotern."