"Ich denke, dass uns was ganz Großes fehlt"

Anu Saari im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 30.09.2010
Auch die Finnin Anu Saari saß in der Wendezeit am Runden Tisch zur Erarbeitung einer DDR-Verfassung. "Wie möchten wir eigentlich leben?" - die damals so virulente Frage sei leider nie beantwortet worden, bedauert sie.
Stephan Karkowsky: Der Zentrale Runde Tisch der DDR war gar nicht rund. In Wirklichkeit war es ein Rechteck aus mehreren Tischen. Das Denken konnte trotzdem die Richtung wechseln, es musste dabei nur Haken schlagen. Seit Dezember '89 diskutierten in dieser rechteckigen Runde Vertreter der DDR-Regierung mit den neuen Oppositionsgruppen und Parteien die Frage: Wie geht es nun weiter mit der DDR?

Am Ende lag sogar der Entwurf einer neuen Verfassung auf dem Tisch, allerdings zu spät, denn die erste frei gewählte Volkskammer steuerte kurz darauf auf einen Beitritt zur Bundesrepublik zu. 186 Stimmberechtigte waren am Runden Tisch zugelassen, mehr als jeder Zweite davon war bei der Stasi, behauptet heute noch Peter-Michael Diestel, letzter Innenminister der DDR. Unter all den bürgerbewegten Deutschen saß auch eine Finnin, die Theaterregisseurin Anu Saari. Schönen guten Tag!

Anu Saari: Guten Tag!

Karkowsky: Bevor Sie uns erzählen, wie Sie überhaupt an den Runden Tisch gekommen sind, sagen Sie uns doch zunächst, was Sie in die Hauptstadt der DDR verschlagen hat, 1975 bereits?

Saari: Die Liebe. Also die Liebe zum Theater erst mal, und besonders zum Kindertheater. Weil das war die Zeit, wo man anfing, für Kinder auch andere Stücke zu spielen als nur Weihnachtsmärchen. Und da habe ich ein Künstlerstipendium bekommen, um mich damit zu befassen. Und so bin ich nach Berlin gekommen. Und dann die Liebe zu einem deutschen Mann hat dann mich dazu bewegt, dass ich hier geblieben bin.

Karkowsky: Und haben Sie die DDR als Finnin erlebt als Land der Unterdrückten und Unfreien?

Saari: Man hat vieles erlebt. Als Finnin hatte ich die riesengroße Freiheit, dass ich nicht mal ein Visum gebraucht habe, weil man ein Exempel statuieren wollte und den Finnen die Freiheit gegeben hat, dass die nicht mal Ein- oder Ausreisevisa gebraucht haben. Und dann hat man natürlich auch diese sehr, sehr schöne Zeit miterleben dürfen, wo man sich in keiner Weise verkaufen musste – man konnte das natürlich auch, aber man musste weder seine Liebe verkaufen noch sich selbst, wenn man nicht wollte, weil Frauen auch sehr gut sich selbst ernähren konnten. Und die Wohnungen waren billig und es gab Kindergarten, und das hat man miterlebt. Aber man hat natürlich auch die andere Seite miterlebt, wenn man mit offenen Augen und mit einem Engagement für seine Umwelt hier gelebt hat.

Karkowsky: Und wie haben Sie diese andere Seite erlebt? Sie haben ja im Prinzip sympathisiert mit dem Sozialismus, ist das richtig?

Saari: Ja, mit dem, so wie ich den mir gewünscht habe, sagen wir mal. Aus meiner Sicht heute ist die Welt, in der wir jetzt in der Bundesrepublik Deutschland und wahrscheinlich auch in Finnland leben, sehr ähnlich dem, wie wir in der DDR gelebt haben, nämlich dass diese Welt fertig ist. Es gibt nichts zu ändern. Und diese Art, dass man in einer Welt lebt, wo die, die diese Welt regieren - ob nun wo auch immer, ob in Rathäusern der Städte oder in Regierungen - meinen, es gibt nichts zu ändern. Man muss sich nur anpassen oder vielleicht eventuelle Schönheitsreparaturen an den Häusern werden notwendig sein, aber ansonsten ist alles fertig. Diese Welt ärgert mich.

Es hat mich damals geärgert, als ich in der DDR gelebt habe. Und es ärgert mich heute, weil ich denke, dass uns was ganz Großes fehlt, nämlich darüber nachzudenken, wie möchten wir eigentlich leben. Und das war natürlich das Tolle an der Zeit der Runden Tische und an der Zeit vor 20 Jahren, dass wir plötzlich überall darüber nachgedacht haben.

Und ich hoffe sehr, dass die junge Generation oder wir – es spielt ja keine Rolle, wie alt man ist –, also dass wir mal wieder dazu zurückfinden, dass wir das infrage stellen. Und dass nicht jeder, der die Fragen stellt, ob das denn das einzig Mögliche ist, gleich irgendwie geistig abgelehnt wird. Das wäre schön.

Karkowsky: Sie hören im Deutschlandradio Kultur die finnische Theaterregisseurin Anu Saari, die am Runden Tisch saß, am Zentralen Runden Tisch der DDR, an dem die Regierung – die Noch-Regierung muss man sagen – mit den Oppositionsgruppen diskutiert hat. Seit Dezember '89 lief diese Runde, wie sind Sie an diesen Tisch gekommen?

Saari: Es gab ein paar sehr mutige Frauen, die gleich zu Anfang der Wendezeit in der Volksbühne einfach alle Frauen eingeladen hatten, darüber nachzudenken, wie die Frauen denn über die Lage dieses Staates der DDR denken. Und da haben zum ersten Mal viele ausländische Frauen sich getroffen.

Weil man darf nicht vergessen, es war eine deutsche Wiedervereinigung, aber in dieser deutschen Wiedervereinigung gab es auch ganz viele Leute, die in dieser ehemaligen DDR gelebt hatten, die keine Deutschen waren und die sehr unterschiedliche Ängste hatten, was auf sie zukommt. Also nicht nur, dass wir nicht umsonst mit der U-Bahn und S-Bahn nach der Maueröffnung fahren durften, weil wir keine Deutschen waren. Das galt ja nur für die Deutschen, man vergisst vieles …

Karkowsky: Ich hatte das vergessen.

Saari: … man hat vieles gar nicht miterlebt. Also wenn man nicht ein Nicht-Deutscher war, dass das alles, was da war, nur den Deutschen galt. Und weder den Kindern, deren Eltern aus Irak oder Iran oder aus Vietnam oder aus Russland stammten. Auch nicht denen, die aus Finnland waren.

Aber wir westeuropäischen Frauen hatten natürlich kaum Ängste, und wir wussten ja, wo das hingeht und so. Und da haben wir angefangen. Es war irgendwie wie so eine Solidargemeinschaft, wo wir versucht haben, gegenseitig denen zu helfen, die tatsächlich kurz davor standen, aus dem Land ausgewiesen zu werden. Und in diesem Zusammenhang bin ich in den 'Unabhängigen Frauenverband'. Und da saß ich dann als Vertreter der ausländischen Frauen.

Karkowsky: Während Sie am Runden Tisch noch für mehr Rechte für die Frauen in einer besseren DDR kämpften, stimmte das Volk draußen ja bereits mit den Füßen ab und wanderte aus gen Westen. Und die angestrebte neue DDR-Verfassung, die wurde am Ende gar nicht mehr gebraucht. Waren Sie denn am Ende des Runden Tisches enttäuscht darüber, dass das Volk nicht auf die vielen guten Ideen, die da auf dem Tisch lagen, hören wollte?

Saari: Es war ja nicht nur das Volk, sondern man hat ja gesehen, dass man sich nicht gekannt hat. Also dass die beiden Parteien, die sich geeinigt - oder wiedervereinigt - haben, eigentlich gar nicht wussten, was sich da wiedervereinigt. Also wenn man das aus dem Blick einer, der aus dem Westen kam und die DDR sozusagen gesehen hat, wusste man das schon sehr früh, dass das nicht gehen wird, dass dieses wunderbare DDR-Spielzeug aus Holz, das wir immer bewundert haben und gekauft haben, einfach nicht konkurrenzfähig war, weil das einfach nicht zu dem Preis zu produzieren war, was man auf dem Markt nehmen musste – vielleicht wäre es heute gewesen.

Oder dass man die Tatsache gesehen hat, dass man erst die Kaufhallen, wie die damals hießen, verkauft hatte an Bolle und an Rewe oder so, und dass es klar war, dass da, wenn die sich dann öffnen, nachdem das Geld gewechselt hat, auch keine Produkte mehr aus ihrem Sortiment sein würden. Das hat man ja gewusst.

Aber ich hatte das Gefühl, dass es nicht nur das Volk war, sondern dass das auch diejenigen, die das zusammengeführt haben, nicht so gewusst haben, was da zusammenkommt. Wir Frauen hatten ja andere Vorschläge. Wir hätten ja auch eine Einigung mit Dänemark ganz gut gefunden, wenn das denn möglich gewesen wäre – also haben wir so scherzhaft gesagt.

Oder wie meine vielen Westberliner Freunde, die meinten, wir machen eine neue Mauer, und diesmal um ganz Berlin, also was ja auch spannend als Gedanke gewesen wäre, weil das waren ja inhaltliche Gedanken, die zu diesen Scherzen geführt haben. Und für mich war es auch irgendwie ein Schritt zurück, also nicht nur ein Schritt vorwärts – die Freiheit war ja schon da, die Mauer war ja schon gefallen, war ja schon klar, in welche Richtung das gehen wird. Aber diese vielen Sachen, die in der Bundesrepublik einfach verglichen mit der skandinavischen Lebensweise mich an die Nachkriegszeit in Skandinavien erinnerten, waren auch aus so Frauensicht ein Schritt zurück und nicht nur ein Schritt vorwärts.

Karkowsky: 20 Jahre später nun ist eine ostdeutsche Frau Bundeskanzlerin, da hätte man vor 20 Jahren vielleicht auch noch nicht dran gedacht. Wie geht es Ihnen denn, wenn Sie auf diese Zeit der Wiedervereinigung schauen, diese zurückliegenden 20 Jahre, machen Sie heute noch einen Unterschied zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen?

Saari: Also eigentlich nicht. Ich weiß auch nicht, ob Sie aus dem Osten oder aus dem Westen sind. Wir sitzen hier uns gegenüber. Und da ich schon damals viele Freunde in beiden Teilen Deutschlands hatte und ich die Leute auch damals unterschieden habe nach dem, wie sie über die Welt und über die Kultur denken, und nicht so sehr darüber, wo sie geboren oder in die Schule gegangen sind. Aber es ist schon sehr spannend zu sehen, wie das in der Generation von den Studenten zum Beispiel - so wie ich verstanden habe - immer noch eine große Rolle spielt, weil es sind ja die Eltern, die eine Rolle spielen – ob ich bei einem Medizinstudenten die Praxis übernehmen kann von meinen Eltern oder nicht und wie die Biografien eben der Omas und Opas sind, zu der Generation ich jetzt gehöre.

Karkowsky: Als einzige Finnin saß sie mit am Zentralen Runden Tisch der DDR, die Theaterregisseurin Anu Saari. Ihnen herzlichen Dank für dieses Gespräch!

Saari: Danke schön!
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