"Ich darf da nicht der reiche Onkel aus dem Westen sein"

Reinhard und Anette Erös im Gespräch mit Katrin Heise · 20.12.2010
Das Ehepaar Erös baut seit vielen Jahren Schulen und Krankenhäuser in Afghanistan. Eine gewisse Reputation müssen man dazu haben und die Gesprächsformen der Taliban beherrschen, berichten die beiden. Dann ließe sich einiges erreichen, denn: an Bildungshunger mangele es den Menschen nicht.
Katrin Heise: Fortschrittsbericht nannten sowohl die Bundesregierung als auch die US-Regierung ihren Lagebericht aus Afghanistan. Der Abzug der internationalen Truppen ist festgelegt. Doch ob die bis dahin Afghanistan in Hinsicht auf Lebensqualität, Bildung, Demokratieentwicklung oder Sicherheit etwas Bleibendes hinterlassen können, das ist doch sehr fraglich –trotz 40 bis 50 Milliarden Dollar an Aufbauhilfe. Die Bilanz ist erschütternd.

Auch Guido Westerwelle sprach von Licht und Schatten im Fortschrittsbericht. Noch immer lebt der größte Teil der Afghanen am Existenzminimum, gehen immer weniger Kinder zur Schule. Genau an diesem Punkt, bei Bildung und Errichtung von Schulen in Afghanistan, setzen meine Studiogäste an: Es sind Annette und Reinhard Erös. Sie war Lehrerin, er hatte sich als Truppenarzt bei der Bundeswehr beurlauben lassen, als sie Ende der 80er-Jahre an den Hindukusch gingen, noch zu Zeiten sowjetischer Besatzung. Sie betreiben mit ihrer Kinderhilfe Afghanistan Waisenhäuser, Krankenstationen und Dutzende von Schulen. Annette und Reinhard Erös, ich grüße Sie und freue mich, dass Sie unsere Studiogäste sind!

Annette Erös: Vielen Dank!

Reinhard Erös: Grüß Gott!

Heise: Was ist eigentlich die Voraussetzung zum Gelingen einer Schule in Afghanistan, wenn man sie von außen aufbaut?

R. Erös: Auf der einen Seite wesentlich weniger als in Deutschland. Also das Bürokratische, das Rechtliche, diese ganzen Planvorhaben, wie das bei uns so alles heißt, das haben wir in Afghanistan nicht. Dort läuft es etwa so ab: Wenn ich wieder unten bin, zum Beispiel übernächste Woche, dann warten vermutlich in meinem Büro – so ein kleines Lehmhäuschen als Büro im Osten Afghanistans, nicht in Kabul, in den Südostprovinzen, wo wir tätig sind – vermutlich schon wieder zehn, 15 Maliks, auf Deutsch jetzt Dorfbürgermeister, Dorfälteste, Mullahs, also die Würdenträger, die Stammesältesten, wie auch immer man sie nennen mag, und haben wieder Vorschläge oder Bitten oder Anregungen, was wir da für sie tun, mit ihnen zusammen tun könnten.

Da ist sicher wieder die eine oder andere Schule dabei und dann besprechen wir das: Sind die Grundstücksfragen geklärt unter euch, unter den Bewohnern, sind genügend Bauarbeiter da? Wir bauen die Schulen ja mit den Dorfbewohnern. Das sind keine Baufirmen, so wie sie etwa die Amerikaner oder die UNO, wenn sie in Afghanistan eine Schule bauen, aus dem Ausland dann oft reinführen, wo das Geld dann gar nicht in Afghanistan bleibt, sondern wieder nach Pakistan oder China geht. Wir bauen mit den Dorfbewohnern, auch die Ingenieure, ich nenne die mal so, sind Afghanen, Mitarbeiter von uns.

Und wenn wir uns dann geeinigt haben: Wo, wann wir anfangen können, sind genügend Leute da, und ich weiß, ich hab genügend Geld für den Bau einer solchen Schule, dann ist die letzte Frage – und das ist jetzt dann die wichtigste häufig, insbesondere wenn es um Mädchenschulen geht –, ist meine Frage dann an die Dorfbürgermeister: Haben die Religiösen, also jetzt auf Deutsch, die Taliban, zugestimmt? Und wenn die nicht zugestimmt haben, dann läuft noch nichts. Dann müssen wir so lange warten, bis sie zugestimmt haben. Wenn sie zugestimmt haben, fangen wir am nächsten Tag an. Das heißt, vom Tag der Entscheidung, wir bauen eine Schule – diese Entscheidung dauert vielleicht drei, vier Tage – bis zum Fertigstellen des Schulgebäudes, vergehen nicht länger als sieben, acht Monate.

Heise: Und dann steht das, …

R. Erös: … und dann steht die Schule da …

Heise: … wenn es eben wirklich – und das scheint das Geheimnis zu sein – ein Projekt dieser Dorfgemeinschaft ist, und zwar mit allen, die irgendwie dazugehören, auch die Taliban. Was sagen Sie denn, oder was sagt man denn den Taliban, wenn es darum geht, eine Mädchenschule zu befürworten?

R. Erös: Jetzt müsste ich ausholen. In den 90ern, als die Taliban an der Macht waren, haben wir auch schon in Afghanistan gearbeitet, waren wir auch schon unterwegs. Damals war es sehr schwierig und es bedurfte also wochenlanger Diskussion mit den Häuptlingen der Taliban, also etwa mit dem Sekretär vom Mullah Omar, das war damals mein Ansprechpartner, bis wir den Taliban da so eine Mädchenschule aus den Rippen schneiden konnten. Das war eine mühsame Diskussion, da muss man halt die Sprache können, da muss man die Art des Sprechens, die Gesprächsformen, wie man unter Paschtunen spricht, man muss eine gewisse Reputation dort auch haben, die hatte ich Gott sei Dank aus den 80er-Jahren, Sie haben das angesprochen, also man kannte mich dort, das war dieser Erös, dieser Doktor Erös aus Deutschland, der uns im Dschihad gegen die Russen damals als Arzt zur Seite gestanden ist. Also ich hatte da einen Stein per se schon im Brett, bei den Leuten dort.

Und dann muss man den Leuten in Augenhöhe begegnen. Also ich darf da nicht der reiche Onkel aus dem Westen sein, der da das Füllhorn dann mit Dollars und Euro ausschüttet, also quasi von oben nach unten das Geld fließt. Das Geld bleibt in einer Höhe. Und wenn man dann ihnen auch noch sagt, das ist nichts Geheimes, also das ist eure Schule dann auch mit, also das ist keine deutsche Schule, das ist auch keine Schule von, damals etwa Helmut Kohl oder jetzt vom Westen der Bush später, wie es die Amerikaner machen, wo dann dick Schwarz-Rot-Gold oder bei den Amerikanern halt die Stars and Stripes und dann CNN …

Also so was machen wir alles nicht. Und beim Bauen und auch beim Betreiben einer Schule haben Ausländer – jetzt außer mir, und ich bin für die Afghanen nur noch so ein halber Ausländer – keinen Zutritt, schon gar keine ausländischen Soldaten, die dürfen da nicht hin. Das bespreche ich mit den amerikanischen Kommandeuren. Also wir arbeiten ja ausschließlich im Gebiet der Amerikaner, im Osten. Die dürfen da, die gehen da auch nicht hin, und auch keine Diplomaten und auch keine große Presse, also ausländische Presse – einheimische schon!

Heise: Also das heißt, es bleibt alles bei den Einheimischen. Das ist das A und O, dass es bei ihnen bleibt, dass es ihre Schule ist. Aber gerade in Sachen Mädchenschule und Taliban würde ich doch gerne noch mal Näheres wissen, weil von hier aus betrachtet hat man das Gefühl, das geht ja gar nicht, also die Mädchen, die Frauen dürfen eigentlich gar nichts. Frau Erös, Ihre erste Schule, die Sie 98 in Peschawar allerdings eröffnet haben, die erste Friedensschule, das war ja eine Mädchenschule. Wie können Sie da eigentlich auch als Frau agieren?

A. Erös: Ja, dazu muss man einfach wissen, dass Afghanen – und zwar alle – sehr bildungshungrig sind und sehr stolz auf Bildung sind, und die Väter stolz auf ihre Mädchen, auf ihre Töchter sind, wenn die gebildet sind. Je mehr eine afghanische Frau, ein afghanisches Mädchen kann, umso besser kann der Vater, kann die Familie das Mädchen verheiraten. Also das ist auch ein Kapital, was so eine Familie dann hat.

Und man spürt das auch richtig, physisch. Ich bin jetzt Lehrerin, ich unterrichte nicht in Afghanistan, denn die Afghanen können so gut wie alles selber machen, also das ist eine Fehleinschätzung von uns, wenn wir dahingehen und sagen, wir müssen für die Afghanen erst mal alles machen und irgendwann lernen die das – das meiste können die wirklich selber. Aber wenn ich vor einer Schulklasse oder auch vor den Lehrerinnen stehe, vor unseren Kolleginnen dort, und denen erzähle, wie die Schule entstanden ist, wie das Geld hier in Deutschland zusammengesammelt wurde und so weiter, dann kann ich das richtig physisch spüren, wie die mich fast aussaugen, weil die einfach unheimlich wissbegierig sind.

Heise: Dass in der Bevölkerung und gerade unter den Mädchen und Frauen diese Wissbegierde da ist, das würde ich ja auch gar nicht bezweifeln, aber dass es … Ich dachte eigentlich, es würde nicht zugelassen werden, dass sie lernen dürfen?

A. Erös: Ja doch, damit kann man natürlich auch einen gewissen Druck ausüben. Also die Maliks sind ja nicht alles Taliban. Und wenn jetzt da irgendwelche Taliban kämen und sagen, ihr dürft keine Schule haben, ja dann würde die … Die Dorfbevölkerung würde sich das gar nicht gefallen lassen.

Heise: Das heißt, wenn sie die Taliban in diese Gespräche sozusagen mit einbinden – das sind ja eigentlich auch gar nicht Sie, wenn ich Sie recht verstehe, sondern das sind die Dörfer selber –, also das heißt, aber haben Sie nicht manchmal das Gefühl oder die Angst, dass Sie das Talibansystem, was ja im Erstarken ist seit vielen Jahren wieder, dass Sie das eigentlich mit stützen, mit solchen Projekten?

R. Erös: Sehen Sie, Taliban sind … Also man müsste eigentlich mal eine Zwei-Stunden-Sendung machen, was ist ein Talib, was sind Taliban? Da geht es schon los, ich stelle das bei meinen inzwischen Hunderten von Vorträgen fest in Deutschland, auch in anderen Ländern, dass man gar keine richtige Vorstellung hat, was sind Taliban. Man weiß nur, das ist irgend etwas Böses bis hin zum Dämonischen, und alles Übel, was in Afghanistan so abgeht, das ist den Taliban zu schulden. So ist halt nun mal nicht.

Die Taliban sind eine Massenbewegung, das sind alles Paschtunen, also das ist schon mal wichtig zu wissen. Afghanistan und Pakistan hat verschiedene Völker, Pakistan nicht so viele, aber Afghanistan über 20, und da ist es eben die Paschtunengruppe – das sind etwa 50 Millionen auf beiden Seiten, also eine Größenordnung, die schon was sagt. Und man muss also die Paschtunenwelt auch kennen. Wenn man Taliban verstehen will, also ihre religiöse Komponente, muss man auch ihre Stammeskomponente, und die ist viel älter. Der Islam in den Köpfen dieser jungen Buben oder jungen Burschen, der Taliban, ist relativ neu. Es ist ein arabischer Islam. Aber ihr paschtunisches Denken, dieser Paschtunenwali, dieser paschtunische Wertekodex, Ehrenkodex, den gibt es seit dreieinhalb Tausend Jahren, der bestimmt den Sohn – es geht ja nur um Männer bei den Taliban – deutlich mehr als das Religiöse. Das Religiöse ist ein in den Koranschulen erlerntes oder auch implantiertes, sag ich manchmal, arabisches Islamdenken. Diese wahhabitische Islamkomponente ist relativ neu in Pakistan und Afghanistan, vor 30, 40 Jahren gab es das noch gar nicht.

Also die Saudis haben diese Art des Islams in die Koranschulen exportiert, und dort versuchen sie nun in die Köpfe dieser kleinen Buben diese afghanistanfeindliche, also dem afghanischen Islam in vielen Bereichen konträr widersprechende Islamvariante zu implantieren. Also es ist eine sehr hitzige Sache auch innerhalb des Islams dort unten. Und da muss man halt auf den alten Paschtunenwertekodex setzen, und das tun wir. Und da sagen wir, ihr seid doch Paschtunen und also müsst ihr euch doch da einigen, lasst euch doch nicht von dem arabischen Islam da durcheinander bringen! Der alte afghanische Islam, der konventionelle, ist ein liberaler, toleranter, liebenswerter, am Sufi-Islam, also an diesem mystischen, nach innen orientierten, und eben nicht dieser regide, expansive, auch militante, auch extrem frauenfeindliche … Jetzt kommt die Komponente, wissen Sie, es ist bei den Paschtunen nicht ausgeprägt, die Frauen…, das ist arabisch. Und darauf muss man sie sehr hinsteuern.

Heise: Was wird denn, also wo Sie gerade noch mal die Frauenfeindlichkeit ansprechen, was wird eigentlich aus den Mädchen, die die Schulen besucht haben? Haben Sie da so Lebenswege verfolgen können? Welche Chancen haben die?

A. Erös: Das ist natürlich nicht so, dass die dann alle nahtlos, wenn sie ihr Abitur haben, ins Studium gehen. Aber es ist ja schon ein wahnsinniger Gewinn, das können wir uns gar nicht vorstellen, ob ein Mädchen – und das gilt für Jungs genau so –, ob die lesen kann und schreiben kann, oder ob sie es nicht kann. Und man weiß ganz genau – das wissen eigentlich alle Politiker auch, leider wird das viel zu wenig dann wirklich auch praktisch irgendwo umgesetzt –, jedes erzogene Mädchen, jedes Mädchen, was lesen und schreiben kann, wird später eine kleinere Familie haben, weil es schon mal später heiratet, wird die Kinder, auch die Buben ganz anders erziehen. Und das ist so eine langsame Bewegung, die man da in Gang setzen kann, langsamer Fortschritt, aber es ist ein Fortschritt.

Heise: Meine Gäste sind Annette und Reinhard Erös, die mit ihrer Kinderhilfe Afghanistan Schulen und Krankenstationen in Afghanistan aufbauen. Afghanistan gilt als eine der korruptesten Gesellschaften auf der Welt. Würden Sie eigentlich sagen, rechtfertigt eigentlich so das Gute, was Sie tun, Bestechung und Schmiergeldzahlung?

R. Erös: Man muss in Afghanistan unterscheiden: Die politischen Eliten in Afghanistan, also im weitesten Sinne des Wortes, ich zähle auch Militär dazu, Polizei dazu und so weiter, das sind wahrscheinlich die Korruptesten, die es auf diesem Globus gibt. Das haben aber wir veranlasst mit unserem Geld, das wir seit 2002, Sie haben die Zahlen vorhin angesprochen, etwa 40 bis 50 Milliarden – ein Wahnsinn – dort quasi rein, wie mit der Gießkanne. Und das weckt natürlich Begehrlichkeiten, und bekanntlich gehören zur Korruption ja immer zwei. Der eine, der nimmt, und der andere, der gibt. Und gegeben haben am Anfang nur wir, und zwar wahllos, im Wissen auch, dass wir da die Reichen, die Mächtigen noch reicher, noch mächtiger machen, dass die das Geld, das korrupte Geld, das korrupierte Geld, noch nicht mal im eigenen Land einsetzen, sondern es ins Ausland transportieren, in die Emirate, dort noch mehr Geld haben. – Das wussten wir alles.

Jeder Politiker, der damit zu tun hatte, wusste es und hat es trotzdem gemacht. Also wir haben die Korruption dort nicht erfunden, in Afghanistan, aber wir haben sie auf diesem Level der Eliten – und da geht es ja um Milliarden. Bei dem kleinen Dorfbürgermeister, dem korrupten, oder dem kleinen Polizisten im Dorf, da geht es um zwei, drei Euro. Bei den Ministern und Generälen oder Polizeichefs, wie auch immer, in Kabul und den Städten, da geht es immer um mindestens sechs-, siebenstellige Zahlen. Das muss man wissen, das ist eine ganz andere Dimension. Und da ist der Westen zu einem großen Teil selber mit schuld.

Die Afghanen sind aber nicht genetisch korrupt, sag ich mal, sondern sie unterscheiden schon etwa bei uns: Sie wissen von unserer Arbeit her, wie mühsam wir uns in Deutschland die Spendengelder akquirieren. Sie wissen, dass wir keine öffentlichen Gelder haben, also weder Gelder von der Bundesrepublik, noch von der Europäischen Union, noch von der UNO. Also die Gelder, die Erös mitbringt, um da Schulen zu bauen, die Lehre zu bezahlen, Krankenstationen zu bezahlen, die haben die Frau Erös und die haben der Herr Erös, das wissen die dort unten, weil ich sie oft auch mit nach Deutschland nehme – ich nehme ab und zu mal einen Afghanen mit, damit er mich hier begleiten kann –, wie mühsam wir jeden Abend bei Schulklassen, bei katholischen Frauenverbänden Gelder einsammeln. Und da wären die doch Verbrecher, moralische Gangster, wenn sie dann dort unten sagen würden, und davon möchte ich aber mal die Hälfte haben!

Heise: Reinhard und Annette Erös, die sich seit Jahrzehnten mit ihrer Kinderhilfe Afghanistan dort für die Bevölkerung engagieren. Ich danke Ihnen recht herzlich für den Besuch hier und, ja ich wünsche Ihnen weiterhin Kraft und Glück dafür!

R. Erös: Vielen Dank, vielen Dank!

A. Erös: Vielen Dank!

Heise: Wenn Sie mehr wissen möchten über die Arbeit der Familie Erös, kann ich Sie noch auf zwei Bücher hinweisen, von Reinhard Erös geschrieben: "Tee mit dem Teufel", 2002 ist das bei Hoffmann und Campe erschienen, und 2008, das Buch heißt "Unter Taliban, Warlords und Drogenbarone. Eine deutsche Familie kämpft für Afghanistan".
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