"Ich bin so ein bisschen wie so ein Buffet"

Sarah Kuttner im Gespräch mit Andreas Müller · 15.04.2009
"Mängelexemplar" von Sarah Kuttner steht weit oben in der "Spiegel"-Bestsellerliste. "Ich finde nicht, dass es ein Tabubruch ist", sagte Kuttner über ihren Debütroman, in dem es auch um Depressionen geht.
Andreas Müller: Diversion, das ist eine Volkskrankheit, und es ist auch nicht neu, aber erschreckend sind die Zahlen schon. Bis 2020 wird sie weltweit die zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit sein, das schätzt die Weltgesundheitsorganisation. Die Krankheit ist überall, aber man spricht nicht wirklich offen darüber. Trotzdem oder vielleicht genau deshalb verkauft sich der Debütroman "Mängelexemplar" von Sarah Kuttner sehr, sehr gut.

Mittlerweile ist schon die fünfte Auflage "Mängelexemplar" erschienen. Das Buch findet sich in dieser Woche auf Platz 3 in der "Spiegel"-Bestsellerliste. Es geht um Caro, die Heldin, oder besser Patientin. Die ist Ende 20, hat in einem dieser modernen Berufe gearbeitet, in einer Eventmanagement-Agentur, den Job aber ist sie los, ebenso ihren Freund.

Caro verliert den Boden unter den Füßen und sucht schließlich Hilfe beim Psychiater, was zunächst erst recht zu Angst- und Panikattacken führt. Die Geschichte verkauft sich, wie gesagt, sehr, sehr gut. Die Autorin ist jetzt bei mir zu Gast. Schönen guten Tag, Sarah Kuttner!

Sarah Kuttner: Hallo!

Müller: Haben Sie mit einem derartigen Erfolg gerechnet? Ich meine, 100.000 Erstauflage, die wollen erst mal verkauft sein, und jetzt gibt es schon die fünfte Auflage des Romans.

Kuttner: Nee, aber ich glaube, dass niemand wirklich mit Erfolg rechnet, außer Stephen King vielleicht. Nein, habe ich nicht mit gerechnet, freut mich natürlich irrsinnig. Ich laufe immer heimlich durch die Thalia-Buchhandlung und fotografiere die "Spiegel"-Bestsellerliste, weil ich's selber gar nicht glauben kann. Das ist toll, klar.

Müller: Haben Sie da was gespürt oder warum haben Sie sich für dieses Thema entschieden? Weil Sie müssen ja was angesprochen haben mit dem Buch?

Kuttner: Bei anderen Menschen?

Müller: Ja.

Kuttner: Ja, ich bin so ein bisschen wie so ein Buffet, ich lege alles, was ich kann, da drauf, und dann kann sich jeder nehmen, was er will. Insofern mache ich ja keine richtigen Auftragsarbeiten und habe deswegen jetzt nicht was bei anderen gespürt, außer, dass ich dann halt so merkte, dass ich da ein interessantes Thema finde, mich interessiert das, es berührt mich und Freunde von mir. Ich habe damit quasi über zweite Hand Erfahrungen gemacht, und ich wollte einfach mal versuchen, wie das ist, wenn ich's aufschreibe. Mehr wollte ich davon gar nicht.

Müller: Also es gab keinen Businessplan. Man hat das manchmal bei US-amerikanischen Autoren, die gucken genau, was könnte der Markt gebrauchen, und schreiben dann in diese Richtung. Das haben Sie nicht gemacht?

Kuttner: Ach so, nein, um Gottes Willen, der Verlag wusste gar nicht, dass ich schreibe. Die sind immer sehr zauberhaft zurückhaltend mit mir, weil die wissen, dass ich sowieso immer nur kann, wenn ich auch gerade kann, und sonst mich immer alles weigere und so. Deswegen habe ich das auch niemandem erzählt. Ich habe den tatsächlich wie ein Experiment für mich alleine geschrieben, den Roman. Und dann jemandem zu zeigen und fragen: Und, ist das vielleicht gut oder nicht?, und so.

Müller: Diese Heldin, diese Patientin, ist Ende 20, sie ist eine Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre Geborene. Ist sie ein bisschen stellvertretend für eine Generation, ist das vielleicht sogar eine Generation von Patienten, diese knapp 30-Jährigen?

Kuttner: Das möchten Leute gerne immer, dass ich über Generationen spreche, aber ich will nicht über eine Generation sprechen, weil ich kenne die nicht. Ich kenne nur mich und meine Freunde, und ich weiß, dass es Menschen gibt, die sehr viel jünger sind und Depressionen haben, und Menschen, die sehr viel älter sind und Depressionen haben. Ich glaube nicht, dass das ein Problem unserer Zeit ist, ich glaube nur, dass wir mehr auftauen und uns jetzt mehr trauen, darüber zu sprechen. Ich meine, nach dem Krieg oder nach der Wende gab's, glaube ich, genug Anlass für eine Depression, und man hat sich dann einfach nur besoffen oder umgebracht, statt zum Psychiater zu gehen.

Müller: Dennoch, es wird ja häufig dann auch vor allem im Zusammenhang mit Ihrem Buch von einem Tabubruch geredet. Haben Sie das verstehen können?

Kuttner: Ich finde nicht, dass es ein Tabubruch ist. Ich wollte nichts brechen und ich wollte auch keine Lanzen, keine Tabus, keine Lanzen. Ich glaube, es ist gar nicht so doll ein Tabu. Es ist einfach vor allem schwierig, damit umzugehen, wenn sich der Geist so ein bisschen von einem selber entfernt. Das ist für die Leute, die das haben, einfach schwierig, das zu akzeptieren. Das finde ich das viel größere Tabu als das in der Öffentlichkeit. Es ist ja jetzt nicht so enorm peinlich.

Müller: Sie haben eben gesagt, Sie würden es ablehnen zu sagen, das stünde nun für eine Generation, aber es ist ja doch schon so, wenn sich etwas so gut so weit verkauft auch, dass es doch ja von einer Menge Menschen verstanden werden muss oder dass da irgendwas mit denen passiert, das sie dazu ermutigt oder motiviert, dieses Buch zu kaufen. Ist es nicht vielleicht doch so, dass es eine urbane junge Generation gibt, die tatsächlich massenhaft dieses Problem hat?

Kuttner: Aber wir wissen doch gar nicht, wer dieses Buch zum Beispiel kauft. Ich weiß nicht, ob das nur junge Menschen sind. Ob das jetzt eine Generation betrifft, das können die Leute gerne mit sich ausmachen. Ich hab's nicht für eine Generation auf den Markt gebracht.

Müller: "Mängelexemplar" heißt der sehr erfolgreiche Debütroman von Sarah Kuttner. Die Autorin ist zu Gast hier im Deutschlandradio Kultur. Frau Kuttner, es hat einige sehr heftige Kritiken gegeben. In der "Süddeutschen Zeitung" etwa hieß es, man müsse schon seine ganze Coolness zusammennehmen, wenn, Zitat: "… man mit Anglizismen gemästete Sprache sehe, die ihren Enddarm nach außen stülpt". ie deprimierend ist denn eine solche Kritik?
Kuttner: Im Grunde genommen ist nur deprimierend, dass Sie mir die jetzt gerade vorgelesen habe, weil ich damit angefangen habe, mir die Sachen nicht mehr durchzulesen. Die Leute hassen mich zu 50 Prozent mit einer Leidenschaft, die ich so überhaupt nicht kenne. Insofern wird das immer kommen, egal von welcher Seite. Und da muss ich halt durch.

Auf der anderen Seite lesen es ganz viel Leute, so schlecht kann es dann nicht sein. Was mich wirklich trifft, ist, wenn Leute sagen, dass es unrealistisch ist, weil es das einfach nicht ist. Ich habe Mails bekommen von Psychiatern und von Depressiven und von depressiven Psychiatern tatsächlich, die irgendwie gesagt haben, genauso, wie Sie das beschreiben, ist das, vielen Dank. Ob man jetzt die Sprache mag oder nicht, das ist Geschmack. Das muss man ja nicht lesen, das ist ja nicht schlimm.

Müller: Ich finde ja, dass Sie enorm genau beobachtet haben und diese sprachlichen Verformungen, die – wie man manchmal so schön sagt – von den jungen Erwachsenen gebraucht werden, ziemlich beeindruckend umgesetzt haben. Ich vermute, dass Sie auf der sprachlichen Ebene auch das eine oder andere transportieren wollten. Ärgert es Sie ein bisschen, dass eigentlich nur über diesen pathologischen Aspekt Ihres Buches gesprochen und debattiert wird?

Kuttner: Nein, es gibt ja auch Leute, die über die Sprache reden, die die Sprache nervig finden zum Beispiel oder auch toll. Aber es muss einfach gestattet sein für mich, so zu schreiben, weil ich so auch reden würde. Ich hätte natürlich auch sehr viel gediegener und literarischer schreiben können, aber das wollte ich nicht, weil ich das nicht bin. Da muss es auch gestattet sein für mich, Sprache zu erfinden oder Quatsch zu machen mit Sprache. Es muss einfach möglich sein, denn Sprache entwickelt sich weiter. Und wenn ich meine Sprache so weiterentwickeln will, dann darf ich das. Und es gibt Menschen, die mögen das, und die anderen sollen was anderes lesen.

Müller: Es gibt einen Erfolg, den man in Zahlen messen kann, das Buch verkauft sich gut. Im "Spiegel" hieß es in einer Kritik: "Kuttners Verdienst ist es, über Depressionen mit einer solchen Selbstverständlichkeit zu schreiben, dass man nach der Lektüre das Gefühl hat, über diese Krankheit sogar auf der nächsten Party plaudern zu dürfen." Werten Sie das auch als Erfolg, so etwas?

Kuttner: Wenn der das Gefühl hat, danach gut darüber plaudern zu können, dann ist das toll, aber ich konnte auch vorher schon gut darüber plaudern. Man muss irgendwie so ein bisschen lernen, Kritiken, auch die guten, nicht so richtig ernst zu nehmen. Ich freue mich natürlich über schöne Sachen, lese die aber fast genauso wenig wie die schlechten Sachen. Unterm Strich steckt ein Mensch dahinter, der dieses Buch gelesen hat und das stellvertretend für eine ganze Redaktion aufschreiben darf. Wenn ich anfange, den guten Kritiken oder den schlechten Kritiken zu glauben, dann werde ich mich von mir selber komisch entfernen, weil ich denke, ah, ich sollte das vielleicht mehr so machen, weil das finden die Leute gut, und das hier ist augenscheinlich schlecht. Und das funktioniert nicht gut. Ich glaube, ich sollte wirklich mehr auf mich hören. Und das hat die letzten zwei Jahre gut funktioniert, indem ich all das eben nicht mehr gelesen habe.

Müller: Das, was Sie gerade erleben, ist das vielleicht Stoff für einen weiteren Roman?
Kuttner: Diese ganzen Interviews, die ich dann gebe, die hatte ich vorher auch schon zu Fernsehsendungen, die ich gemacht habe. Ich glaube, es liegt daran, dass man mich so gerne doof finden mag und so gerne gut finden mag. Deswegen sind das vielleicht so viele Interviews, die ich gebe. Deswegen ist die Situation so doof, das eben klingt nicht so richtig neu für mich. Und ansonsten kriege ich von dem Rest, von dem Rummel viel weniger mit als alle anderen augenscheinlich. Ich sitze zu Hause und mache meinen Kram. Ich lese nicht die Zeitung, lese nicht, was über mich geschrieben wird. Deswegen fühlt sich's auch weniger an.

Müller: Sarah Kuttner war das. Ihr Roman "Mängelexemplar" gehört zu den derzeit erfolgreichsten Büchern in Deutschland. Vielen Dank!

Kuttner: Dankeschön!