"Ich bin nicht allmächtig, ich bin nicht ohnmächtig, ich bin partiell mächtig"

Von Andrea Westhoff · 27.08.2012
Ruth Cohn, deutsch-amerikanische Psychoanalytikerin, war eine bedeutende Vertreterin der humanistischen Psychologie. Sie wollte aber mehr als nur einzelne Patienten therapieren und entwickelte deshalb ein besonderes Gruppenarbeitskonzept, die "Themenzentrierte Interaktion".
"Es war die Couch mir zu klein, in der Zeit, wo die Nazis regiert haben, und wo mir es eben sinnlos erschien, einen Menschen auf der Couch zu haben, wenn es sich um ganze Bevölkerungen handelt."

Diese zentrale Aussage von Ruth Cohn, hier aus einem Interview von 1980, zeigt, wie stark ihre Arbeit biografisch geprägt war: Die Psychoanalytikerin wurde bekannt als Begründerin einer neuen therapeutisch-pädagogischen Methode der Gruppenarbeit, der "Themenzentrierten Interaktion", kurz TZI.

Als Ruth Charlotte Hirschfeld wird sie am 27. August 1912 in einer wohlhabenden jüdischen Familie in Berlin geboren. Eigentlich sieht sie sich als Lyrikerin. Doch auf Geheiß des Vaters studiert sie zunächst Nationalökonomie, begeistert sich dann aber für die damals noch neue Welt der Psychologie. Gleich 1933 flieht Ruth in die Schweiz, wo sie eine Ausbildung als Psychoanalytikerin macht und zusätzlich Vorlesungen in Medizin und Psychiatrie, Pädagogik, Theologie, Literatur und Philosophie belegt. 1938 heiratet sie ihren Kommilitonen Hans-Helmut Cohn, und mit ihrer 14 Monate alten Tochter emigrieren sie 1941 in die USA.

"Und das ist vielleicht das, was ich als Geschenk mitbekommen habe, dass ich immer, jedenfalls in politischen Dingen, sehr schnell aufgefasst habe, was in der Luft liegt."

Weil sie in Amerika ohne abgeschlossenes Medizinstudium keine Zulassung als Analytikerin bekommt, arbeitet Ruth Cohn zunächst mit Kindern und Jugendlichen, macht dann trotzdem eine eigene Praxis in New York auf und bietet Supervisionsgruppen für Psychotherapeuten an. Sie entfernt sich zunehmend von der klassischen Freud'schen Analyse und befasst sich mit vielen anderen psychologischen Ansätzen und vor allem mit der Humanistischen Psychologie, die den ganzen Menschen, sein subjektives Erleben und seine Beziehungen zu anderen im Blick hat. Daraus entwickelt sie schließlich in den 50er-Jahren die TZI, die auf der Idee des lebenslangen Lernens und der psychischen Entwicklungsmöglichkeit basiert.

"Das Ziel ist sicher, dass jeder eine größere Bewusstheit hat über sich selbst und über die Möglichkeit, mit anderen auszukommen, aber auch eine freiere Art hat, mit dem Leben fertig zu werden. Wenn ich zentriert bin, wie man heute sagen würde, dann ist es auch möglich, dass ich in mir ruhe, intuitiv das tue, was jetzt dran ist."

Nicht "Selbstverwirklichung", sondern die Befreiung des Menschen zum politischen Handeln steht im Mittelpunkt der Themenzentrierten Interaktion. Und aufgrund der Erfahrung mit der Nazizeit konzipiert Ruth Cohn ihre spezielle Gruppenarbeit nicht nur als Methodenlehre, sondern als Wertesystem, legt Grundannahmen, Axiome und Verhaltensregeln fest.

"Die Techniken sind immer untergeordnet der Idee der Humanität. Das gehört zur TZI. Ohne das kann ich Techniken auch manipulativ verwenden, auch destruktiv verwenden."

Ab 1969 hält Ruth Cohn dann mehr und mehr Vorträge in Europa und kehrt 1974 schließlich ganz in die Schweiz zurück. Ihre Gruppenarbeitsmethode wird zunächst vor allem in der Psychologen- oder Lehrerausbildung praktiziert und gelehrt, heute zunehmend auch in der Unternehmensberatung oder in Managerkursen. Die TZI ist damit zweifellos ein wichtiger Baustein ihrer großen Vision:

"Genauso wie die Naturwissenschaften sich auf die Hoffnung zum Beispiel mal gestützt haben, wir wollen fliegen können, und eines Tages wurde der Traum Wirklichkeit. Und ich glaube, dass die Humanwissenschaften heute einen Traum haben, der sich auch verwirklichen lässt: zu einer humaneren Menschheit zu kommen."

Obwohl inzwischen schon fast im Rentenalter, leitet Ruth Cohn noch viele Jahre unzählige TZI-Gruppen selbst. Judith Burkhard, heute Psychologin, Coach und TZI-Ausbilderin für das Ruth-Cohn-Institute-international, hat noch lebhaft in Erinnerung, wie sie 1982 der 70-Jährigen begegnet ist:

"Sie war jetzt nicht so, wie man so vorstellt eine Psychologin, die so einfühlsam ist und immer verstehend, sondern sie war sehr flexibel im Geist, und alles, was sie sagte, war auch für mich als 23-Jährige so interessant, und dann ihre stahlblauen Augen, wenn sie einen angeguckt hat, das hatte auch was Fesselndes."

Ihren 100. Geburtstag hätte Ruth Cohn fast noch erlebt: Sie starb am 30. Januar 2010, im Alter von 97 Jahren.