"Ich bin fast glücklich, die meisten Ziele nicht erreicht zu haben"

Michael Groß im Gespräch mit Martin Steinhage und Thomas Wheeler · 12.11.2011
"Nur zehn Minuten seines Lebens" hätten die Finalläufe bei den Olympischen Spielen gedauert, sagt Michael Groß. Viel wichtiger, für ihn selbst und für andere, sei eine persönliche Perspektive: Jeder könne im Alltag Siege erringen, die emotional genauso wertvoll seien wie ein Olympiasieg.
Deutschlandradio Kultur: Wir sind heute in Frankfurt am Main bei einer Beratungsgesellschaft für Kommunikation zu Gast. Ihr Name ist Peakom. Der Chef ist unser Gastgeber, heißt Michael Groß. Er ist auch Sportfans natürlich sofort ein Begriff: Er war in den 80er Jahren einer der erfolgreichsten Schwimmer der Welt, dreimal Olympiasieger, mehrfacher Welt- und Europameister. Jetzt ist er Unternehmer. - Guten Tag, Herr Groß.

Michael Groß: Guten Tag. Ich grüße Sie herzlich.

Deutschlandradio Kultur: Herr Groß, Ratgeber-Literatur hat hierzulande seit Jahren ebenso Konjunktur wie Bücher aus der Feder von noch aktiven oder von ehemaligen Spitzensportlern. Bedienen Sie mit Ihrem jüngst erschienenen Buch mit dem Titel "Siegen kann jeder" diese Marktsegmente?

Michael Groß: Also, ich hatte überhaupt keine Perspektive, welches Marktsegment ich bedienen möchte, sondern mein Verleger hatte mich angesprochen, dass er durchaus spannend findet, was ich so in Interviews von mir gebe und inwieweit ich nicht Lust hätte, das mal in eine Buchform zu geben. Und ich hatte wirklich keine Ahnung, welche Zielgruppe ich da ansprechen würde, sondern es war wirklich so, dass ich sage, ich hab drei Perspektiven in diesem Buch miteinander verbunden: Das eine sicherlich, der Sport kommt drin vor, aber würde es nur um Sport gehen, wäre dieses Buch nie entstanden, sondern es kommt noch mal eine unternehmerische Perspektive dazu, Mitarbeiter zu führen, Menschen zu führen und nicht nur sich selber zu führen. Und die dritte Perspektive ist meine mittlerweile schon achtjährige universitäre Karriere - in Anführungszeichen -, dass ich als Lehrbeauftragter eben mit den ganzen Theorien und Methoden, die eben Personalführung ausmachen, Organisationen zu entwickeln, mich auseinandersetze. Und diese ganzen Dinge kommen in diesem Buch zusammen.

Deutschlandradio Kultur: Es ist also kein Ratgeberbuch, aber es gibt durchaus Stellen, wo es Empfehlungen gibt, die durchaus Ratgeber-Charakter haben. So kann man's vielleicht bezeichnen. Wie würden Sie das Buch jetzt generell beschreiben bzw. wo würden Sie es einordnen?

Michael Groß: Letztlich möchte ich nicht sagen, so geht's und es gibt keinen anderen Weg. Das wäre ein Ratgeber nach dem Motto, "du hast es so und so zu machen". Es ist eher ein Impulsgeber. Natürlich an der einen oder anderen Stelle zeige ich, so und so hab ich es gemacht, so und so ist es theoretisch durchaus denkbar. Aber, lieber Leser, finde deinen eigenen Weg. Also, es soll wirklich ein Impulsgeber sein, die richtigen Fragen zu stellen, sich die Fragen zu stellen, beispielsweise die erste und wichtigste: Wohin will ich eigentlich in meinem Leben? Was möchte ich eigentlich erreichen?

Weil, siegen kann jeder bedeutet ja nicht, dass jeder siegen muss. Das ist eine Option. Ich möchte sagen, es ist für jeden möglich. Man muss nicht Olympiasieger sein. Man muss nicht Vorstandsvorsitzender sein von einem großen Konzern oder Bundeskanzlerin werden. Jeder kann im Alltag persönliche Siege erringen, die emotional genauso viel wert sein können wie ein Olympiasieg.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben es angesprochen, Herr Groß. Sie sprechen in dem Buch explizit davon, dass es ja sehr schön ist, Erster zu sein, aber es ist eben nicht der einzige Sieg, den man erringen kann. Auch der Zweite könne ein Gewinner sein, denn vielleicht schafft er's dann beim nächsten Mal ganz nach oben. Im Leistungssport heißt es ja eigentlich immer: Ein zufriedener Zweiter ist ein ewiger Verlierer. Hinterfragen Sie da ganz bewusst das Prinzip, man müsse immer danach streben, der Beste oder die Beste zu sein?

Michael Groß: Genau das tue ich. Siegen bedeutet nicht, dass man jemanden besiegen muss. Das wird immer sehr stark verkürzt. Und selbst im Sport gibt es nur in den Wettkampfsituationen diese Situation des Besiegens. Im normalen Alltag, im Training muss man ja mit sich selber zurechtkommen. Und ohne dieses alltägliche Training, ohne jemanden besiegen zu können...

Deutschlandradio Kultur: ... den inneren Schweinehund ...

Michael Groß: ..., den inneren Schweinehund, aber letztlich keinen Gegner zu besiegen. Und das ist im Alltag beispielsweise für Sie genauso. Sie können niemanden besiegen. Trotzdem können Sie erfolgreich sein. Trotzdem können Sie persönliche Siege erringen. Und das ist mein Appell, dass eigentlich nur in Ausnahmesituationen man jemanden anderen besiegen muss, um persönlich erfolgreich zu sein.

Das gibt es im Beruf vielleicht, wenn man sich um eine Stelle bewirbt beispielsweise. Da kann nur einer dieser Stelle bekommen. Das ändert sich in Deutschland zurzeit eher so, dass es genau umgekehrt ist, dass man sich eigentlich die Stellen aussuchen kann, Stichwort demographischer Wandel. Aber ansonsten gibt es weder in der Universität noch im beruflichen Alltag, auch in meinem beruflichen Alltag übrigens, nicht Situationen, dass ich einen anderen besiegen muss, um persönlich erfolgreich zu sein. Das ist mein Appell in diesem Buch, dass man aus sich selber heraus und auch im Kontakt mit anderen, das ist für mich beispielsweise unwahrscheinlich wichtig heutzutage im Beruf, mit anderen zusammen im Team dementsprechend persönliche Siege zu erringen.

Deutschlandradio Kultur: In Ihrem Buch, aber in Interviews genauso, da spielen Sie diese Zeit als Aktiver, als Spitzensportler, als Spitzenschwimmer immer so ein bisschen herunter. Sie sagen, das sei eine Episode Ihres Lebens gewesen, "nur zehn Minuten Ihres Lebens", wie Sie es manchmal beschreiben. Auf der anderen Seite beziehen Sie sich in "Siegen kann jeder" sehr oft auf Ihre Zeit als Spitzensportler. Wie passt das zusammen?

Michael Groß: Das passt insofern ganz einfach zusammen, weil diese zehn Minuten, die Sie gerade zitieren, bezieht sich auf die Finalläufe bei Olympischen Spielen. Würde ich meine ganze Schwimmerei nur auf diese zehn Minuten reduzieren, dann würde man dem gar nicht gerecht werden, was 38.000 km sonst so passiert ist. Also, das sind ein paar mehr als zehn Minuten, wenn man 38.000 km, wie ich...

Deutschlandradio Kultur: Waren es so viele, haben Sie das mal ermittelt, oder ist die Zahl jetzt gegriffen?

Michael Groß: Nein, die Zahl ist dokumentiert in Trainingsbüchern et cetera. Und das ist übrigens auch nicht unnormal. Also, heutzutage ein Michael Phelps, der trainiert noch mehr. Und zweieinhalbtausend, dreitausend Kilometer im Jahr zu schwimmen ist ein durchaus normales Pensum als Schwimmsportler. Das müssten eigentlich heutzutage die Schwimmer leisten können.
Nein, es geht eigentlich darum zu sagen: Gerade im Sport hab ich auch festgestellt, dass es etwas jenseits des Olympiasieges et cetera. gibt. Das ist zwar natürlich toll, wenn man mal Olympiasieger wird, keine Frage. Aber es gibt viele andere Sportler, ehemaligen Teamkollegen, mit denen man auch heute noch im Kontakt steht. Die sind genauso innerlich zufrieden, obwohl sie niemals Olympiasieger geworden sind, und blicken auf diese Lebensphase - so war das für mich im Schwimmen -, auf diese Lebensphase zurück genauso mit tollen Erinnerungen an die ganzen Reisen, an die ganzen Erlebnisse. Das Einzige, was denen halt fehlt, ist dann vielleicht einmal, wie gesagt, zehn Minuten in ihrem Leben dann, der Beste der Welt gewesen zu sein. Aber das ist nicht alles.

Deutschlandradio Kultur: Immer wieder hört und liest man auch den Satz aus Ihrem Munde: "Ich habe die meisten Ziele in meinem Leben nicht erreicht." Das klingt bei Ihrer Vita, ehrlich gesagt, ziemlich kokett.

Michael Groß: Nein, es ist im Prinzip wirklich so, dass ich sogar fast glücklich bin, die meisten Ziele nicht erreicht zu haben. Weil, was wäre denn, wenn wir alle Ziele erreichen? Erstens, man hat sich vielleicht zu leichte Ziele gesetzt, weil, das geht sowieso leicht von der Hand. Zweitens, beispielsweise das wichtigste Ziel oder meine Lebensvision, es gibt ja verschiedene Ebenen der Ziele, man kann ja ein Ziel für den einzelnen Tag haben, was möchte ich heute eigentlich machen, und man kann quasi für sein ganzes Leben ne Vision entwickeln, was man irgendwann, irgendeinen Zustand erreichen möchte. Und bei mir beispielsweise ist das gewesen: die Fliegerei. Also, wirklich Verkehrspilot zu werden, Kapitän zu werden und einfach durch die Weltgeschichte zu fliegen.

Deutschlandradio Kultur: Mit zwei Meter nulleins.

Michael Groß: So. Mit zwei Meter nulleins ist man schlicht und ergreifend zu groß dafür. Also, insofern, das war innerhalb von zwei Minuten das Thema erledigt, faktisch betrachtet. Nämlich, da steht dann ganz klar geschrieben, ein Meter 93 ist das Limit. Sonst passt man bei den kleinen Flugzeugen auch wirklich da nicht rein, da vorne. Aber bis heute ist diese Lebensvision für mich befruchtend.

Deutschlandradio Kultur: Ein anderes Ziel, was Sie ja hatten, war Biochemie zu studieren. Das scheiterte, glaub ich, damals am Numerus Clausus.

Michael Groß: Genau.

Deutschlandradio Kultur: Sind das eher Niederlagen, die Sie da erlitten haben? Oder würden Sie das als Enttäuschungen bezeichnen?

Michael Groß: Das sind keine Niederlagen. Beispielsweise mein zweiter Wunsch war dann, Biochemie zu studieren, das ging damals Mitte der 80er Jahre nur in Tübingen. Mittlerweile ist das ja an jeder Ecke möglich. Aber damals war es noch ein Spezialgebiet. Ich hatte nur 2,1 Abitur. 1,2 war der Numerus Clausus. Zwei Jahre warten wollte ich nicht. Also, musste ich was anderes machen. Das hab ich nie als Niederlage empfunden, sondern schlicht und ergreifend: Ziel konnte ich nicht erreichen, lagen Hindernisse im Weg. Wenn ein Hindernis nicht überwindbar ist, muss man einfach zur Seite treten, wenn man weiterkommen möchte, sonst dreht man sich ja im Kreis vor dem Hindernis, und zur Seite treten und eine andere Perspektive entwickeln. Das ist dann auch wiederum eine Chance.

Und deswegen auch in meinem Buch immer auch ein bisschen so der Appell an die Leser und Leserinnen: Ihr habt manchmal vielleicht gigantische Hindernisse, die vielleicht auch wesentlich größer sind als ich beispielsweise, als Michael Groß, die jemals erfahren durfte - beispielsweise Krankheiten, die dazwischen kommen können, persönliche Schicksalsschläge in der Familie et cetera. Toi, toi, toi, wurde ich bislang davon verschont. Dennoch muss man irgendwie versuchen, für sein persönliches Leben eine Perspektive zu entwickeln.

Und das ist im Prinzip so ein bisschen, was dahinter steht als Appell, niemals im Kreisverkehr sozusagen zu münden, sondern sein Leben als Schlangenlinie zu begreifen, es ist nicht alles geradeaus, auch bei mir nie gewesen, aber versuchen eben, in den Schlangenlinien nicht in einen niemals endenden Kreisverkehr zu münden.

Deutschlandradio Kultur: Herr Groß, Sie haben es schon angesprochen. Sie betreiben hier in Frankfurt am Main, Ihrer Heimatstadt, eine Beratungsgesellschaft für Kommunikation. Außerdem arbeiten Sie seit Jahren an der Frankfurt School of Finance and Business. Was genau machen Sie im Büro bzw. im Seminarraum?

Michael Groß: Im Büro mache ich im Prinzip fast den ganzen Tag Konzepte entwickeln, Kunden beraten, was deren Kommunikation für das Unternehmen nach innen und nach außen anbetrifft, das natürlich im Team. Also, ich sag mal, die Hälfte der Zeit ist bei Kunden, mit dem Kunden zusammen. Die andere Hälfte ist quasi im Team nach innen. Sie müssen sich das vorstellen, als ganz klassischer Bürojob. Und deswegen ist beispielsweise auch die Universität und ein Lehrauftrag sehr befruchtend. Also, man hat Gruppen von 15 bis 20 Studenten. Es ist eine private Universität. Das heißt, man hat auch wirklich kleine Gruppen, die man betreuen kann, sehr intensiv. Die Studenten sind heutzutage sehr, sehr fordernd. Sie bezahlen ja auch was dafür. Und die haben auch einen Anspruch darauf, wirklich die optimale Ausbildung zu bekommen. Und deswegen ist das für mich auch Kontakt mit 20-, 22-, 23-jährigen im Bachelor-Studiengang, ist extrem fordernd und fördernd auch für mich persönlich.

Deutschlandradio Kultur: Kommen da manchmal Nachfragen, was man empfiehlt von Ihrer Seite, sag ich mal, was Sie aus der aktiven Zeit möglicherweise den Studenten mitgeben können auf ihrem Lebensweg für heute?

Michael Groß: Da kommt eigentlich fast nie etwas, weil, erstens die Studenten kennen einen kaum. Das ist auch ganz gut. Dann, ab und an erkennt einen jemand, aber letztlich sagt man dann was dazu und das war's dann auch.

Deutschlandradio Kultur: Der Themenkreis Burnout, Depression spielt in Ihrem Buch nur am Rand eine Rolle. Warum das?

Michael Groß: Weil, letztlich es handelt sich um ein Krankheitsbild. In diesem Buch geht es quasi vor diesem Krankheitsbild darum, es gar nicht so weit kommen zu lassen, also beispielsweise, dass wir uns einfach Pausen gönnen, im Alltag auch Pausen gönnen, das sind manchmal ganz einfache Dinge, oder einen Tag in der Woche wirklich auch mal offline zu sein.

Wir setzen uns ja permanent unter Druck. Wenn man über die Straße geht, in den Innenstädten, ständig piepst es, ständig sind die Leute an ihren Smartphones am Rumnesteln. Und wenn man in Meetings sitzt, dann ist es so im Beruf, dass dann viele einfach noch parallel ihre E-Mails beantworten et cetera. Das heißt, man steht ständig unter Strom. Die Natur hat aber eigentlich vorgesehen, dass, wenn man eine hohe Belastung hat, Adrenalinausstoß kommt et cetera, dass dann automatisch der Körper auch wieder sich zurückfährt und einfach entspannt.

Und wir Zivilisationswesen, insbesondere durch unsere technischen Möglichkeiten, stehen ständig unter Druck. So, da sich zurückzunehmen und einfach mal rauszukommen aus dieser Mühle und einfach mal einen Tag in der Woche, natürlich gibt es Ausnahmen, auch bei mir, dass es nicht funktioniert, aber dass man auch mal beispielsweise mal zehn Minuten am Tag, wie wir jetzt gerade zusammensitzen, das Handy ist aus, da geht die Welt nicht von unter.

Es kann mir keiner erzählen, dass man bis auf wenige Ausnahmen es nicht schafft, mal zehn, 15 Minuten am Tag einfach auch mal selbst im stressigsten Job, gerade wenn dieser Job stressig ist, einfach mal runterzukommen, einfach mal durchzuschnaufen.

Wenn das nicht gelingt, und da gibt es ja leider auch im Sport einige Beispiele, insbesondere ein Fußballtrainer, die halt 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche irgendwann auch sich unter Druck gesetzt fühlen. Manchmal ist es vielleicht gar nicht mal so, aber da kommt man in so einen Teufelskreis hinein. Und dann wird es eben wirklich ein klinisches Krankheitsbild. Und deswegen, in dem Buch hat dieses klinische Krankheitsbild, was dann einer Behandlung bedarf, dann nichts verloren.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben es jetzt gerade angesprochen mit Trainern, mit Ralf Rangnick als jüngstem Beispiel, dann natürlich auch jede Menge Beispiele aus dem aktiven Kreis, sei es Sebastian Deisler, Fußballer, Sven Hannawald, Skispringer, Britta Steffen hatte ihre Probleme also, der Kreis ist sehr groß. Deshalb würde ich nachfragen wollen: Im Bereich Sport sind ja Leistungssportler aufgrund der Entwicklung besonders anfällig möglicherweise für psychische Erkrankungen?

Michael Groß: Ich glaube nicht. Es wird nur offensichtlicher, weil sie in der Öffentlichkeit stehen. Ich würde mal sagen, dass unter dem - Anführungszeichen - normalen Managern hier in Frankfurt, wenn man auf die Banktürme guckt, werden genauso viele Burnout-Gefährdete da sein und wahrscheinlich noch genauso oder noch mehr Burnout-Patienten da sein.

Warum ist das so? Der Sport ist letztlich eine Sphäre, ein Feld, wo die meisten ihr Hobby zum Beruf machen. Das heißt, grundsätzlich hat man eine wesentlich stärkere emotionale Bindung und ist wesentlich stressresistenter, weil, das macht einem grundsätzlich erstmal riesig Spaß. Und dann gibt es die Auswüchse, dass man in so eine Situation hineingerät, durch äußeren Druck, durch eigene Anforderungen und eigene Erwartungen, die man formuliert, dass man plötzlich in so einen Kanal reinrutscht und dann eben Burnout-Symptome zeigt. Aber erstens, Sport ist im Fokus der Öffentlichkeit, und zweitens, diese Beispiele werden auch gleich prominent gemacht. Ich würde mal sagen, tausendfach passiert es in unserer Republik jeden Tag in normalen Unternehmen, dass Menschen wirklich in Behandlung müssen wegen Burnout. Es redet nur keiner drüber.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch einen Moment beim Sport. Beim Fußballer Sebastian Deisler, der wegen Depression seine Karriere ja sehr früh beendete, spielt die mediale Dauerbeobachtung und die übergroßen Erwartungen der Öffentlichkeit an seine Leistungsfähigkeit eine, wie er sagt, sehr belastende Rolle. Wie war das in den 80er Jahren bei Ihnen? Da gab's ja einen unheimlichen Hype um den "Albatros". Waren da die Erwartungen, war da der Druck nicht ähnlich groß?

Michael Groß: Ich weiß nicht, ob der Druck damals ähnlich groß war.

Deutschlandradio Kultur: Wie groß war er für Sie?

Michael Groß: Ich habe mir ja damals schlicht und ergreifend meine Elefantenhaut zugelegt. Also, ich hab da ja viele Sachen gar nicht an mich rangelassen, hab wirklich gesagt, das ist hier mein privates Umfeld, meine Schule, meine Schulfreunde, mit denen ich auch bis heute Kontakt habe - vor zwei Jahren 25 Jahre Abiturfeier gehabt et cetera. Das ist mein sozusagen Schutzraum, in dem ich einfach ich sein darf, ohne Beobachtung. Und der hat mir wirklich, damals hab ich das nur erahnen können, heute weiß ich's, unwahrscheinlich viel gebracht.

Also, wenn jemand ein total gläserner Mensch ist und beispielsweise komplett in der Öffentlichkeit steht und gar keinen Freiraum mehr für sich hat, wo man auch einfach mal ich sein kann, der ist ziemlich arm dran. Also, das stelle ich mir beispielsweise als Politiker extrem schwer vor, weil einfach auch die Zeit fehlt. Wenn man sich die Terminpläne von solchen Leuten anguckt, dann müssen sie das wirklich wollen, dann müssen sie wirklich so einen Job machen wollen, weil, wegen des Geldes macht das keiner, sondern vielleicht wegen Anerkennung. Aber da müssen Sie wirklich diese Machtmotivation haben: "Ich will hier Einfluss ausüben, ich will hier etwas erreichen" -, weil, ansonsten halten Sie das nicht durch.

Deutschlandradio Kultur: Vor fast genau auf den Tag vor zwei Jahren nahm sich der schwer depressive Fußballnationalspieler Robert Enke das Leben. Hat sich nach Ihrem Empfinden im Sport, wie in der Gesellschaft tatsächlich etwas geändert, wie ja von manchen behauptet wird, wenn es um das Thema Depression geht? Oder machen wir so weiter wie bisher?

Michael Groß: Zunächst mal, das Gesamtsystem, das kann sich ja gar nicht ändern, weil, das Gesamtsystem Sport, was ja wirklich isoliertes Feld ist, also, noch mal ganz kurz: Hier beim Sport geht es, im Fußball beispielsweise, um das Besiegen der anderen Mannschaft in dem Wettbewerb. Aber das ist ja nix Alltägliches. Und wenn dieses Beispiel Robert Enke, was ja extrem tragisch geendet ist und was ja leider nur die Spitze des Eisbergs zeigt - da weiß ich jetzt nicht, ob es wirklich dazu geführt hat, dass der Umgang mit solchen Krankheitsbildern, die dann extrem tragisch enden können, sich wirklich verändert hat. Warum? Es passt einfach nicht in dieses Leistungsschema, in dieses Bild, immer fit, immer bereit, immer fähig, was zu leisten.

Vergleichbare Situation im Sport beispielsweise, insbesondere in solchen klassischen Männerdomänen und Mannschaftssportarten, ist das Thema Homosexualität, wie damit umgegangen wird. Das ist irgendwie, es passt nicht in bestimmte Klischees. Es passt nicht in bestimmte Kontexte. Insofern tun sich alle Beteiligten übrigens damit schwer. Da tun sich auch die Medien mit schwer.

Deutschlandradio Kultur: Herr Groß, vor gut drei Jahren haben Sie in der Wochenzeitung "Die Zeit" gesagt, Zitat, wenn man Sie da richtig zitiert hat: "Als Sportler habe ich mir über Doping selten Gedanken gemacht." - Nun erleben wir Sie hier sehr nachdenklich und reflektiert. Haben Sie sich wirklich nie Gedanken gemacht?

Michael Groß: Ja. Das Zitat stimmt. Ich hab mir wirklich da nicht ernsthaft drüber Gedanken gemacht. Der Grund, warum, steht in meinem Buch. Ich hatte einfach eine, man kann natürlich auch sagen, Ausnahmesituation. Nämlich mehrere Aspekte kamen zusammen, so dass einfach dieses Thema, sich selber betrügen, das ist ja nämlich das Doping, erstmal betrügt man sich selber, weil man niemals feststellen wird, was kann ich eigentlich selber leisten, aus mir selber heraus, mit den mir gegebenen natürlichen Möglichkeiten. Und man betrügt dann auch andere im Wettbewerb.

Ich hatte erstens mal ein klassisches gesundes bürgerliches Umfeld in der Familie, in der das Thema Sport immer sekundär gewesen ist. Also, meine Eltern haben gesagt, mit dem Sport, wir unterstützten dich, wie das andere Eltern auch machen mit den Hobbys ihrer Kinder, aber das Einzige, was wir dir nicht zugestehen, ist, dass du die Schule schleifen lässt. Solange du bei uns lebst, Schule ist Priorität Eins. - Deshalb hab ich einen Monat vor den Olympischen Spielen in Los Angeles 1984 meine letzten mündlichen Abiturprüfungen gemacht. Das heißt, die Wertigkeit in der Familie war ganz klar: Sport ist nett, aber das Wichtigste ist was anderes.

Dazu kam beispielsweise mein Trainer. Mein Trainer ist Studiendirektor jetzt an einem Gymnasium hier in Rüsselsheim für Deutsch, und war damals beispielsweise manchmal gar nicht beim Training, weil er Abiturarbeiten korrigieren musste. Ich habe auch von meinem Trainer mitbekommen, da gibt's was Wichtigeres, als selbst hier ins Training zu kommen.

Und das Dritte war, dass ich eben das normale soziale Umfeld hatte in der Schule, in der Universität. Ich hab hier in Frankfurt - ist ja linksliberal, die Universität - hab´ ich mitbekommen, wie der SDS, also, Sozialistischer Deutscher Studentenbund, noch Seminare gesprengt hat in den 80ern und dass es einfach andere Lebensentwürfe gibt, und zwar kolossal andere Lebensentwürfe, die jetzt mit Olympiasiegen et cetera null zu tun haben, so dass dann einfach für mich das Thema Doping nie infrage kam. Weil, der Preis, sich selber erst mal zu betrügen und sich selber zu bescheißen, wäre viel zu hoch gewesen. Und deswegen kam ich nie auf diesen Gedanken.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie denn manchmal gedacht, "verdammte Hacke, die anderen, die dopen"?

Michael Groß: Überhaupt nicht. Es gab den Ostblock, in Anführungszeichen, und die DDR. Das waren ja bei uns auch noch klare Verhältnisse, um das mal so zu sagen. Und man hat sich da eigentlich nie drüber Gedanken gemacht, auch was vielleicht im eigenen Land passiert et cetera, sondern man war in seinem kleinen, sozusagen in diesem, vor allen Dingen in Offenbach hab ich ja trainiert, in seinem kleinen Bereich in Offenbach unterwegs und fühlte sich da wohl. Und da hat sich das so entwickelt. Und der Rest war einem wirklich, das hört sich jetzt ein bisschen naiv an, man war aber so, war einem eigentlich Wurscht. Man hat darüber eigentlich nie nachgedacht.

Was mir jetzt in meiner Karriere dann plötzlich oder nach meiner Karriere dann passiert ist, war Folgendes: Ich war einmal Mitglied in der Antidopingkommission vom Bund Deutscher Radfahrer. Das war ich aber nur sechs Wochen. Warum? Weil ich merkte, und die anderen Kommissionsmitglieder auch, dass eigentlich dem Verband nichts dran gelegen ist, wirklich Dopingaufklärung zu betreiben, hatten aber, wir auch bei uns im Büro in Frankfurt, die Situation, dass dort Radsportler saßen, die völlig den Bezug zu dem Gefühl, "ich betrüge hier", verloren hatten.

Sondern es war wirklich so: Nur, wenn man erwischt wird, ist es Betrug. Alles andere ist erlaubt. Das heißt, es haben sich vollkommen die moralischen Maßstäbe verschoben. Und das Gesamtsystem, das mussten wir leider feststellen, ich hoffe mal, hab da aber nicht so viel Glaube daran, ich hoffe mal, das Gesamtsystem hat sich da weiterentwickelt, aber das war so marode im Radsport, bis in die Jugend hinunter, dass man wirklich sagte: Also, Medikamentenmissbrauch ist an jeder Tagesordnung da gewesen, also, sich beispielsweise Kortisonpillen oder Spritzen geben zu lassen, mit einem Reizknie unterwegs zu sein, damit man einfach dann andere Fahrer nach vorne fahren konnte und wirklich mit Kortison komplett zugedeckt wird, die ganzen Schmerzen.
Das ist da normal - hoffentlich: gewesen. Aber das ist erschreckend für mich, wie ein komplett anderes System quasi den Medikamentenmissbrauch, den Betrug legitimiert über, "was nicht nachgewiesen wird, ist kein Doping". Das ist natürlich absurd.

Deutschlandradio Kultur: Trotzdem gab es ja auch Doping in der alten Bundesrepublik. Das belegt jetzt eine Studie, die im Auftrag des Deutschen Olympischen Sportbundes in Auftrag gegeben wurde, die sowohl über eine Dopingforschung - eine sehr intensive - als auch eine Dopinganwendung spricht im Zeitraum zwischen 1970 und 1989. Wenn Sie das jetzt mit diesen Erkenntnissen reflektieren, Ihre Vergangenheit, zu welchen Eindrücken bzw. Ergebnissen kommen Sie dann?

Michael Groß: Ja, ich war da persönlich auch extrem erschrocken, nicht, dass man es allein tut, sondern dass überhaupt da die Maßstäbe verloren gegangen sind, dass man wirklich den Leistungssteigerungen, um dann irgendwie andere Leute zu besiegen, alles untergeordnet worden ist, und dass man die Fähigkeit verloren hatte, eben aus sich selbst heraus, aus dem, was man selber erreicht, aus dem, was man selber macht, dementsprechend persönliche Siege zu erreichen, und sich vollkommen davon abhängig gemacht hat, den anderen zu besiegen. Weil, letztlich, Doping wird deshalb betrieben, weil man jemand anderen besiegen möchte, weil man letztlich besser werden möchte, weil man den Eindruck hat, dass man das nicht mehr selber schaffen kann, und weil man keinen quasi inneren Halt mehr hat, einfach nur aus Selbstzweck, auch eigenem Antrieb etwas zu machen.

Deutschlandradio Kultur: Doping kennen wir eigentlich nur aus dem Hochleistungssport bisher mit diesem Begriff. Aber mittlerweile gibt es das auch verstärkt im Breitensport. Da nennen wir es inzwischen eher Medikamentenmissbrauch. Beispiel: Marathonläufer nehmen Schmerzmittel. In Fitnessstudios werden teilweise verbotene Arzneimittel, teilweise sogar Anabolika genommen, die ja in Deutschland verboten sind. Liegt das vielleicht möglicherweise daran, dass sich die Bundesbürger inzwischen mehr über ihre Erfolge im Sport definieren, weil sie im Beruf mehr im Team zusammenarbeiten, und damit ihre Gesundheit aufs Spiel setzen?

Michael Groß: Also, das Thema Medikamentenmissbrauch, da ist Doping ja nichts anderes als Medikamentenmissbrauch, ist sicherlich ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Also, letztlich muss man ganz klar sagen, dass millionenfach gedopt wird, jeden Tag.

Deutschlandradio Kultur: Ganz platt, es gibt auch gedopte Manager.

Michael Groß: Ja. Millionenfach wird gedopt jeden Tag. Es gibt gedopte Manager, weil, das wird aber nicht als Doping bezeichnet, wenn man sagt, okay, ich nehme jetzt die Arzneimittel, um halt meinen Job weitermachen zu können. Es wäre aber vielleicht sinnvoll, wenn ich jetzt mal zwei, drei Tage zu Hause bleiben. So. Das - Anführungszeichen - kann man sich dann nicht erlauben. Das ist die eine Ebene.

Die zweite Ebene ist: Das Fitnessideal, das Schönheitsideal führt sicherlich dazu, dass in Fitnessstudios wesentlich mehr und wesentlich unkontrollierter als im Hochleistungssport dementsprechend Anabolikamissbrauch betrieben wird. Beispielsweise auch das Thema Abnehmen spielt eine große Rolle, dass man sagt, okay, was kann ich tun, um schneller abzunehmen und mir nicht selber zu viel zuzumuten durch Training et cetera. Also, da gibt's unzählige Arten, was da passiert.

Und das ist sicherlich ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, obwohl der Sport alleine übrigens, auch beim Thema Dopingverfolgung - das ist mittlerweile so ein multinationales Netz -, der Sport alleine völlig überfordert wäre, hier die Verfolgung aufzunehmen. Da sind nun mal die staatlichen Autoritäten gefordert. Und allein hier im südhessischen Raum gab es ein großes Beispiel, wo wirklich so eine Art Netzwerk von Schmugglern et cetera. mit Anabolikapillen vor einiger Zeit ausgehoben worden ist. Und das hatte ganz klar mafiöse Züge, ganz klar.

Und deswegen, das ist ein Problem, was im Sport alleine nicht gelöst werden kann, was auch ja außerhalb der Sportorganisationen beispielsweise auch stattfindet, weil, die Fitnessstudios et cetera haben ja mit dem klassischen Leistungssport, mit dem Vereinssport et cetera eigentlich gar nichts mehr zu tun.

Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank, Herr Groß.
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