"Huckleberry Finn" als Gründungstext der Moderne

14.04.2011
Dieser Band ist eine der wichtigsten Quellen, wenn man über die Möglichkeiten der Gegenwartsliteratur nachdenkt. Insbesondere verfolgt Peltzer, wie sich das bürgerliche Subjekt im Wandel der bürgerlichen Gesellschaft im bürgerlichen Roman zeigt.
Schon in seinen Romanen (zuletzt "Teil der Lösung") erwies sich Ulrich Peltzer als hochreflektierter Schriftsteller. Anfang 2011 hielt er die renommierten "Frankfurter Poetikvorlesungen", und dies war für ihn der Anlass, zum ersten Mal dezidiert poetologische Überlegungen zu Papier zu bringen. Es handelt sich um fünf Kapitel, die zyklisch miteinander verbunden sind, der Schluss nimmt dabei auf überraschende Weise den Anfang wieder auf.

Peltzer, der oft mit Berlin, ja mit dem Westberliner Stadtteil Kreuzberg identifiziert wird, beschreibt zunächst, dass die Großstadt den "privilegierten Erfahrungsraum der Moderne" darstellte. Eine faszinierte Analyse von Joyce’s Jahrhundertroman "Ulysses" setzt den Maßstab, hinter den – das macht Peltzer implizit klar – ästhetische Versuche nicht mehr zurückfallen sollten, wenn sie ernstzunehmen sein wollen.

Es geht Peltzer um die Fragwürdigkeit bürgerlich überkommener Vorstellungen von "Identität", leitmotivisch verwendet er Formulierungen wie das "dauernde Auf und Ab der Dinge", das das Subjekt momentweise konstituiert (nach dem Aufklärer Vico im frühen 18. Jahrhundert), und das führt zu der spezifischen Situation zwischen einem "Noch-nicht und einem Nicht-mehr", in dem der Autor ein Subjekt zu fassen versucht.

Diesen Prozess vollzieht Peltzer in seinen Vorlesungen nach: Er beginnt mit Überlegungen zu dem neuen Roman, an dem er schreibt, und in der fünften und letzten Vorlesung befinden wir uns dann unmerklich in diesem Roman. Der Autor schlägt dabei elegant den Bogen von der Diskussion des Geldes bei dem amerikanischen Schriftsteller William Gaddis, einem seiner Hausheiligen, hin zu seiner neuen Hauptfigur, dem Banker Jochen Brockmann. Vorbereitet wird dies durch assoziative und zum Teil sehr vergnügliche Streifzüge durch die Literaturgeschichte.

Peltzer verfolgt das bürgerliche Subjekt, wie es sich im Wandel der bürgerlichen Gesellschaft im bürgerlichen Roman zeigt. Er hat dabei unverkennbar eine Vorliebe für den angloamerikanischen Raum. Kronzeugen sind für ihn Defoes "Robinson Crusoe" und Mark Twains "Huckleberry Finn" – letzterer ist für Peltzer schlechthin der Gründungstext der Moderne, den man "regelmäßig, vielleicht einmal im Jahr, lesen sollte, um sich an die Größe und Schönheit des Lebens und der Literatur erinnern zu lassen".

Huck, der sich den bürgerlichen Zuordnungen entzieht und die individuelle Freiheit konsequent lebt, ist für Peltzer die ideale literarische Umsetzung seines theoretischen Gewährsmanns Gilles Deleuze. Dessen zentrale Begriffe wie "Wunschproduktion" oder "Deterritorialisierung", dessen Vorstellungen von "Intensität" bilden für ihn den Fluchtpunkt. Peltzers Überlegungen sind immer instruktiv und auf der Höhe der Zeit. Dieser Band ist eine der wichtigsten Quellen, wenn man über die Möglichkeiten von Gegenwartsliteratur nachdenkt. Inwieweit Peltzers poetisierende Auflösung des Subjektbegriffs, sein Außerkraftsetzen landläufiger bürgerlicher "Identität" sich von theoretischen Prämissen entfernen und heimlich romantische Elemente enthalten, ist eine der spannendsten Fragen nach der erhellenden und inspirierenden Lektüre dieses Buches.

Besprochen von Helmut Böttiger

Ulrich Peltzer: Angefangen wird mittendrin. Frankfurter Poetikvorlesungen
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2011
170 Seiten, 17,95 Euro