Hommage an einen Impresario

Von Elisabeth Nehring · 23.05.2010
Das Londoner Tanzhaus Sadler’s Wells beauftragte drei Choreografen, sich hundert Jahre nach der Revolution des Tanzes durch die legendären Ballets Russes mit je einer Arbeit vom Geiste ihres Gründers Sergej Diaghilev inspirieren zu lassen.
Den drei Choreografen Wayne McGregor, Russel Maliphant und Sidi Larbi Cherkaoui war es freigestellt, wie sie mit dem im Titel beschworenen Geiste Diaghilevs umgehen und alle drei haben sich, inspiriert von der Geschichte, den Werken und Künstlern des innovativen Ensembles, auf je ihre eigene Art und in ihrer spezifischen Handschrift um eine zeitgenössische 'Antwort' auf den großen Impresario der Ballett Russes bemüht.

Wayne McGregor verschränkt in "Dyad 1909" zur Musik Olafur Arnalds' zwei historische Tatsachen: Diaghilev hat 1909 die Ballett Russes gegründet – und damit der Welt 20 Jahre lang große, innovative und immer wieder überraschende Produktionen geschenkt, die mehr waren als Tanz, nämlich Gesamtkunstwerke – sowie die Entdeckung der Antarktis: in diesem Jahr erreichte der Polarforscher Ernest Shackelton auf der Suche nach dem Südpol den immerhin südlichsten Punkt der Erde, den bis dahin je ein Mensch betreten hatte.

Dieser Ausgangspunkt ist jedoch nur am Anfang des halbstündigen Stückes direkt zu erkennen: Auf der Bühne sinkt ein in einen dicken Fellmantel gekleideter Mensch erschöpft zu Boden, neben ihm produziert sich ein maskierter Tänzer. Im weiteren Verlauf entwirft McGregor allerdings eine ganz andere, sehr kalte, fast abweisende Welt des Tanzes: seine sieben Tänzer exerzieren ein zum Teil neoklassisches, zum Teil typisch McGregrosches Bewegungsmaterial, bei dem jede Bewegung – seien es die der Arme, der Hüften, der Beine – bis an die oder gar über die Grenzen des Menschlichen hinausgehen. Teile von Maschinen, die auf im Raum verteilte Lichtobjekte projiziert werden, gemahnen an den industriellen Fortschritt. Assoziationen an eine industriell gesteuerte Moderne verschränken sich hier mit Bildern des Menschlich-Organischen, das selbst jedoch nahezu über-human erscheint, grotesk, fast unheimlich.

In Wayne McGregors seltsamer Sicht auf das Jahr 1909 wird der Mensch in eine Welt geworfen, die vom Aufbruch in eine neue Zeit bestimmt ist, sich darin allerdings als sehr abweisend und fremd erweist. Von allen drei Choreografen entfernt er am weitesten von der Welt, die wir mit Diaghilev assoziieren - und ist aus choreografischer Sicht am interessantesten.

Russel Maliphant nähert sich dem Geist Diaghilevs auf ganz andere Art. In "After Light" zur Musik Erik Saties lässt er den jungen, hervorragenden Tänzer Daniel Proietto ein Solo tanzen – eine Reminiszenz an den berühmtesten Tänzer der Ballett Russes Vaclav Nijinski, der sowohl für seine Ausstrahlung als auch für seine Sprungkraft gerühmt wurde. Doch Maliphant will nichts nachahmen, und so wird hier fast gar nicht gesprungen, sondern viel mehr gedreht: Turns und Spiralen sind die vorherrschenden Bewegungselemente – ein wunderbares Solo, in dem Bewegungen fließen wie Wasser und keinen Endpunkt, nie einen Stopp zu haben scheinen. Doch tut die zeitliche Begrenzung auf kurze 15 Minuten dem Stück gut – denn an dem Bruch- und Kantenlosen der Choreografie Maliphants würde der Blick nach einer Weile abgleiten.

Die dritte Produktion des Abends, Sidi Larbi Cherkaouis "Faun" zur Musik Debussys wurde von der englischen Kritik als Höhepunkt des Abends gelobt; eine Einschätzung, der ich mich nicht anschließen kann. Das konventionellste Stück des Abends fällt in jedem Fall hinter das Original zurück.

Gab im Original Nijinski den Faun, der eine Nymphe von der Ferne sieht, nur ihren Schleier erhascht, und sich mit diesem in seinen erotischen Träumen begnügen muss, verbanden sich Imagination und Auto-Erotik zu einem damals als skandalös empfundenen Tanz, lässt Cherkaoui die Tänzer James O'Hara und Daisy Philipps in einem konventionellen Liebes- und, sobald am Boden, undifferenzierten Kuddelmudellduett aufeinandertreffen. Auch die Bühne, die dreidimensionale Projektion eines Waldes, ist in der zeitgenössischen Version im Vergleich fast Theaterkonvention, bestimmte im Original ihre bewusst gewählte Schmalheit den Tanz und zwang die Choreografie auf der Bühne zu einer bis dato unbekannten Flächigkeit.

Gelingen Wayne MacGregor und Russel Maliphant zwar keine weltbewegend innovativen, wohl aber eigenwillige und eigenständige Werke im Geiste Diaghilevs, fällt Sidi Larbi Cherkaoui mit dem Versuch eines zeitgenössischen Fauns mit Nymhe weit hinter das Motto Diaghilevs zurück. Das nämlich hieß: Überrasche mich!