Hommage an eine kleine Heldin

14.11.2007
Im Jahr 1865 erschien in England ein Buch mit dem Titel "Alice's Adventures in Wonderland", mittlerweile längst ein Werk der Weltliteratur. In der neuen Ausgabe "Alice im Wunderland" sind die Illustrierungen traumhaft und buchstäblich wunderschön. Lisbeth Zwergers zarte Zeichnungen winden sich elegant um das vermeintlich Vertraute herum und eröffnen dem angeblich Greifbaren einen sanften Fluchtweg.
Was könnte man über so ein Werk der Weltliteratur noch sagen, was nicht längst gesagt worden wäre? Und zwar in vermutlich allen Sprachen, die in den Mitgliedsstaaten der UNO gesprochen und geschrieben werden, und das schon lange bevor die UNO auch nur als Idee vorhanden war. Nämlich seit einhundertzweiundvierzig Jahren.

Im Jahr 1865 erschien in England ein Buch mit dem Titel: "Alice's Adventures in Wonderland". Der Autor, ein schlaksiger Mittdreißiger namens Lewis Carroll, war noch gänzlich unbekannt, sein Debüt jedoch einigermaßen drollig: eine Variation in zwölf Kapiteln auf das gerade im viktorianischen 19.Jahrhundert beliebte Genre "Abenteuerroman", so zumindest legte der Titel nahe.

Nur - die Abenteuer zu Wasser oder Lande er- und überlebt hier kein handelsüblicher junger Mann, der damit zum Helden reift. Es handelt sich auch offenbar nicht um eine ins Exotische verlegte überdeutliche Spott-, Schmäh- und Satireschrift auf die politischen Zustände daheim, wie Jonathan Swifts Gullivers Reisen knapp 150 Jahre zuvor. Politische Anspielungen: Fehlanzeige.

Stattdessen: eine Heldin. Ein kleines Mädchen obendrein, das nicht mal erwachsen wird, während es sich durch seine Abenteuer mit dem Irrationalen, dem Paradoxen, mit aus den Angeln gehobenen Regeln staunt.

Der das alles erfunden hat, ist Charles Lutwidge Dodgson, Mathematik- und Logik-Professor und für seine Studenten in Oxford eher ein verschroben-pedantischer Langweiler, der ein Faible fürs Fotografieren hat und stottert. Seiner Schwärmerei für die kleine Tochter seines Dekans tut das keinen Abbruch, im Gegenteil.

Er schreibt kleine Geschichten für Alice Pleasance Liddell und veröffentlicht sie unter einem wort- und sprachenverspielten Pseudonym aus seinen beiden Vornamen: Lewis Carroll. Und wer könnte - paradoxerweise - besser über das Irrationale spekulieren als ein Mathematiker und Logiker? Wer verspielter mit Regeln umspringen als jemand aus einer Familie - Dodgsons Vorfahren tragen traditionell Talar oder Soldatenrock -, die dem eher rigoristischen Reglement verschrieben ist?

All das ist bekannt, besprochen, beschrieben. Und selbst Victoria, die Ewige Queen, hat sich an Alices Abenteuern delektiert. Allerdings nicht an so traumhaft und buchstäblich wunderschön illustrierten. Lisbeth Zwergers zarte, fast immer blass kolorierte Zeichnungen mit den kräftigen, zumeist roten Farbtupfern schweben so eigenwillig zwischen Normalität und Abweichung, winden sich so elegant um das vermeintlich Vertraute herum und eröffnen dem angeblich Greifbaren einen ähnlich sanften Fluchtweg wie der Text in der bewährten deutschen Übersetzung von Christian Enzensberger.

Und sie sind gleichzeitig - noch ein Paradox - auch ebenso handfest und manchmal fast handgreiflich dynamisch. Diese neue "Alice im Wunderland" ist, um mit einem Augenzwinkern angesichts ihres Erscheinens auf dem Markt im Wortspielfeld zu bleiben, wahrlich ein "Christmas-Carroll".


Rezensiert von Pieke Biermann


Lewis Carroll: Alice im Wunderland
Übersetzung und Nachwort von Christian Enzensberger, mit Illustrationen von Lisbeth Zwerger.
Kein & Aber, Zürich 2007, 136 Seiten, 24,90 Euro