Holocaust-Geschichtsstunde

Von Christoph Leibold · 25.01.2012
Rolf Hochhuths Theaterstück über die Haltung des Vatikans zum Holocaust hatte bei seiner Erstaufführung 1963 eine unglaubliche Sprengkraft. Die Münchner Aufführung schafft es nicht, die Brisanz von damals zu aktualisieren. Theater könnte viel mehr als Lektionen zu erteilen.
Als Rolf Hochhuth seinen "Stellvertreter" 1963 mitten hineinschrieb ins wirtschaftswunderbesoffene Nachkriegsdeutschland, das nach vorne, und nur ja nicht zurückblicken wollte, da hatte dieses Stück eine Sprengkraft, deren Erschütterungen bis in die USA zu spüren waren: Hochhuth könne der bedeutendste Dramatiker der Welt genannt werden, schrieb damals die New Yorker "Newsweek".

Heute, fast 50 Jahre später, fällt das Urteil deutlich weniger euphorisch aus: Man mag dem Stück seine Redlichkeit zwar immer noch nicht absprechen, die Dialoge aber hören sich an wie Rede gewordene Recherche; die Figuren schleppen sich als Träger historischer Information auf die Bühne und bewegen sich dementsprechend hölzern durch die Handlung. Weshalb es kaum verwundert, dass Christian Stückl versucht hat, ihnen Gegenwart und Relevanz zu verleihen, um diesen Mangel zu kaschieren.

Dazu hat der Münchner Volkstheaterintendant eine Rahmenhandlung ersonnen. Die von Neonleuchten beschienene Bühne ist vollgestellt mit Arbeitstischen, auf denen sich Bücher stapeln. Zwei junge Männer in legerer Kleidung von heute – möglicherweise Doktoranten an einer historischen Fakultät - unterhalten sich über die Rolle von Papst Pius XII. im so genannten Dritten Reich. Der Papst habe sich mitschuldig gemacht an der Ermordung von 6 Millionen Juden, weil er zum Holocaust schwieg, argumentiert der eine; während der andere den Pontifex in Schutz nimmt: vielleicht sei sein Verhalten damals taktisch klug gewesen, weil es Hitler nicht gegen die katholisch Kirche aufgebracht habe, und dieser so immerhin ermöglicht, einige Juden zu retten.

Man kann diese vorgeschaltete Diskussion als Versuch Stückls deuten, differenzierter zu argumentieren als der Autor. Hochhuth hat wie ein Staatsanwalt Beweis um Beweis für die Schuld des Stellvertreters Gottes auf Erden zusammengetragen, bis die Beweislast erdrückend war.
Bei Stückl werden die Gegenargumente immerhin erwogen - wobei sich allerdings schnell herausstellt, dass das Entlastungsmaterial eher auf einer Propagandalüge der katholischen Kirche basiert, als auf der Wahrheit. Diese Wahrheit trägt Hochhuths Stück so ostentativ vor sich her wie ein Pfarrer die Monstranz an Fronleichnam. Weshalb sich das Drama – auch am Münchner Volkstheater – ähnlich überraschungsarm dahinschleppt wie eine Prozession an diesem Feiertag. Hochhuths Drama entspinnt sich, gekürzt zwar, aber in seiner Logik unangetastet.

Die beiden jungen Doktoranten aus der dazu erfundenen Rahmenhandlung verwandeln sich in Charaktere des Stücks, andere Figuren in historischen Kostümen – Priestergewänder und Uniformen – treten dazu. Pascal Riedel, anfangs derjenige, der Papst Pius XII. verteidigt, ist nun zu Riccardo Fontana geworden. Riedel spielt den Jesuitenpater, der das vatikanische Schweigen verurteilt, mit jugendlich-idealistischem Elan, kommt aber dennoch kaum gegen die Tatsache an, dass moralisch integre Charaktere die langweiligsten Rollen sind.

Und so ist ein bedrohlicher Ton, der immer wieder mal aus den aus Lautsprechern sirrt, über weite Strecken der fast dreieinhalbstündigen Aufführung das einzige, was Spannung verheißt - leider ohne dass die sich einstellt. Erst gegen Ende mag man sich für diesen Riccardo Fontana interessieren, der aus Protest gegen den Papst freiwillig ins KZ geht. Stückl lässt es da von der Decke regnen, und Pascal Riedel – nass und mit nacktem Oberkörper, auf den er sich mit schwarz verlaufender Farbe den Judenstern gemalt hat – gibt eine bejammernswertes Bild ab.

Ein mutig auf sich genommenes Martyrium sieht eben nicht zwingende heldenhaft aus. Mit blondem Bart und strähnigen Haare erinnert Riedel in dieser Szene gar an Jesus und dessen Hadern mit Gott, wie Stückl das in der Oberammergauer Passion inszeniert hat. Prompt stellt Riedel am Ende – nun wieder als junger Mann von heute - die Theodizee-Frage: "Was interessiert mich überhaupt der Stellvertreter, wo war damals eigentlich sein Chef?"

Mit dieser Frage, wie Gott das Böse, also auch den Holocaust, zulassen konnte, ist die Aufführung im theologischen Seminar angekommen - nach all dem Geschichtsunterricht zuvor. Der tut zwar auch heute noch Not, da statt aktiver Verdrängung argloses Vergessen einsetzt, weil die Erinnerung verblasst und die Zeitzeugen immer weniger werden. Nur: Theater könnte viel mehr als Lektionen zu erteilen.
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