Holocaust-Gedenken

Die Toten sind nicht unsere Toten

Der Stolperstein für Selma Jacobi in Berlin. Weil eine "Tatort"-Ermittlerin ihren Namen für die Krimi-Serie angenommen hatte, gab es Protest.
Ein so genannter Stolperstein im Berliner Straßenpflaster: Erst wenn die Scham über die Verbrechen der Nationalsozialisten abgeklungen ist, kann sie der Trauer weichen, sagt der Schriftsteller Per Leo. © dpa / Britta Pedersen
Von Per Leo · 29.01.2017
Am Holocaust-Gedenktag sollten die Nachfahren der Täter und die Nachfahren der Opfer auseinander treten, meint der Schriftsteller Per Leo. Denn die Verneigung vor den Opfern gehe einher mit dem Verbot, sich mit ihnen zu identifizieren. Leo plädiert für ein Gedenken aus Täterperspektive, das diesen Zwiespalt aushält.
"Die Heiterkeit, das gute Gewissen, die frohe Tat, das Vertrauen auf das Kommende – alles das hängt […] davon [ab], daß man ebenso gut zur rechten Zeit zu vergessen weiß, als man sich zur rechten Zeit erinnert; davon, daß man mit kräftigem Instinkte herausfühlt, wann es nötig ist, historisch, wann, unhistorisch zu empfinden."
Bezieht man diesen Satz aus Nietzsches zweiter "Unzeitgemäßer Betrachtung" auf den 27. Januar, klingt er anstößig. Kann es denn, wenn es um das Gedenken an den Holocaust geht, überhaupt ein anderes Motto geben als das hebräische Zachor!, den Imperativ, sich auf alle Zeit zu erinnern? Einerseits nein. Andererseits ist das deutsche Gedenken von Grund auf so zwiespältig, dass ihm die Zweideutigkeit des Aphorismus eher den Weg weisen kann als die Eindeutigkeit des Gebots.
Es gibt unter uns, den Nachfahren der Täter, einen starken Wunsch, unter keinen Umständen mehr zwischen "Deutschen" und "Juden" zu unterscheiden. Dieser Wunsch ist so berechtigt wie die Freude über das Wunder, dass heute Juden im Land ihrer Mörder wieder zuhause sein können. Dass das möglich ist, hat allerdings zwei Voraussetzungen: das Schuldbekenntnis auf der einen Seite, die ausgestreckte Hand auf der anderen.

Die Hetze gegen den "Schuldkult" der Deutschen enthält ein Körnchen Wahrheit

In Deutschland sollte der 27. Januar darum Anlass sein, sich dieser unhintergehbaren Zweiheit zu erinnern, nicht indem "Juden" und "Deutsche", sondern indem die Nachfahren der Täter und die Nachfahren der Opfer für einen Tag auseinandertreten. Es ist kein Graben, der dabei entsteht, wohl aber eine Linie, die ohne Einladung nicht übertreten werden sollte. Weil dieser wie jeder Zwiespalt schwer auszuhalten ist, neigen wir dazu, diese Linie zu verwischen. Aber genau das schwächt uns.
Wie sehr, zeigt sich gerade an der wütenden Hilflosigkeit, mit der wir die Hetze gegen den vermeintlichen "Schuldkult" der Deutschen abwehren. Diese Hetze ist gefährlich, weil sie, anders als die "Auschwitzlüge", ein Körnchen Wahrheit enthält. Solange wir das nicht einsehen, wird eine kleine Minderheit mit diesem Körnchen weiter genüsslich wuchern, auf Kosten aller anderen, und nicht zuletzt der Juden.
Das Körnchen Wahrheit liegt im Wort "Kult". Es ist wahr, dass Gemeinschaften im Totenkult zu sich selbst finden können. Die Juden in Israel erleben das Jahr für Jahr am Yom Hashoa, wenn um 10 Uhr für zwei Minuten die Sirenen heulen und das ganze Land in stillem Gedenken vereint ist. Wir dagegen können im Holocaust-Gedenken nicht zu uns selbst finden, weil die Toten nicht unsere Toten sind, sondern die von uns Ermordeten. Wir können aber zu uns selbst kommen, indem wir uns diese Unmöglichkeit vor Augen halten. Angemessen zu erinnern würde für uns dann heißen, die Verneigung vor den Opfern zusammenzudenken mit dem Verbot, uns mit ihnen zu identifizieren.
Diese Erinnerung aber täte weh. Sie geht nämlich einher mit der Zurückweisung unserer Umarmung, einer Kränkung, die sich einzugestehen genau die Trauer lösen könnte, zu der nach dem berühmten Wort von Alexander und Margarete Mitscherlich die Deutschen seit 70 Jahren "unfähig" sind. Unsere Trauer, das ist der bis heute unverstandene Kern dieser Diagnose, muss zuerst uns selbst gelten. Unsere Großeltern waren unfähig, um den Verlust ihres geliebten Führers zu trauern. Aber warum sollten wir nicht fähig sein, Scham zu empfinden über den abgewiesenen Wunsch, den Schmerz um die Opfer mit ihren Nachfahren zu teilen? Das wäre heilsam. Denn wenn die Scham abgeklungen wäre, könnte sie der Trauer darüber weichen, dass dieser Wunsch ja ebenso verständlich wie unerfüllbar ist.
Auf einer Straße gedenken Menschen an die Opfer des Holocaust
In Israel halten die Menschen inne zum Gedenken an die Opfer der Shoah; Aufnahme vom 5. Mai 2016© dpa / picture alliance / Abir Sultan

Erst durch den Kraftakt des Aufklärens kann das Vergessen seine Kraft entfalten

Wenn wir uns einen Tag im Jahr wirklich daran erinnern, dass die Täter aus unseren Reihen kamen, können wir es guten Gewissens für den Rest des Jahres vergessen. Dazu müssen wir aber unseren Blick über die Täter und Opfer hinaus weiten, bis wir die Verbrechen sehen, deren Erbe unser Zwiespalt ist: zu den Dokumenten, die vom Morden und vom Leiden berichten; zu den Büchern, die vor den Taten warnten oder sie denkbar werden ließen; zu den Gesichtern, in denen sich die Geschichte zeigt oder verbirgt. Erst durch den Kraftakt des Aufklärens kann das Vergessen seine Kraft entfalten.
So gestärkt, könnten wir uns heiter den Herausforderungen der Gegenwart stellen, nicht zuletzt auch den Attacken auf unsere Erinnerungskultur und dem wieder grassierenden Antisemitismus. Und dann, aber wirklich erst dann, ließe sich auch wieder stolz darauf sein, dass es Deutsche waren, die der Menschheit die Farbenlehre, die Relativitätstheorie und den Libero geschenkt haben. Wenn man es denn braucht.
Per Leo ist ein deutscher Schriftsteller und Historiker. Sein Roman "Flut und Boden" über die Familie seines Großvaters Friedrich Leo, eines früheren SS-Sturmbannführers im Rasse- und Siedlungshauptamt, befand sich 2014 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse.
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Per Leo© dpa / picture alliance / Arno Burgi
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