Hölle der Tyrannei

05.07.2012
In "Himmelstal" bündelt die schwedische Thrillerautorin Marie Hermanson die ganzen Schrecken unserer Zeit: in einer Klinik mitten im Schweizer Postkarten-Idyll. Weil sie die Schraube der Scheußlichkeiten immer stärker anzieht, bleibt irgendwann die Spannung auf der Strecke.
Ein Brief aus der Hölle? Daniel, ein junger Schwede, erschrickt, schaut noch einmal genau. Gottlob, "Helvetia" steht auf der Briefmarke, nicht "Helvete" (schwedisch für "Hölle"). Daniel ist Übersetzer und Lehrer in Uppsala, Single, eben in einer Lebenskrise.

Der Brief stammt von Zwillingsbruder Max, einer unsteten Gestalt, stets unterwegs in dunklen Geschäften. Die beiden wuchsen getrennt auf, sie sind einander fremd, haben kaum Kontakt. Er leide unter Burn-out, schreibt Max, und lebe zurzeit in einer luxuriösen Reha-Klinik tief in den Alpen. Name der Ortschaft: Himmelstal. Besuch erbeten; er, Max, trage alle Kosten.

Daniel reist zum Bruder in die Schweiz, er will das Treffen zügig absolvieren und dann weiterreisen, sich erholen. Doch aus ein paar Stunden in der Klinik werden Wochen, Monate. Denn Max verschwindet (er taucht ab in Mafiakreise), und Daniel wird an Max' Stelle im Paradies festgehalten.

Ja, Himmelstal wandelt sich zur Hölle. Felswände, dunkler Tann, kein Draht zur Außenwelt. Schlagbäume, Stromsperren, Wächter mit Waffen. Eine unterirdische Anlage, die "Katakomben" - OP-Trakt und Geheimgefängnis. Experimente mit Hirnsonden, mit Folter. Wer nicht pariert – egal ob Patient, Wärter oder Arzt –, den lässt der deutsche Klinikleiter ermorden. So ein Rebell verschwindet einfach, gilt als geflohen oder "verlegt".

Was steckt hinter dem Wahn? Die Wissenschaft. Klinikleiter Fischer und sein Team, "die Speerspitze der Neuropsychiatrie", erforschen mit Geldern der CIA das Wesen von Psychopathen. Die Supermacht USA wünscht für ihre nächsten Kriege empathielose Killer, gezähmte Bestien. Dr. Fischer, selbst ein Psychopath, will noch mehr: den rundum glücklichen, weil gefühlskalten Menschen. Die Opfer unter Probanden und Kollegen weiß der Doktor zu begründen. "Manchmal geht das Wohl der Allgemeinheit vor."

Eine schräge Story? gewiss. Die schwedische Thriller-Autorin Marie Hermanson, Jahrgang 1956, bündelt in ihrem jüngsten Roman viele Schrecken unserer Zeit. Der Leser hat Assoziationen: an Straflager, Dr. Mengele, die KZ-Sprache, an Milgrams Folterversuche der 60er und Orwells "1984", an die Colonia Dignidad und Guantánamo.

Lohnt die Lektüre? Allemal. "Himmelstal" verheißt Spannung, weil Wesen und Motive vieler Protagonisten lange im Dunkeln bleiben. Weil die Autorin die Schraube des Schreckens immer stärker anzieht. Weil ein hübscher Kontrast entsteht zwischen der Postkarten-Schweiz und der Schweiz des Romans.

Und die Schwächen des Buchs? Der Themenmix, diese Melange aus Scheußlichkeiten ermüdet irgendwann, das Happy End irritiert, die Figuren bleiben blass. Und der Text wirkt stark gebläht, im Ganzen wie im sprachlichen Detail. Gut 400 Seiten für einen Plot von 200. Und Füllwörter, lästig, in fast jedem Satz. Wer diese Mängel großzügig übersieht, wird gut unterhalten. Am Ende bekommt der Leser gar eine Lehre mit auf den Weg: Siehe, so schnell und unbemerkt wie in Himmelstal kann das Ideal einer freien Gesellschaft kippen in Terror und Tyrannei.

Besprochen von Uwe Stolzmann

Marie Hermanson: Himmelstal
Roman
Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer
Insel Verlag, Berlin 2012
428 Seiten, 14,99 Euro
Mehr zum Thema