Höfische Kultur und Politik in Wien 1815

Der Wiener Kongress - ein tanzender Kongress?

Der Wiener Kongreß vom 18. September 1814 bis 9. Juni 1815
Der Wiener Kongreß vom 18. September 1814 bis 9. Juni 1815: Diplomaten versuchten die vorrevolutionäre politische und soziale Ordnung in Europa wiederherzustellen. © picture alliance / dpa
Von Irene Binal · 27.05.2015
Vor 200 Jahren, am 9. Juni 1815, endete der Wiener Kongress. Als "tanzender Kongress" ging er in die Geschichte ein. Keine 20 Jahre nach der Französischen Revolution entfaltete der Adel in einer glanzvollen Inszenierung noch einmal all seine Pracht.
"Dieser Wiener Kongress ist so ein Zeitfenster, wo sehr viel möglich war und wo auch wirklich die gesellschaftlichen Grenzen ein bisschen verwischt wurden."
"Es war unbedingt die Absicht der Monarchen, zu zeigen, wir sind da, wir sind stark, und es gibt Gründe, warum wir eben nicht untergegangen sind, warum die Revolution besiegt wurde und wir eben die Revolution besiegten."
"Natürlich war das ja eine Restauration des Ancien régime in einer gewissen Weise und natürlich wollte man dieser bourgeoisen Attitüde, Trockenen, Sparsamen, Schlichten, ein bisserl was entgegensetzen. Und hat das betont und forciert, zumal ja auch die Akteure alle aus dieser Alten Welt kamen."
Wien im Walzertakt: rauschende Bälle, glanzvolle Soirées, prächtige Redouten. Nie zuvor waren so viele gekrönte Häupter und hochrangige Diplomaten an einem Ort versammelt, nie zuvor hatte es einen solchen Reigen von Festen und Veranstaltungen gegeben. Nach 23 Kriegsjahren feierte der Hochadel den siegreichen Frieden:
Eberhard Straub: "Der Frieden ist natürlich auch ein Fest der Freude und gibt Anlass zu vielen Triumphzügen, herrlichen Festopern, und es sollte auch das Volk ja mitfeiern, man machte ja große Feste auch im Prater, es gab da große Essen für die Veteranen von verschiedenen Schlachten in Frankreich, und irgendwo in der Ferne saß der Kaiser und schaute denen zu und prostete dann hinüber, das war natürlich alles einkalkuliert."
Der Berliner Historiker Eberhard Straub:
"Und zugleich sollte ganz Europa staunen, dass Österreich nach allzu vielen Kriegen immer noch in der Lage ist, das Geld förmlich zum Fenster rauszuschmeißen und die Welt zu beeindrucken mit Luxus, mit Eleganz, mit guter Küche, herrlichen Moden."
Die großen Festlichkeiten des Wiener Kongresses
Die Hofburg: Wo heute Touristengruppen die imperiale Architektur bestaunen, fanden vor 200 Jahren die großen Festlichkeiten des Wiener Kongresses statt, Redouten, Konzerte, Bälle. Der Wiener Kulturhistoriker Hannes Etzlstorfer:
"Hier hat das große Beethoven-Konzert am 29. November stattgefunden, wo Beethoven schon gehörgeschädigt mit großen Mühen dieses Konzert auch aufführt, hier finden auch die großen Bälle, die Maskenbälle auch statt, wo bis zu 8.000 Gäste, man muss sich das vorstellen, in diesem Areal unterkommen, das war nur deshalb möglich, weil in einer Art Raumabfolge, Kleiner Redoutensaal, Großer Redoutensaal und Winterreitschule bespielt wurden."
Die Damen in reich bestickten Kleidern und mit kostbarem Schmuck, die Herren in prunkvollen Uniformen. Der europäische Hochadel demonstriert, dass er noch lebt und dass die Revolution, die den französischen König den Kopf gekostet und Europa erschüttert hatte, bezwungen ist. Der österreichische Kaiser hat für seine Beamten eigens zum Kongress Uniformen anfertigen lassen, erklärt Monica Kurzel-Runtscheiner, die Direktorin des Wiener Wagenburg-Museums, das eine Ausstellung zum Wiener Kongress zeigt:
"Weil er will, dass sie an allen Festen teilnehmen. Und wenn die nicht adäquat gekleidet sind, können sie nicht auf die Feste gehen, da genieren sie sich, daher haben alle jetzt also diese prächtigen Uniformen bekommen und wie schön die waren, das kann man hier in der Ausstellung wirklich, glaube ich, sehr gut nachvollziehen."
Goldstickereien auf schwarzem Grund – man wusste sie zu lesen.
Kurzel: "Man sieht einfach, so viel Gold auf einer Uniform, das ist jemand, der ganz, ganz wichtig ist. Das sieht man glaube ich auch heute noch sofort, wenn man das mit den anderen hier vergleicht, die haben auch Gold, aber nicht annährend so viel; man muss sich aber klar sein, dass das wirklich eine Sprache war, die man damals verstanden hat, das heißt, man hat gesehen, Muster. Ist ein Diplomat, ist ein Staatsbeamter, ist ein Hofwürdenträger, Reichtum der Stickerei: ist hoch oder niedrig innerhalb seiner Hierarchie."
Während sich die hohen Herren und Damen in den oberen Etagen vergnügten, herrschte in den unteren Geschossen hektische Betriebsamkeit, erzählt Hannes Etzlstorfer:
"Wir haben hier vorne den Haupteingang auch zur ehemaligen Hofküche, wo also fast jeden Tag an die 800 Leute verköstigt werden mussten, das darf man nicht vergessen, dass das also wirklich einen großen Aufwand bedeutet hat, und um diese Gäste zu verköstigen, musste auch das Dekorum passen. Das heißt, es musste dementsprechend auch aufgedeckt werden, es gab also dann unterschiedliche Berufsgruppen, den Tafeldecker, die Oberlakaien, also fast alles Spezialisten, die dafür Sorge getragen haben, dass hier das alles funktioniert."
Was nicht immer der Fall war. Mal mangelte es an Goldgeschirr, mal erschienen manche Sitten am Wiener Hof den ausländischen Gästen seltsam. Zar Alexander etwa machte eine merkwürdige Beobachtung:
"Es wird das Essen aufgetragen, die großen Platten mit den köstlichen Speisen, Fasan mit Trüffel, werden auf den Tisch gestellt und dann kommt der Tranchiermeister, nimmt diese Platte auf den Nebentisch, tranchiert es und die Speise kommt nie mehr wieder auf den Tisch. Und dann schaut er da mal genau und sieht, wie dann diese Speisen immer hinter einer Gardine verschwinden. Er sieht dann hinter diesem Vorhang dann einen Silberkorb, wo alle diese Speisen dort, die abgezweigt worden sind, verschwunden sind, klaut sich einen solchen, nimmt ihn in sein Zimmer und lädt dann Kaiser Franz ein. Kaiser Franz ist etwas überrascht und erzählt ihm dann die Geschichte, wie das hier funktioniert. Da hat man diese Speisereste, kostbarstes Fleisch, diese sogenannten Deputate, dann im Volk entweder verschenkt oder verkauft. Dann gab es in Wien also eigene Berufsgruppen, die sogenannten Schmauswaberl. Die Schmauswaberl haben also von diesen Resten von diesem höfischen Essen dann noch ein Geschäft draus gemacht."
Der Preis, den der Kaiser in Wien für die Demonstration seiner Macht und Herrlichkeit zahlte, war hoch.
"Jedenfalls hat der Kongress den österreichischen Staat viel mehr gekostet als die ganzen Feldzüge gegen Napoleon."
Kaiser Franz Joseph I. von Österreich, Gemälde von E. Laszor, 1899
Kaiser Franz Joseph I. von Österreich-Ungarn© dpa/picture alliance/MTI
So der Historiker Eberhard Straub. Rund 80.000 Gulden kostete der Kongress die österreichische Staatskasse pro Tag, das entspricht heute ungefähr 800.000 Euro. Kaiser Franz glaubte zunächst, dass der Spuk nach drei Monaten vorbei sei. Aber der Kongress zog sich in die Länge, die hohen Gäste reisten nicht ab. Und so zahlte der Kaiser weiter, ließ Geld drucken, erhöhte die Steuern. Dahinter steckte politisches Kalkül, meint Hannes Etzlstorfer:
"Charles de Ligne, dieser wunderbare Kommentator des Wiener Kongresses hat eine sehr schöne Formulierung gefunden, die ich nicht nur für dieses Vertragswerk des Wiener Kongress als ein schönes Bonmot betrachten würde, sondern fast generell für solche politischen Veranstaltungen, er hat gesagt: das Vergnügen erzielt den Frieden. Wir wissen doch bitte aus eigener Erfahrung, dass die vielleicht streitsüchtige Tante bei einem wunderbaren Mittagessen vielleicht schon um eine Spur versöhnlicher ist und vielleicht irgendwann dann doch überlegt, die Erbschaft jemandem zu überschreiben; wenn das knochenhart auch abgeht."
Die Bevölkerung freilich wurde zunehmend ungeduldig. Bald kursierte in Wien ein bissiges Bonmot:
"Das ist eine neue Art, Krieg zu führen: den Feind auffressen."
Und ein Polizeireport berichtete vom Auftritt eines verärgerten Wieners in der Kärntnerstraße, der sich über die hohen Kosten und die galoppierende Inflation entrüstete:
"Auf diese Art müssen wir alles bezahlen und beim Kongress wird nichts gemacht. Bleiben diese Fremden noch drei Monate, so ist der Kurs auf 500. Sie kaufen unser Gold, fressen uns auf und spotten unser. Man sollte sie zum Teufel jagen."
Eine Demonstration der Macht
Was sich in Wien 1814/15 abspielte, war einerseits eine Demonstration der Macht der alten Gewalten in Europa – andererseits aber auch ein Schauspiel der gesellschaftlichen Verschiebungen. Ausdrücklich wurde das gehobene Bürgertum in die Festlichkeiten einbezogen und die Monarchen präsentierten sich so volksnah wie nie zuvor, erzählt Eberhard Straub:
"Sie gehen ins Kaffeehaus, sie gehen in die Weinstuben, sie gehen am Graben, das ist gleichsam der Salon des Wiener Kongresses, man trifft sich auf der Straße, plauscht und redet auf der Straße - das hat es so in dem Sinn noch nie gegeben, dass die Monarchen gleichsam auf der Straße oder im Kaffeehaus zu beobachten waren, und dass man, wenn man gewollt hätte, dem Kaiser als erstem Hofrat seiner Monarchie auf die Schulter hätte klopfen können und sagen: Majestät, wir danken Ihnen oder sonst etwas. So weit ging natürlich der Respekt, dass man so etwas nicht machte, aber es war immerhin etwas völlig Ungewöhnliches, dass Hochadelige eben nicht in ihrem Schloss Händler empfangen und dann dort feilschen, sondern dass sie nun selber an der Ladentheke stehen, sich anschauen, was gibt es, und dann über den Preis diskutieren, das war etwas durchaus Neues und das ist ein etwas sehr bürgerliches Verhalten dann wieder."
Der Graben, die Einkaufsstraße Wiens, heute wie damals. Der Stephansdom um die Ecke, die Hofburg in der Nähe. Noch heute trifft man hier die Nachfahren jener Aristokraten, die vor 200 Jahren die Geschicke Europas lenkten:
"Da drüben geht einer der - aus dem Mitglied des Hauses Liechtenstein, ich glaube, das ist der Konstantin von Liechtenstein. (...) das Haus Liechtenstein hat ja auch eine große Rolle im Wiener Kongress gespielt und die Geschichte der Familie Liechtenstein prägt ja auch Österreich."
Auch 1815 konnte man hier Fürsten und Prinzen begegnen, sie beobachten, ihnen näher kommen als je zuvor – was allerdings eine nicht selten desillusionierende Erfahrung war, wie Eberhard Straub schreibt:
"Allzu viele Prinzen auf einen Haufen wirkten ernüchternd, denn sie unterschieden sich so gar nicht von gewöhnlichen Sterblichen oder machten sich verächtlich, weil sie allzu gewöhnlich wirkten aufgrund von Trunkenheit, Prügeleien und Liederlichkeiten. Das Geheimnis der Gekrönten, durch die Distanz gewahrt, verlor sich in der alltäglichen Nähe."
Und diese postrevolutionäre Aufhebung der Distanz zwischen Adel und Bürgertum war eine Erfahrung, die auch politische Konsequenzen haben sollte, so Straub:
"Insofern ist das dann eben bei der Revolution von 48 natürlich dann auch ein Argument, dann zu sagen, ja, warum soll der Adel noch privilegiert werden, eigentlich verhält er sich auch nicht mehr anders als jetzt irgendwelche Patrizier aus Frankfurt oder aus Köln oder wo auch immer."
Wien 1815. Die Potentaten ahnen nicht, dass sich etwas in den Köpfen der Bürger verändert; erst einmal genießen die alten und neuen Herren die ungewohnte Freiheit. Zar Alexander präsentiert sich als Charmeur, der die Wiener Damenwelt ausgiebig erkundet.
"Der russische Zar war ja einer, der erst einmal sehr gut Deutsch sprach und der das Volksleben genauso geliebt hat wie die Etikette. Und der ein großer Womanizer war. Ein absoluter Womanizer, für den es nicht so wichtig war, ob es die Gräfin Soundso oder die Baronin Soundso war, sondern es sollte eine herzhafte Liaison sein, wenn sie hübsch ist, dann ist es gar kein Problem, und er geht deshalb in der Nacht meistens irgendwo auf welche Bälle in den Vorstädten."
Demonstrative Volksnähe – das scheint das Gebot der Stunde nach der Französischen Revolution, hat Hannes Etzelsdorfer festgestellt, auch beim österreichischen Kaiser Franz:
"Wenn er zum Beispiel zwei Kanarienvögel hat, Bibi und Büberl, die sogar auf seinem kaiserlichen Haupt ihr Geschäft verrichten dürfen, dann sind das solche lancierten Geschichten, die nach außen diese Volksnähe demonstrierten, wohl auch ein bisschen auch genährt von dieser Angst, wozu ein Volk imstande ist, wenn es darum geht, die bestehenden Zustände zu kippen. Am Beispiel seiner Tante Marie Antoinette."
Ein Requiem zu Ehren Ludwigs XVI.
Die Erfahrung der Revolution, die Hinrichtung des französischen Königs und seiner Frau, steckt den Kongressteilnehmern noch in den Knochen. Nicht zufällig wird im Wiener Stephansdom im Januar 1815 ein Requiem zu Ehren Ludwigs XVI. aufgeführt:
"Vielleicht ist auch dieses feierliche Requiem, 22 Jahre, und das ist ja keine kurze Zeit nach der Hinrichtung von Ludwig XVI., hier in Wien, noch dazu in sicherem Abstand, auch nach außen hin so ein Signal: hier soll etwas beendet werden. Hier soll ein Schlussstrich gezogen werden, für ein Europa, das ohne diese Umstürze auskommt."
Dieses Ziel verfolgten auch die Diplomaten beim Wiener Kongress: Frankreichs Außenminister Talleyrand, sein britischer Amtskollege Lord Castlereagh, der russische Minister Karl Robert von Nesselrode, der Preuße Karl August von Hardenberg und allen voran der österreichische Außenminister Klemens Wenzel Lothar von Metternich. „Der Kongress tanzt" – das war nur die Begleitmusik eines harten Ringens um die politische Neuordnung Europas.
"Es stimmt ja nicht, dass das eine Tanzveranstaltung gewesen wäre. Sondern es wurde sehr, sehr ernsthaft gearbeitet, es wurde sicher mehr gearbeitet und an Völkerrecht produziert als jemals zuvor in der Geschichte, das muss man auch sehen, also das war der arbeitsamste Kongress, den es überhaupt gab bis zu diesem Zeitpunkt."
Manfred Matzka sitzt in einem Büro in jenem Gebäude, das das politische Zentrum des Kongresses bildete: in der damaligen Staatskanzlei, dem heutigen Bundeskanzleramt am Ballhausplatz. Die Räumlichkeiten sind weitgehend unverändert geblieben: hohe Flügeltüren, knarrendes Parkett, prachtvoller Stuck an Wänden und Decken. In Matzkas Büro hängt das berühmte Metternich-Porträt von Thomas Lawrence. Matzka ist heute Sektionschef, Leiter der Sektion I im österreichischen Bundeskanzleramt. Beim Blick auf das Metternich-Porträt ist Matzka erfüllt von Hochachtung für das, was Metternich beim Wiener Kongress erreicht hat:
"Also der junge Metternich in der öffentlichen Funktion, das hat schon was. Gedanke des Ausgleichs, Gedanke des Friedens, die Fähigkeit, diese divergenten Interessen an einen Tisch zu kriegen, ein Ergebnis zustande zu bringen, das sich durchaus sehen lassen kann; ich meine, da kam schon mehr raus als bei einem heutigen durchschnittlichen UNO-Gipfel oder EU-Gipfel, also das muss man schon sehr positiv bewerten und schlussendlich, hundert Jahre ohne einen globalen Krieg in Europa, ich würde nicht sagen, Frieden, da muss man auch sehen, es sind erstmals Generationen von Männern aufgewachsen, die nicht in den Krieg ziehen mussten. Das gab es vorher nie, nie, nie in diesem Kontinent."
Die damalige Atmosphäre in der Staatskanzlei freilich war von der Nüchternheit der heutigen, bürokratischen Arbeit weit entfernt. Wo Matzka heute seine amtlichen Pflichten erfüllt, wohnte Metternich vor 200 Jahren mit seiner Frau und zahlreichen Kindern, sein Privatleben vermischte sich mit der großen Politik:
"In dem Raum, in dem an einem Tag getagt wurde, wurde am nächsten Tag getanzt, das war derselbe Raum. Und während der Talleyrand hier über die Treppe heraufging, mit seinem Stock humpelnd, sind wahrscheinlich zwei kleine Kinder des Metternich hinter ihm hergelaufen und haben ihn verspottet, weil er so gehumpelt hat. Und es wurde ein Kind geboren zur Zeit des Wiener Kongresses in diesem Haus, das heißt, es sind auch, wenn man aus dem Fenster des Sitzungsraumes geblickt hat, Windeln draußen gehängt."
Man kann sich gut vorstellen, wie etwa Castlereagh und Talleyrand die Staatskanzlei betraten ...
"... treffen unten in der Einfahrt zwei Stallburschen, die gerade die Pferde ausschirren, und vier Wäschermädel mit großen Körben mit den Windeln, ja? Riechen dann, wenn um neun Uhr vormittags für die Kinder irgendetwas gekocht wird, das zieht sich durch das ganze Haus, weil die Küche war unten, und da wird schon der eine oder andere Konferenzteilnehmer gesagt haben: Das Gulasch ist heute besonders gut, bringt uns auch eines vorbei ..."
Der Kongresssaal sieht noch heute genauso aus wie damals: 7,40 Meter hoch, in Rot und Gold gehalten, reich verziert mit Stuck und Ornamenten. Hier wurde untertags verhandelt und abends getanzt. Die Lüftungsgitter an der Decke sorgten freilich nicht nur für Frischluft:
"In dem Raum darüber, in den die Lüftungsgitter hineingehen, hat man eine hervorragende Akustik. Wenn man oben sitzt, hört man hier herunten jedes Wort, und das wurde dazu verwendet, dass beim Wiener Kongress oben die Schreiber saßen und mitgeschrieben haben, Metternich war informiert über Sitzungen auch, an denen er nicht teilgenommen hat; das hat man später, wie er ein schlechtes Image gekriegt hat, ihm als Spionage und Bespitzelung ausgelegt, das soll man wahrscheinlich nicht so streng sehen, das war die damals übliche Form der Tonaufzeichnung."
Und im Kongresssaal kam es wohl auch zu einer denkwürdigen Szene:
"Die anderen vier Mächte hatten schon alles ausgemacht, wie das Ganze läuft und so weiter und so fort, ohne Frankreich, und dann kam Talleyrand und hat offensichtlich in einem Parforceritt in die Sitzung hineinstürmend, brillant redend, sehr lautstark, sehr unhöflich, sehr dezidiert, die jungen Buben nach Strich und Faden niedergemacht, junge Buben meine ich, er war um 20 Jahre älter als die anderen, und am Ende dieser Sitzung war das Konzept über den Haufen geworfen, war ein anderes da."
Der französische Außenminister Talleyrand sorgte dafür, dass das im Krieg unterlegene Frankreich als gleichberechtigter Partner im Konzert der Mächte mitspielte. Eberhard Straub und Hannes Etzlstorfer sehen darin eines der Geheimnisse für den Erfolg des Kongresses.
"Man wollte sich nicht moralisch die Kleider vom Leib wechselseitig reißen, sondern sagte: Naja, das sind deine privaten Angelegenheiten, wir wollen jetzt nicht darüber nachdenken, was war, sondern was können wir jetzt gemeinsam mit all unseren verschiedenen Lebenserfahrungen, mit einer gewissen Liberalität und Toleranz gemeinsam unternehmen, um eben zu einem Europa zu kommen, in dem jetzt nicht Doktrinäre mit ihren Abstraktionen herrschen und die anderen jeweils kriminalisieren und verunglimpfen, die anderer Meinung sind, sondern dass man sagt, wir müssen gemeinsam das finden, was uns verbindet, damit wir zusammen zu einer neuen Ordnung kommen, in der sich dann wirklich so etwas wie ein Friede verwirklichen lässt."
"Da kommt dann der britische Castlereagh mit einer sehr schönen Bemerkung in den Vordergrund, der dann sagt: Bei diesem Kongress sollte eine Devise sein: Security. Not revenge. Vielleicht ist das auch Grund und das ist sehr oft untergegangen, dass sich eigentlich diese Resultate aus diesen Beschlüssen genau genommen bis 1918 gehalten haben."
Geschachere um Länder und Macht
Die Neuordnung Europas beim Wiener Kongress wird heute oft als zynisches Geschachere um Länder und Macht gesehen, als herzlose Politik einer abgehobenen Adelsschicht. Eine Meinung, die Manfred Matzka nicht teilt:
"Da war schon auch Klugheit dabei. Kluge Überlegung, ein Gleichgewicht, eine Balance der Mächte zu schaffen, da war also Theorie dahinter, da war völkerrechtlich diplomatische Theorie dahinter, diese Idee der Balance, der Mächtebalance, des Ausgleichs, das kommt aus der Aufklärung, das ist ein wichtiger politikwissenschaftlicher Theorieansatz dieser Zeit und den hat man erkannt und mitgetragen und hineingetragen."
Die Verhandlungen gestalteten sich freilich nicht einfach. Schon 14 Tage nach Beginn des Kongresses meinte ein russischer Delegierter:
"Ich glaube, es wird wieder Krieg geben, ich sehe keinen anderen Ausweg, wir sind uns über nichts einig."
Tatsächlich: Gestritten wurde viel, über die Neuaufteilung Polens etwa oder über die Ächtung des Sklavenhandels. Trotzdem kam am Ende eine von allen Beteiligten gutgeheißene Schlussakte heraus - eine bemerkenswerte politische Leistung, wenn man vergleicht, wie sehr hundert später die bürgerlichen Akteure beim Versailler Vertrag versagt haben. Waren die Adeligen die besseren Diplomaten? Manfred Matzka und Hannes Etzlstorfer meinen:
"Es war damals schon nicht mehr das alte Ancien Régime mit dem eingesessenen Hochadel, sondern es waren, Klammer auf: Durchaus adelige, Klammer zu, Profis, die ihre Karriere gemacht hatten im Auswärtigen Dienst, im internen Dienst, die auch kein Problem hatten, in ein anderes Land zu gehen und dort Außenminister zu werden. Also insofern war das nicht mehr der alte Adel, das war schon eine neue Adelsgeneration."
"Sagen wir mal so: Es gab unter diesen Persönlichkeiten aus dem Hochadel sehr viele Repräsentanten mit großem, europäischem Weitblick."
Wien, Kärntner Straße. Wo heute Touristen und Einheimische an den zahlreichen Geschäften vorbeiflanieren, drängten sich vor 200 Jahren die Kutschen und Kaleschen. Auch die wurden vom österreichischen Kaiser zur Verfügung gestellt. Denn eine normale Reisekutsche war für die Herrschaften in der Stadt nicht gut genug, erklärt die Direktorin der Wagenburg, Monica Kurzel-Runtscheiner:
"Ein Herr von Stand oder eine Dame von Stand konnte mit so einem Ding unmöglich in der Stadt unterwegs sein, das wäre, als würden wir heute mit dem Jogginganzug in die Oper gehen. Das geht einfach nicht."
170 neue Fahrzeuge gebaut
Also mussten neue Kutschen her:
"Da hat man dann in Wien in kürzester Zeit 170 neue Fahrzeuge gebaut und hat sich etwas vollkommen Neues ausgedacht, um das besser administrieren zu können, man hat nämlich wirklich erstmals in der Geschichte einem Fuhrpark eine Corporate Identity gegeben. Das heißt man hat zwar verschiedene Typen von Kutschen gebaut, weil man ja für unterschiedliche Tageszeiten und unterschiedliche Anlässe unterschiedliche Wagentypen gebraucht hat, aber sie wurden alle einheitlich gestaltet, und zwar in einem ganz dunklen Grün lackiert, das sieht heute eher wie schwarz aus, weil natürlich ein 200 Jahre alter Firnis drauf ist, der nachgedunkelt ist, das ist aber ein dunkles Grün, eine wunderschöne Bordüre aus echtem Gold, alles mit Blattgold, diese wunderschöne Eichenlaub-Bordüre, die hier die Paneele ziert, Vergoldungen an den Rädern und am Fahrgestell und das ist alles einheitlich. Und plötzlich war also die ganze Stadt voll mit diesen grünen Kutschen. Und die waren unglaublich schick und modern, der neuesten Mode und der neuesten Technik entsprechend und das war eine Sensation, nicht nur für die Wiener, sondern wirklich praktisch alle Fremde, die in Wien waren und die Briefe, Tagebücher oder Berichte hinterlassen haben, die schreiben über diese grünen Kutschen."
Diese grünen Kutschen wurden den Monarchen vom Hof für die Dauer ihres Aufenthalts zur Verfügung gestellt, komplett mit Kutscher und Pferden. Für alle anderen entwickelte man eine Art Bestellservice:
"Für die hat man Formulare gedruckt, dann gab es vier Standorte in der Stadt, wo rund um die Uhr Kutschen, Pferde, Kutscher und auch Personal für die Wartung der Fahrzeuge war, und dort konnte man diese Kutschen beziehen. Das heißt, man hat das Formular ausgefüllt, hat gesagt was für einen Wagen man braucht, wie viele Pferde man dazu haben möchte und wo man abgeholt werden möchte, und dann musste der Kutscher innerhalb von 15 Minuten vor Ort sein und einen abholen."
Es muss ein eindrucksvolles Bild gewesen sein: Hunderte Kutschen in elegantem Dunkelgrün in den Straßen Wiens. Zwar kam es immer wieder zu Unfällen, wenn die Kutscher etwa Passanten über die Füße fuhren, oder zu gewaltigen Verkehrsstaus, in denen man stundenlang feststeckte. Dennoch waren die Gäste beeindruckt. Ein Besucher schrieb:
"Das, was man nicht genug preisen kann, sind die Hofequipagen und die Art, wie dieser Service organisiert ist. Es ist unglaublich, wer aller einen Hofwagen hat - man sieht in den Straßen mehr davon als Fiaker. Sie sind alle neu, schön, gut gehalten, haben schöne Pferde und gut gekleidete, gut aussehende Kutscher."
Abstecher nach Schönbrunn, in das damalige Sommerschloss des Kaisers, in dem für die Dauer des Kongresses zahlreiche Mitglieder seiner Familie wohnten, um in der Hofburg Platz zu schaffen. Das prunkvolle, in edlem Kaisergelb gehaltene Schloss erinnert an eines der größten gesellschaftlichen Ereignisse beim Kongress: die berühmte Schlittenfahrt.
"Schlittenfahrten waren etwas, was in der höfischen Kultur im Barock immer gemacht wurde, man hatte aber zu diesem Zeitpunkt seit ungefähr 30, 40 Jahren in Wien keine Schlittenfahrt mehr gemacht, es gab auch keine Schlitten mehr. Daher musste man jetzt in kürzester Zeit ganz viele prunkvolle, schöne, neue Schlitten anfertigen und zwar wieder nach der neuesten Mode und nach der neuesten Technik, mit diesen ganz zarten, edlen Empire-Formen; anders als die Schlitten des Barock hängen diese sogenannten Pirutsch-Schlitten in Federn, sind also besonders bequem, da sitzt wieder ein Herr und eine Dame nebeneinander und der Herr lenkt."
Mehr als 30 dieser prunkvollen Schlitten fuhren am 22. Januar 1815 von der Hofburg nach Schönbrunn, begleitet vom Geläut zahlreicher Glöckchen:
"Diese Glöckchen haben unterschiedliche Töne, die aufeinander abgestimmt sind, sodass die Pferde sozusagen eine Art Musik spielen, während sie laufen ..."
"Die Straßen waren überall von Zuschauern gesäumt, die Leute haben sich Plätze an Fenstern und Balkonen gesichert, um das anschauen zu können, dann kamen die Schlitten hierher vor dem Schloss, der Teich war zugefroren, da gab es Schlittschuhläufer, die Kunststücke vorgeführt haben, einen Engländer, der hat dann mit seinen Kufen die Namen der anwesenden Damen ins Eis geschrieben, dann ging man in die große Galerie, hat ein Essen bekommen und im Schlosstheater gab es eine Theatervorführung, und dann ist man abends bei Fackelschein wieder zurückgefahren in die Stadt, da gibt es auch einen Bericht von einem Engländer, der sagt, aus der Ferne hat das ausgeschaut wie ein Feuerfluss, der sich durch den Schnee schlängelt, weil Fackelträger diesen Zug begleitet haben."
Für Europa bis dahin einmalige Friedensordnung
Als der Wiener Kongress am 9. Juni 1815 zu Ende geht, ist Napoleon noch nicht endgültig besiegt, aber sein Ende in der Schlacht von Waterloo am 18. Juni steht unmittelbar bevor. Österreich, Russland, Preußen, Großbritannien, Frankreich, Portugal, Spanien und Schweden unterzeichnen die Kongressakte und schaffen mit ihr eine für Europa bis dahin einmalige Friedensordnung. Das Erlebnis der Französischen Revolution ist stark genug, um die Interessenkonflikte zwischen den Dynastien zu überwinden.
Wien: Bis heute ist die Erinnerung an den Kongress von 1814/15 lebendig geblieben - an Glanz und Prunk, an Feste und Feierlichkeiten, die bei Gipfeltreffen des bürgerlichen Zeitalters undenkbar wären. Auch heute gibt es ein gesellschaftliches Rahmenprogramm, aber ...
"Wenn wir uns heute diese internationalen Tagungen und Kongresse auch anschauen, passieren sie auch unter völligem Ausschluss der Öffentlichkeit, es ist heute notwendig, durch Sicherheitsabkehrung auch so viel Distanz zu diesen Gästen zu schaffen, dass sie auch dieser Dinge auch optisch nicht habhaft werden."
Der Wiener Kongress ist lang vorbei, aber im Zentrum des einstigen Geschehens knüpft Manfred Matzka, der Sektionschef des österreichischen Bundeskanzlers, gern an die alten Erfahrungen an:
"Was geblieben ist, ist die Message: Wien ist eine gute Stätte für internationale Begegnungen, wo Frieden geschaffen wird und etwas rauskommt, was der Menschheit nutzt. Das war damals so, das ist heute so, das wird auch in Zukunft so sein. Ich sage das mit einem Schmunzeln, aber da ist ein Körnchen Wahrheit drin, nicht?"
Bis heute gültig ist zumindest die Lehre, die Frankreichs Außenminister Talleyrand aus dem Konferenzmarathon zog:
"Seit die Mächte ihre Befangenheit abgelegt und erkannt haben, dass zu einer soliden Ordnung der Dinge jeder Staat alle Vorteile darin finden muss, zu denen er sich berechtigt sehen darf, hat man aufrichtig daran gearbeitet, einem jeden das zuzugestehen, was keinem anderen einen Schaden zufügte. Dies war ein unermessliches Unterfangen."
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