Hochkultur im alten Orient

Von Carsten Probst · 24.04.2013
Die Einwohner von Uruk in Mesopotamien, das heute im Irak liegt, hatten bereits eine eigene Schrift, ein eigenes Verwaltungssystem und Handelskontakte bis nach Syrien. Eine Schau im Berliner Pergamonmuseum zeigt das Leben der damaligen Menschen anhand von Fundstücken und mithilfe von 3D-Animationen.
Ausstellungen über archäologische Funde werden immer mehr zu Sternstunden von visueller Animationstechnik. Ein nicht geringer Anteil der Pressemitteilungen zu der Ausstellung widmet sich dem Stolz der Veranstalter über umfangreiche 3D-Rekonstruktionen einer altertümlichen Stadtlandschaft, die kein lebender Mensch je gesehen hat, oder über hochauflösende Satellitenbilder, die die Lage der weit verteilten Funde auf dem Gelände verorten lässt, und eines Ausstellungsdesigns, das den Besucher mit hohem technischen Aufwand durch typische Gestaltungsmerkmale der ausgegrabenen Stadt führt, so als bewege er sich durch die Stadt selbst.

Im Fall von Uruk wirkt der Gegensatz zwischen den 5000 Jahre alten Fundstücken und den technologischen Spielereien der Gegenwart besonders krass, weil es dieser Ausstellung zwar gelingt, eine gewisse Atmosphäre zu erzeugen, den Gegenständen aber zugleich durch die übermotivierte Visualisierung von nicht mehr Sichtbarem jedes Geheimnis nimmt. Ein Geheimnis, das die Projektleiterin Nicola Crüsemann vom Reiss-Engelhorn-Museum in Mannheim eigentlich in schönen Worten zusammenfasst:

"Die Schrift ist ein ganz einfaches Beispiel dafür. Die Verwaltungsstrukturen - es entsteht da auf einmal ein Verwaltungssystem. Und deswegen kann man das sehr gut, dass man letztendlich dann eine Verbindung bis in die Gegenwart zieht. Also einerseits spielte das im ganzen Orient, im alten Orient, eine wichtige Rolle, aber viele Dinge, die dort entstanden sind, spielen in den großen Städten oder in den Städten überhaupt im Leben eine Rolle."

Tatsächlich kann man für den Bereich des Nahen Ostens wohl davon ausgehen, dass in Uruk erstmals ein kohärentes Schriftsystem erfunden wurde - aus Verwaltungsgründen vermutlich, um Gesetze und Urkunden zu schreiben und so ein sich ständig ausweitendes Gemeinwesen zu lenken – aber eben nicht nur. Erstmals ging es um die Verschriftlichung von Macht und territorialer Ausdehnung.

Nicola Crüsemann: "Es gab zu der Zeit noch keine Staaten, es gab erstmal letztendlich Siedlungen. Einzelne Städte, Stadtstaaten entstanden dann daraus im nächsten Schritt. Und dann kamen die großen Staaten. Aber natürlich war Uruk ein großes Machtzentrum.

Und es gibt mehrere kleinere Siedlungen drum herum, die eng mit Uruk in Verbindung stehen. Und es gibt sogar enge Kontakte bis nach Syrien beispielsweise, bis in Iran hinein, wo man dieselben Funde gemacht hat, also Glockentöpfe oder bestimmte Dinge, die man in Uruk gefunden hat, die hat man dort auch gefunden.

Das heißt, was für den Reichtum der Stadt notwendig war, musste gehandelt werden. Also es musste Holz geholt werden. Es mussten Steine geholt werden. Und man vermutet, dass es so eine Art Handelskolonien eben gab, in denen dann von dort aus die Sachen gebracht wurden."

Das alles zeigen die Fundstücke dieser Ausstellung – die meisten von ihnen sind klein, mitunter geradezu winzig, wie die Rollsiegel oder Keilschriftfragmente, die gleichwohl in ihrem unerhört feierlichen Ton, der auch durch die Übersetzungen noch hindurchklingt, rätselhaft anrühren. Andere, wie eine Kultvase oder der Kopf der "Frau von Warka", wie Uruk auf Arabisch heißt, sind solitäre Erscheinungen figurativer Plastik.

Diese Fundstücke liefern kein komplettes Bild, viele Fragen zum Leben am Euphrat um die Zeit 3000 vor Christus bleiben offen. Und doch rückt einem die Geschichte dieser Stadt und ihr Geheimnis ganz von selbst nah. Denn Uruk war schon zu seiner Blütezeit eine Fiktion. Die Schrift wurde eben nicht nur zu Handels- oder Gesetzeszwecken erfunden, sondern um dieser Stadt eine eigene Überlieferung zu schreiben, einen Mythos, dessen Bedeutung weit über seine Zeit hinausstrahlt: das sogenannte Gilgamesch-Epos.

Nicola Crüsemann: "Also Gilgamesch ist ja eben dieser König von Uruk. Und dieser König Gilgamesch beschließt ja dann zum Schluss, die Stadtmauer zu bauen und auch große Gebäude im zentralen Bereich zu errichten. Und diese Stadtmauer vermutet man in der großen Stadtmauer, die gefunden wurde.

Aber das ist immer der Versuch einer ungefähren Einordnung, weil man auch nie genau weiß, ob Gilgamesch wirklich ein realer Herrscher war. Aber es gibt natürlich Verbindungen und auch Elemente, die in diesem Gilgamesch-Epos vorkommen, beispielsweise der Handel oder die Verbindung von Herrschern und Göttern. All diese Themen, die für Uruk zentral waren oder für den alten Orient, für das Stadtleben, tauchen im Gilgamesch-Epos auf."

Das Epos vereint Motive, die in zahlreichen Grundtexten des Orients und Okzidents tradiert und wieder aufgegriffen werden. Der Held, der eine Reise antritt und die Götter herausfordert, um sich selbst zu erkennen, taucht in Homers Odyssee wieder auf. Die Schriften des Alten Testaments bedienen sich der Überlieferung orientalischer Liebeslyrik bei Gilgamesch im Hohelied Salomos ebenso wie im Buch Genesis der Darstellung einer Sintflut.

Durch den vertrauten Epen-Kanon des Orients hindurch erscheint Uruk als fast ungreifbarer, erzählerischer Ursprung, den keine noch so aufwendige technische Animation wird einfangen können. Diesen Schatz der Imagination hätten die Ausstellungsmacher gegen die technokratische Bilderflut der Animateure verteidigen sollen - dann wäre dies eine herausragende Ausstellung geworden.