Hochbegabten-Förderung

"Die Lehrkräfte sind damit überfordert"

Ein Schulkind steht nachdenklich vor einer an der Wand aufgehängten Zahlenreihe.
Ein Schulkind steht nachdenklich vor einer an der Wand aufgehängten Zahlenreihe © picture alliance / ZB / Thomas Eisenhuth
Olaf Köller im Gespräch mit Dieter Kassel  · 29.01.2018
Der Bildungsforscher Olaf Köller begrüßt, dass leistungsstarke Schüler und Schülerinnen stärker gefördert werden sollen. Allerdings kritisiert er, dass die neue Intiative "Leistung macht Schule" das Lehrpersonal in vielen Schulen überfordern dürfte.
Gute Bildungspolitik soll Chancengerechtigkeit für alle gewährleisten. Das gilt auch für besonders leistungsstarke Kinder und Jugendliche. Mit der gemeinsamen Initiative "Leistung macht Schule" wollen Bund und Länder die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Schülerinnen und Schüler stärken. Für eine Laufzeit von zehn Jahren stellen sie zu gleichen Teilen insgesamt 125 Millionen Euro zur Verfügung.
Der Bildungsforscher Olaf Köller begrüßte die Intiative im Deutschlandfunk Kultur, hält aber das Lehrpersonal bei dieser Aufgabe für überfordert: "Lehrerinnen und Lehrer sind dafür nicht ausgebildet", sagte er. "Sie sind ausgebildet, auch die Gymnasiallehrer, im Prinzip den mittelguten Schüler, die mittelgute Schülerin zu bedienen." Außerdem müsse man zusätzliche Angebote für hochbegabte und leistungsstarke Schüler schaffen. Es lasse sich nicht alles in gemeinsamen Unterrichtsstunden lösen.
Köller kritisierte eine gewisse Tabuisierung des Elitenbegriffs. "Elitenförderung ist eigentlich nur im Sport kein Tabu", sagte der Bildungsforscher. "Aber im Sport wird auch niemand drauf kommen, die besonders Leistungsstarken im Regelunterricht nur zu fördern, sondern wir haben da Spezialschulen, wir haben die ganzen Zusatzangebote." Dabei suchten Unternehmen besonders talentierte junge Leute, gerade mit naturwissenschaftlichen Begabungen.

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Mehr als ein Jahr nachdem sie beschlossen wurde, startet morgen so ganz offiziell die Bund-Länder-Initiative "Leistung macht Schule". Sie soll – so heißt es offiziell – der Unterstützung leistungsstarker sowie besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler dienen. Ein simpler Behördensatz, der, wie ich finde, schon die ersten Fragen aufwirft, über die wir sprechen wollen mit Professor Olaf Köller. Er ist Direktor des Leibniz-Instituts für Pädagogik in Kiel und gehört zu Deutschland renommiertesten Bildungsforschern. Herr Köller, einen schönen guten Morgen!
Olaf Köller: Schönen guten Morgen!
Kassel: Bleiben wir doch mal bei diesem Behördendeutsch: leistungsfähige und leistungsstarke Schülerinnen und Schüler – was ist das für eine Definition, wen meinen wir hier überhaupt?
Köller: Also zumindest aus wissenschaftlicher Perspektive unterscheiden wir zwei Gruppen: das sind die Hochbegabten und die Hochleistenden. Die Hochbegabten sind die, die Sie typischerweise mit Intelligenztests identifizieren – da haben wir so grob zwei Prozent in jedem Jahrgang –, die Hochleistenden sind typischerweise die, die hohe Schulleistungen haben, die also in den Fächern sehr gut abschneiden, die Einser haben, und die natürlich sich mit den Hochbegabten überschneiden. Also viele Hochbegabte sind auch Hochleistende, aber wir haben eben auch Hochbegabte, die nicht hochleistend sind.
Kassel: Warum denn nicht?
Köller: Das mag sehr viel mit Förderung zu tun haben, sowohl, dass diese Kinder nicht hinreichend zu Hause gefördert werden, aber auch, dass man sie in der Schule nicht erkennt oder sie manchmal sogar stören – das sind dann die verhaltensauffälligen Hochbegabten – und die dann in ihren Leistungen weit hinter dem zurückbleiben, was sie eigentlich können. Das sind die sogenannten Underachiever.

Langeweile ist nicht das Problem

Kassel: Da gibt es ja immer dieses laienhafte Bild, die sitzen dann in der Klasse und langweilen sich, weil sie all das, was den anderen noch erklärt werden muss, schon begriffen haben. Ist das tatsächlich so?
Köller: Nein, die meisten Hochbegabten und auch die meisten Hochleistenden ertragen das ganz gut, dass sie sich zwischendurch mal langweilen. Sie genießen das teilweise auch, dass sie locker mitkommen. Das heißt, diese klinischen Fälle, die wirklich drunter leiden, sind vergleichsweise seltene Ereignisse. Das entbindet uns natürlich nicht davon, im Grunde genommen diese Hochleistenden und auch Hochbegabten besser zu bedienen.
Kassel: Aber kommen wir noch mal einen Schritt zurück: Sie haben gesagt, als Wissenschaftler kann man das zum Beispiel mit Intelligenztests feststellen, nun sind die nicht vorgeschrieben an allgemeinbildenden Schulen. Wie kann denn überhaupt als Eltern natürlich auch schon, aber auch Lehrer, Lehrerinnen, wie können die das überhaupt feststellen, dass die da Hochbegabte in ihrer Klasse haben?
Köller: Also teilweise … Die stören ja nie, wenn sie hochleistend sind. Also wir haben überhaupt kein Problem, wenn eine Lehrkraft ein hochleistenden Schüler hat, den wird er erkennen, und er wird sagen, mit dem können wir möglicherweise zusätzlich etwas tun. Einen Hochbegabten, der nicht hochleistet, kann er in der Regel nicht erkennen, sondern dafür bedarf es der Expertise auch von Psychologen beispielsweise, die sich dort besser auskennen. Man überfordert im Grunde genommen auch Lehrkräfte, wenn man ihnen dieses aufbürdet. Insofern haben wir auch ein Problem bei der geplanten Initiative: Man überfrachtet Lehrerinnen und Lehrer mit solchen Aufgaben, wenn man glaubt, sie könnten Hochbegabte diagnostizieren.

Die Lehrer sind überfordert

Kassel: Wobei diese Initiative – so wie ich sie verstehe – mehr vorsieht, als die nur zu diagnostizieren. Die Lehrer sollen ja dann auch auf die eingehen, und vor allen Dingen ist es ein erklärtes Ziel dieser Initiative, das innerhalb des regulären Unterrichts zu machen, also wie man dann heute immer sagt: integrativ, also nicht nachmittags Arbeitsgruppen für die Hochbegabten, sondern alles im normalen Unterricht. Das stelle ich mir eher schwierig vor.
Köller: Ja. Zwei Punkte: Das erste ist, Lehrerinnen und Lehrer sind dafür nicht ausgebildet. Sie sind ausgebildet, auch die Gymnasiallehrer, im Prinzip den mittelguten Schüler, die mittelgute Schülerin zu bedienen. Das heißt, wir haben hier das erste Problem. Das zweite Problem ist, diese Schülerinnen und Schüler sind deutlich schneller. Das heißt, man muss Lerngelegenheiten schaffen, in denen sie mit sehr viel höherem Tempo arbeiten.
Ich kann mir schwer vorstellen, dass es im alltagsintegrierten Unterricht gelingt. Das Argument ist oft Binnendifferenzierung, aber wenn Sie eine heterogene Gruppe haben, in der Sie drei, vier wirklich Hochleistende haben, die schaffen dann in 15 Minuten das, was die übrige Klasse in 45 Minuten schafft, ich glaube, man stellt eine erhebliche Anforderung an die Lehrkräfte. Ich würde sagen, sie sind damit überfordert.
Kassel: Nun haben wir in Deutschland, glaube ich, eine gewisse Berührungsangst, was das Phänomen der Elite angeht. Wir haben auch beide das Wort noch nicht benutzt, aber jetzt kommt es. Dahinter steckt für mich auch so ein bisschen, hinter dieser Idee, alles in Regelunterricht machen, diese Angst davor zu sagen, diese Hochbegabten sind was Besonderes, und deshalb brauchen sie auch eine besondere Betreuung, einen besonderen Unterricht.

Elitenbegriff als Tabu

Köller: Ja. Elitenförderung ist eigentlich nur im Sport kein Tabu. Aber im Sport wird auch niemand drauf kommen, die besonders Leistungsstarken im Regelunterricht nur zu fördern, sondern wir haben da Spezialschulen, wir haben die ganzen Zusatzangebote. Dass wir das im Schulleistungsbereich immer noch haben ist sicherlich eine Tabuisierung auch dieses Elitebegriffs.
Dafür gibt es natürlich historisch auch Gründe, aber wir haben natürlich auch in den letzten 15 Jahren, 15 bis 20 Jahren, nach PISA erlebt, dass man sich eher den Leistungsschwachen gewidmet hat. Dafür gab es auch Gründe. Die stellen natürlich ein größeres Problem dar als die Hochleistenden. Aber noch mal: Im Sport haben wir damit überhaupt kein Problem, die auch besonderen Maßnahmen zuzuführen, und ich frage mich immer, warum das nicht auch im Leistungsbereich geht, also im Schulleistungsbereich.
Kassel: Was würden Sie denn konkret wirklich ideal finden, was den Umgang mit Hochbegabten angeht?
Köller: Also nehmen wir uns die mathematisch-naturwissenschaftlichen Hochleistenden. Man kann sicherlich … Die müssen natürlich auch beschult werden, aber es gibt viele außerschulische Angebote, es gibt die Schülerlabore an den Universitäten, in Forschungsinstituten. Man kann sie schon in universitäre Kurse auch integrieren, wo sie zusätzliche Angebote bekommen, man kann auch überlegen, dass wenn sie im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich besonders stark sind, dass sie schon höhere Jahrgänge besuchen auch, in denen sie dann dort am Unterricht teilnehmen.
Aber ich würde immer dafür plädieren, auch außerschulische Lernorte zu nutzen und ihnen natürlich auch in der Schule zusätzliche Angebote am Nachmittag zu machen. Dafür brauchen sie natürlich aber auch Personen, Lehrkräfte, die für diese zusätzlichen Aufgaben am Nachmittag vorbereitet sind, ausgebildet sind, und sie brauchen natürlich auch die Zeitkontingente.

Die Gerechtigkeitsdebatte

Kassel: Es gibt ja auch immer wieder dieses Argument, trennt die mal alle nicht, weil es diese Elitenbildung nicht geben soll, aber weil man auch jungen Menschen nicht von Anfang an diesen Eindruck vermitteln will, du bist jetzt aber was ganz Besonderes. Dann gibt es immer dieses Argument, dann sollen die doch die Zeit, die sie übrig haben, die Hochbegabten und die Hochleistenden, weil sie so schnell gelernt haben, diese Zeit sollen sie doch damit verbringen, denen, die nicht gut mitkommen, selber was beizubringen. Ist das, sagen wir mal, jetzt gar nicht so, was den Lerneffekt angeht, sondern was so das Soziale angeht, nicht tatsächlich auch sinnvoll?
Köller: Das ist eine Gerechtigkeitsdebatte letztendlich. Will man alle optimal fördern, und wenn man alle optimal fördern will, stellt sich natürlich die Frage, warum wir es bei den Hochleistenden nicht dürfen. Das heißt, es spricht nichts gegen soziales Lernen, es spricht auch nichts gegen Unterrichtssituationen, in denen die Leistungsstärkeren den Leistungsschwächeren helfen. Das schließt aber nicht aus, dass man dann auch für diese Gruppe der Leistungsstarken zusätzliche Angebote macht, die letztendlich ihren Bedürfnissen, ihren Möglichkeiten gerecht werden.

Mehr Probleme bei Leistungsschwachen

Kassel: Aber wie groß ist denn eigentlich – man muss sich ja immer die Frage stellen, was, glaube ich, mancher jetzt gerade tut, der uns zuhört und der jetzt weder ein hochleistendes noch ein besonders problematisches Kind zu Hause hat –, wie groß ist denn der Schaden, der uns bisher dadurch entsteht, dass man sich nicht drum kümmert? Ich meine, man könnte auch sagen, wenn die so klug sind, dann, ja, sie langweilen sich zwischendurch in der Schule, aber da gibt es Schlimmeres, und am Ende machen sie trotzdem Karriere.
Köller: Die viel größeren Probleme sind natürlich im unteren Leistungsbereich, da würde ich Ihnen sofort recht geben. Wir haben ja dann schließlich auch noch die Universitäten, die manches nachholen. Dennoch, ich bleibe bei dem Argument der Gerechtigkeit: Wir diskutieren sehr stark, das wir jeden hinsichtlich seiner oder ihrer Voraussatzungen optimal fördern sollen, und das gilt natürlich auch für Hochleistende. Ich würde Ihnen sofort zustimmen, bislang lässt sich ein volkswirtschaftlicher Schaden nicht beziffern.
Gleichzeitig haben wir ja immer wieder die Unternehmen auch, die beklagen, insbesondere auch im MINT-Bereich – Mathematik, Naturwissenschaft, Technik, Informationstechnologie –, dass wir dort viel zu wenige Hochleistende und Talente sichten und auch letztendlich an diese MINT-Fächer ranführen. Also dort gibt es auch schon von Seiten der Unternehmen Bedarfe.

Mehr Angebote im Gymnasium

Kassel: Seit diesem ersten großen PISA-Schock, der jetzt schon fast 20 Jahre her ist, gibt es in Deutschland die Debatte, ist das mehrgliedrige Schulsystem gut, und viele sagen ja, diese Aufteilung Hauptschule, Realschule, Gymnasium plus noch manche sonderpädagogischen Einrichtungen ist nicht gut. Aber bei dem, was Sie mir jetzt erzählt haben, frage ich mich, ist Schule für alle wirklich das richtige Ziel oder sollte man nicht quasi Schulen haben für die etwas weniger – ich muss es vorsichtig formulieren –, etwas weniger Begabten, für die Hochbegabten, also wirklich Schulen mit unterschiedlichen Leistungszielen?
Köller: Also ich glaube, was wir im Moment erleben in Deutschland im Wesentlichen, eine Zweigliedrigkeit im allgemeinbildenden System mit der Säule Gymnasium funktioniert ganz gut. Das Gymnasium muss sich, glaube ich, dran gewöhnen, dass es immer wieder besonders leistungsstarke Schülerinnen und Schüler gibt und dass man für die zusätzliche Angebote macht. Also ich würde gar nicht an den Strukturen viel ändern, sondern ich würde für ein System plädieren, in dem man einfach bewusst mit dieser Gruppe umgeht.
Kassel: Das ist, glaube ich, schon ein schönes Stichwort. Das will man immerhin versuchen in einer neuen Bund-Länder-Initiative, schon im November 2016 beschlossen, morgen offizieller Startschuss für "Leistung macht Schule", wo in 300 Schulen in Deutschland so pilotprojektartig ausprobiert werden soll, wie man hochbegabte und besonders leistungsfähige Schülerinnen und Schüler besser fördern kann, idealerweise ohne, dass es auf Kosten der anderen geht. Wir haben darüber mit Olaf Köller gesprochen, er ist Direktor des Leibniz-Instituts für Pädagogik in Kiel. Herr Köller, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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