Hitlers Spione an der Ostfront

Rezensiert von Nana Brink · 09.12.2012
Die Abteilung "Fremde Heere Ost" war der zentrale Nachrichtendienst der Wehrmacht gegen die sowjetischen Streitkräfte. Im Mittelpunkt dieser Studie steht ihr Leiter Reinhard Gehlen. Dieser gründete nach dem Krieg die "Organisation Gehlen" und leitete später den BND.
Er war vielleicht der "Spion des Jahrhunderts". Der Mann ohne Gesicht, so unsichtbar wie geheimnisumwittert: Reinhard Gehlen, Wehrmachtsgeneral, Leiter von Hitlers Feindaufklärung an der Ostfront und spätere Gründer des Bundesnachrichtendienstes.

"Das war der Kult, den er um seine eigene Person entwickelt hatte, er war fast nie zu sehen, es gab lange Zeit keine Fotos von ihm."

So beschreibt ihn Volker Foertsch, ehemals Abteilungsleiter im Bundesnachrichtendienst, als dessen erster Chef Reinhard Gehlen 1968 in den Ruhestand ging. Da war er bereits eine Legende. Sie beginnt lange vor Ende des Zweiten Weltkrieges, im April 1942, als er die Abteilung "Fremde Heere Ost" übernimmt, Kopf und Herzstück der militärischen Aufklärung gegen die sowjetischen Streitkräfte. Als "Spinne im Netz" legt der Karriereoffizier Gehlen den Grundstein für seine weitere Karriere. Und so widmet der junge Historiker Magnus Pahl dem "Meisterspion" breiten Raum in seinem Buch "Fremde Heere Ost. Hitlers militärische Feindaufklärung".

Adolf Hitler in der Wochenschau: "Am 22. Juni setzte der größte Kampf der Weltgeschichte ein, seit dem sind etwas über dreieinhalb Monate vergangen und ich darf hier eine Feststellung treffen: Es ist alles seitdem planmäßig verlaufen..." (Beifall)

Schnell rückt die deutsche Wehrmacht auf einer Frontlinie von fast 1200 Kilometern ins Gebiet der Sowjetunion ein. Mit dabei: Reinhard Gehlen - ein ehrgeiziger, preußisch-korrekter Offizier alter Schule, ein penibler Stratege, nicht frei von Eitelkeiten, die zum Klischee eines Geheimdienstchefs passen, wie sein Mitarbeiter Eberhard Blum nach dem Krieg beschreiben wird.

"Gehlen war, etwas überpointiert gesagt, ein Homo ludens, spielerisch, aber nicht im Sinne von Leichtfertigkeit, sondern im Sinne von fantasievoll."

Fähigkeiten, die Reinhard Gehlen zum scheinbar – im Sinne des Regimes – genialen Chef der Organisation "Fremde Heere Ost" machen. In seiner überaus faktenreichen Analyse entwirft Magnus Pahl das Bild eines überzeugten Anti-Kommunisten, der, ganz im Denken der damaligen Offizierskaste verhaftet, das herrschende System nicht anzweifelt. So vermerkt Gehlen in seiner Autobiografie:

"In jener Zeit der politischen Wirrnis ist mir klar geworden, in welchem Maße die kommunistische Idee eine Gefahr für alles war, was wir an Idealen hatten."

Wohltuend nüchtern, wenn auch bisweilen etwas zu detailversessen für den Laien beschreibt Pahl, wie der Aufsteiger Gehlen die bislang stiefmütterlich behandelte Abteilung "Fremde Heere Ost" umkrempelt. Er führt neue Methoden der Nachrichtenermittlung ein, baut ein Karteikartensystem auf – das ihm nach dem Krieg noch zunutze sein wird -, intensiviert die Verhörmethoden sowjetischer Kriegsgefangener und fängt an, eigenen Spione auszubilden. Es ist Pahls Verdienst, die Funktionsweise dieses zentralen Nachrichtendienstes der Wehrmacht an der Ostfront erstmals umfangreich erklärt zu haben, - auch wenn die Lesbarkeit des Textes unter der historischen Beflissenheit ein wenig leidet. Aber das Durchhalten lohnt sich: Der Faktensammler Pahl weiß sein Material durchaus zu bewerten - gerade in einer entscheidenden Frage:

Meldung Oberste Heeresleitung: "Aus dem Führerhauptquartier, 3. Februar 1943, das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: Der Kampf um Stalingrad ist zu Ende."

Warum sah die angeblich so professionelle Feindaufklärung "Fremde Heere Ost" die Niederlage der 6. Armee bei Stalingrad im Februar 1943 nicht voraus? Der Historiker Pahl hat darauf folgende Antwort:

"Unter dem nie nachlassenden Druck Hitlers, genaue Voraussagen über die Vorhaben der Sowjets zu bekommen, die er dann ärgerlich beiseite wischte, eignete sich Gehlen eine unter den Geheimdienstlern sämtlicher Nationen weitverbreitete Praxis an: Er tat sein Bestes, den Anschein von Genauigkeit zu erzeugen, sich zugleich aber ein Schlupfloch offenzuhalten. Die Prognosen von Fremde Heere Ost waren daher immer doppeldeutig. Dieses Nicht-Festlegen stand im krassen Gegensatz zu nationalsozialistischen Idealvorstellungen nach 'männlicher Klarheit'."

"Wir wussten eine ganze Menge, aber das hat nie seinen Niederschlag in irgendwelchen schriftlichen Arbeiten gefunden, ich weiß auch gar nicht, ob nicht die Hochachtung von der Arbeit von Fremde Heere Ost übertrieben war."

Die Beschreibung von Gehlens ehemaligem Mitarbeiter Hans Hinrichs (in einer WDR-Dokumentation von 2002) ist wohl treffend. Innerhalb der Organisation ist bekannt, dass Gehlen ein distanziertes Verhältnis zum Führer pflegt. Der wiederum misstraut dem nüchternen Strategen, hält ihn für, so Pahl, "ideologisch unzuverlässig", tauscht ihn aber im Gegensatz zu vielen anderen preußischen Offizieren nach dem Attentat am 20. Juli 1944 nicht aus. Gehlen hingegen plant da schon längst eine andere Karriere.

"Den Ostkrieg unter Führung Hitlers hielt Gehlen frühzeitig für verloren. Die Rechnung Gehlens war einfach: Je mehr nachrichtendienstliche Kompetenzen und Ressourcen er zum Zeitpunkt seines Übertrittversuchs zu den Westalliierten vorzuweisen hatte, desto höher die Wahrscheinlichkeit, von diesen als Fachmann anerkannt und in einer von Gehlen prognostizierten Auseinandersetzung zwischen den Westmächten und der Sowjetunion nach dem Ende der NS-Herrschaft als Partner in Dienst gestellt zu werden."

Noch vor der Kapitulation im Mai 1945 setzt er sich ab und lässt jene mikroverfilmten Karteikarten und Akten in 50 Stahlkassetten an einem unbekannten Ort in Bayern vergraben. Nach ein paar Wochen geht sein Kalkül auf: Er händigt der US-Armee, wie Pahl schreibt, "seine Lebensversicherung" aus: "Er und seine Mitarbeiter wechselten zwar die Seite, aber nicht ihr Aufklärungsobjekt." Noch im Sommer 1945 versammelt Gehlen mit Billigung der Amerikaner ehemalige Wehrmachtskameraden um sich: Die Keimzelle der "Organisation Gehlen", die 1956 in der Gründung des Bundesnachrichtendienstes mündet. Dessen Chef bleibt Gehlen bis 1968. Auch seine Einstellung hat sich nicht gewandelt, wie in einem der seltenen Tondokumente des "Spions des Jahrhunderts" zu hören ist.

"Dagegen muss der Bundesnachrichtendienst sich schützen, dass ungeprüfte Elemente in seine Reihen eindringen und dass er über alle Persönlichkeiten, mit denen er zu tun hat, auch unterrichtet ist."

Magnus Pahl: Fremde Heere Ost. Hitlers militärische Feindaufklärung
Ch. Links Verlag
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