Hitlers "Mein Kampf"

Das böse Buch

Der Buchrücken einer Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" vor einem unscharfen Porträtbild Hitlers.
Der Buchrücken einer Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" vor einem unscharfen Porträtbild Hitlers. © picture alliance / dpa / Sepp Spiegl
Von Michael Watzke · 09.12.2015
Bis Ende 2015 hält das bayerische Finanzministerium noch die Urheberrechte an Adolf Hitlers "Mein Kampf", dann laufen sie aus - 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Dann darf theoretisch jeder Verlag "Mein Kampf" nachdrucken. In einer Ausgabe wollen Wissenschaftler nun durch Kommentierung des Textes die Demagogie entlarven.
In einem winzigen Büro in München, zwischen meterhohen Regalwänden aus NS-Literatur, rückt ein schwäbischer Wissenschaftler Adolf Hitler zu Leibe.
"Mein Name ist Christian Hartmann, ich bin 56 Jahre alt, arbeite am Institut für Zeitgeschichte. Meine Schwerpunkte sind Zeitgeschichte, europäische Geschichte, Militärgeschichte."
Manchmal, nach stundenlanger Beschäftigung mit dem grausamsten Buch des 20.Jahrhunderts, öffnet Christian Hartmann das Fenster – zum Durchlüften. Als wolle er sein Büro von den bösen Geistern des Nationalsozialismus befreien. Der Historiker hört die lachenden Stimmen des benachbarten Kindergartens. Eine willkommene Abwechslung, besonders dann,
"wenn man mal wirklich dieses ganze, puh - diese ganze Geisterbahn durchgearbeitet hat."
Diese Geisterbahn ist Adolf Hitlers Buch "Mein Kampf". Christian Hartmann nimmt die 1000 Seiten des Originals seit drei Jahren auseinander. Wort für Wort.
"Also unsere Ausgabe ist doppelt so groß. Das werden 2000 Seiten. Es sind 3700 Anmerkungen geworden. Wirklich eine ganze Menge."
Das Institut für Zeitgeschichte in München.
Das Institut für Zeitgeschichte in München gibt eine kommentierte Edition der Schrift "Mein Kampf" von Adolf Hitler heraus© Deutschlandradio / Michael Watzke
In drei Wochen, am 8. Januar 2016, bringt das Institut für Zeitgeschichte, kurz IFZ, eine kommentierte Edition von "Mein Kampf" heraus. Auf Hartmanns Schreibtisch liegen die ersten, frischen Exemplare. Für Deutschlandradio Kultur macht der Historiker eine Ausnahme.
"Eigentlich zeigen wir das ja noch nicht der Presse, aber ich beschreibe es Ihnen hier mal. Wir drucken das dann praktisch im originalen Seiten-Umbruch. Das entspricht Hitlers erster Auflage. Und hier sehen Sie unsere Fußnoten, die wir um diesen Text herumgruppieren. So dass Hitlers Behauptungen ohne unsere Gegendarstellung nicht zu haben sind."
Die Anmerkungen der Wissenschaftler umzingeln Hitlers Schriften geradezu, von allen Seiten und aus allen Fachrichtungen. Militärgeschichte, Wirtschaftswissenschaften, sogar Japanologie.
"Japan ist für Hitler ein großes Thema. Da sieht er schon den künftigen Verbündeten im Zweiten Weltkrieg. Es gibt aber viele weitere Themen, wo uns von außen geholfen wurde. Beispielsweise bei dem ganz großen Komplex Judaistik natürlich. Dann auch bei dem ganzen Bereich Humangenetik. Es geht ja sozusagen um die Rassenlehre und die Frage: wie kann man diese rassistischen Ideen widerlegen?"
Hartmann und seine Kollegen machen es sich dabei nicht leicht. Ihre Kommentare sollen weder besserwisserisch noch allzu trocken wissenschaftlich klingen. Und wo Hitler Recht habe, müsse man ihm auch Recht geben.
"Also nichts wäre falscher, als uns da immer in eine Gegenposition zu begeben. Im Grunde ist das ja das klassische demagogische Muster: dass ein Richtiges mit Falschem oder Halbwahrem vermischt wird. Und das macht sozusagen die Überzeugungskraft dieses Gebräus aus."
In dem Stapel mit Druckfahnen sucht Hartmann nach einem Beispiel – und findet es im Band 1 von "Mein Kampf", erschienen 1925.
"Also wenn Hitler zum Beispiel sagt: 'Die Presse ist jüdisch dominiert', dann sagen wir: Natürlich waren die Juden in der deutschen Presse überrepräsentiert. Wir sagen aber auch dazu, warum das so war. In der Staatsverwaltung und erst recht in der Armee hatten sie keine Chancen. Und deswegen sind sie natürlich massiert in die Medien gegangen."
Kehrtwende von Horst Seehofer bei der staatlichen Unterstützung
Hitlers argumentative Dialektik ist oft von plumper Schlichtheit. Etwa in der viel zitierten Passage: "Hausmaus geht zu Hausmaus. Feldmaus zu Feldmaus." Damit will Hitler seine Rassenlehre begründen: Arier würden sich nach dieser vermeintlich wissenschaftlichen Logik nie mit Juden einlassen. Der sprachlich eher schwache Autor Hitler sei andererseits ein geschickter Propagandist, sagt Hartmann. Hitler verknüpfe sein persönliches Schicksal mit den Erfahrungen der Deutschen in den 20er-Jahren. Und er benutze abstruse Quellen. So behauptet Hitler, dass das Judentum – sein zentrales Feindbild – seit jeher versuche, die beiden christlichen Kirchen gegeneinander auszuspielen.
"Wir sind der Sache mal nachgegangen, und da gibt's dann im 19. Jahrhundert einen Roman, der heißt 'Biarritz'. Von einem ganz dubiosen Autor, der war bei der 'Neuen Preußischen Kreuzzeitung' und wurde später verurteilt, weil er Wahlzettel gefälscht hatte. Und der hat sich eine Szene ausgedacht, dass auf dem Prager Judenfriedhof ein alter Rabbiner steht. Der gibt bei einer geheimen jüdischen Versammlung den Auftrag: 'Ihr müsst die beiden christlichen Kirchen gegeneinander ausspielen, die zerfleischen sich dann, und wir übernehmen die Herrschaft!' Auf so einer Quelle beruht Hitlers Behauptung. Und so ist es am laufenden Band."
Punkt für Punkt entlarven Hartmann und seine Kollegen Hitlers Kampfschrift. Ihre Kommentare sind erstaunlich unterhaltsam. Schließlich soll die kritische Edition des IFZ nicht nur Wissenschaftler erreichen, sondern ein breites Publikum. Auch und vor allem Schüler.
Das Luitpold-Gymnasium in München, gleich neben dem "Haus der Kunst", einem ehemaligen Nazi-Bauwerk. An diesem Gymnasium unterrichtet Studienrätin Dagmar Adrom Deutsch. In ihrem Unterricht lässt sie die Schüler der Mittelstufe Zitate von Adolf Hitler analysieren. Auch aus "Mein Kampf".
"In der 9. Klasse bietet das der bayerische Lehrplan an. Da sind die Schüler 15 bis 16 und reif genug, weit genug in ihrer persönlichen Entwicklung, dass sie ernsthaft über so ein Thema diskutieren können. Meistens auch sehr interessiert, wie ich festgestellt habe."
Dass die Schüler das Thema "Nationalsozialismus" nicht mehr hören könnten, wie oft behauptet wird, kann Deutsch-Lehrerin Adrom nicht bestätigen. Wichtig sei, in welcher Form man sich den braunen Texten nähere. Dazu seien auch Ausschnitte aus "Mein Kampf" geeignet. So könne man die Aura des Geheimnisvollen zerstören, die dieses Werk umgebe.
"Weil der Text so lange verboten und nicht verfügbar war, ist sicherlich eine Mythisierung eingetreten. Gerade für Jugendliche hat das Verbotene ja durchaus einen Reiz. Da ist man besonders neugierig drauf."
Hitlers komplette Kampfschrift im Unterricht zu benutzen, hält Studienrätin Adrom für nicht sinnvoll. Einzelne Ausschnitte aus "Mein Kampf" allerdings eigneten sich gut, um die Wirkung von Propaganda zu demonstrieren und zu demaskieren.
"Das ist ein ganz erklärtes Ziel des Lehrplans, speziell der 9. Klasse: die Schüler sollen – so steht es da – 'Klischees und Stereotypen erkennen und werten, Sprechweisen unterscheiden und diskriminierenden Sprachgebrauch kennzeichnen und beurteilen'."
Auf die kommentierte Ausgabe von "Mein Kampf" des Instituts für Zeitgeschichte ist Adrom gespannt. Im Unterricht benutzt die Deutschlehrerin bisher Overhead-Folien und Handouts, die sie am Ende der Stunde wieder einsammeln kann.
"Wenn man das anbietet, ist die Klasse oft ganz stumm. Man sieht betroffene Mienen. Meiner Erfahrung nach gehen die Schüler sehr vernünftig und sensibel damit um."
Das bestätigt auch Ludwig Unger, der Pressesprecher des Bayerischen Kultusministeriums. Hier, beim Freistaat Bayern, liegen noch immer die Autorenrechte von Adolf Hitlers berühmt-berüchtigtem Werk. Bis zum 31.12., null Uhr. Die Staatsregierung hatte ursprünglich geplant, das Institut für Zeitgeschichte in München bei der Erstellung einer kommentierten Edition von "Mein Kampf" zu unterstützen. Mit einer halben Million Euro. Doch dann vollzog Horst Seehofer eine Kehrtwende. Grund, so Unger, sei ein Staatsbesuch des bayerischen Ministerpräsidenten in Israel gewesen.
"Nach Gesprächen dort mit Überlebenden, aber auch mit Angehörigen von Opfern nehmen wir davon Abstand, es institutionell zu fördern. Weil wir gespürt haben, wie groß die Vorbehalte und die Ängste der Betroffenen dort sind und automatisch ein Stück weit gedanklich die Linie gezogen wird: Staat damals zu Staat heute. Da ist kein Verständnis dafür da, dass der Staat sich in irgendeiner Form beteiligt an einem solchen Projekt."
Die zugesagten 500.000 Euro an das Institut für Zeitgeschichte widmete der Freistaat Bayern um – in einen allgemeinen Zuschuss zur Erforschung des Nationalsozialismus. Deshalb möchte der Direktor des IFZ, Prof. Andreas Wirsching, auch nicht von staatlichem Gegenwind sprechen.
"Es gab natürlich ein paar Friktionen und Irritationen, das lässt sich nicht leugnen, aber wir haben so eine Art Basis gefunden, wo man damit ganz gut umgehen konnte."
Das IFZ wird die kommentierte Edition von "Mein Kampf" am 1. Januar in einer Auflage von voraussichtlich rund 5000 Exemplaren herausbringen. Auf eigene Kosten.
"Wir geben das im Selbstverlag heraus, aus zwei Gründen: Erstens wollen wir unbedingt alle Rechte behalten. Denn mit dem Text kann Schindluder betrieben werden, das ist gar keine Frage. Und zweitens, genauso wichtig: Wir wollen vermeiden, dass irgendein Narrativ auch nur entsteht, dass mit diesem Werk private Profite erzielt werden."
Theater versucht Mythos der Hetzschrift zu ergründen
Geld verdienen mit "Mein Kampf" – das ist nicht nur für IFZ-Direktor Wirsching undenkbar. Auch Bernhard Kitzinger, Inhaber des traditionsreichsten Münchner Antiquariats, will sich nicht vorwerfen lassen, er mache Reibach mit Hitler.
"Wenn ich aus irgendwelchen Nachlässen NS-Literatur bekomme, dann stelle ich eine sogenannte braune Kiste zusammen, und wenn die voll ist, dann melde ich mich beim NS-Dokumentationszentrum und schenke es denen."
Das Antiquariat Kitzinger in der Münchner Schellingstraße eröffnete 1892, drei Jahre nach Hitlers Geburt. Der Führer ging in seiner Zeit in Schwabing regelmäßig an dem Geschäft vorbei. Damals erreichte "Mein Kampf" eine Auflage von zwölf Millionen Exemplaren. Es kostete zwölf Reichsmark. Hitler verdiente königlich daran. Heutzutage seien noch immer jede Menge Exemplare auf dem Markt, sagt Buchhändler Kitzinger.
"Nur: Wenn es in die falschen Hände kommt, dann möchte ich nicht dafür verantwortlich sein, dass irgendjemand in eine Wehrsportgruppe eintritt oder vor einem Flüchtlingsheim rumgrölt. Da habe ich lieber nichts mit zu tun."
So halten es die meisten Antiquariate in München. Und wer die Originalausgabe von "Mein Kampf" verkauft, der verlangt Name, Unterschrift und den Grund des Käufers. Im Internet dagegen kann man sich das braune Buch mit ein paar Mausklicks herunterladen. Für die sogenannte Hochzeits-Ausgabe, die frisch vermählte Brautpaare im Nationalsozialismus zur Eheschließung erhielten, verlangen Anbieter auf ebay zwischen 80 und 300 Euro. Im Netz, sagt Wissenschaftler Hartmann, könne "Mein Kampf" auch heute Wirkung entfalten.
"Es gibt natürlich immer noch Leute, die sehr einfache Welterklärungen oder Weltdeutungen haben. Der Kapitalismus. Die Umweltverschmutzung. Da wird alles auf einen einzigen Punkt zurückgeführt. Der Wunsch des Menschen nach einfachen Welterklärungen oder Erlösungs-Ideologien, daran hat sich bis heute nichts geändert."
Der große Theatersaal der Kammerspiele in der Münchner Maximilianstraße. Auf der Bühne: Mitglieder der Theatergruppe "Rimini Protokoll", eines Projekt-Labels der drei Regisseure Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel. Die Aufführung heißt: "Adolf Hitler, Mein Kampf, Band 1 und 2". Im Programmheft steht: "Rimini Protokoll nimmt die Spur von Adolf Hitlers Hetzschrift auf und versucht zu ergründen, worauf der Mythos von "Mein Kampf" eigentlich beruht."
"Du entdeckst, dass es in der Antarktis eine Bibliothek für Polarforscher gibt. Du fragst Dich, ob dort auch 'Mein Kampf' zu finden ist. Du schreibst an das alte Wegener-Institut, das die Polarforschungs-Station betreibt, um das herauszufinden. 'Sehr geehrte Damen und Herren: Mein Name ist Anna Gilsbach. Ich bin Juristin und habe mich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen einer Neuauflage von 'Mein Kampf' befasst, wenn die Urheberrechte zum Januar 2016 auslaufen und das Buch Gemeinteil wird. Bei meiner Recherche bin ich auch auf Ihre Bibliothek in der Antarktis gestoßen, die die Naturwissenschaftler während ihres mehrmonatigen Aufenthaltes im Eis nutzen können. Ich frage mich, ob in Ihrer Auswahl auch 'Mein Kampf' von Adolf Hitler zu finden ist?"
Im Verlauf des Abends stellt sich heraus: "Mein Kampf" ist im ewigen Eis der Antarktis gleichsam eingefroren. Aufgetaut dagegen werden die Bilder und Zerrbilder des Nationalsozialismus. Sebastian Brünger, Dramaturg des Stückes, erklärt die Vorgehensweise von "Rimini Protokoll":
"Rimini Protokoll zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es eine Herangehensweise im Theater ist, mit Nicht-Schauspielern zu arbeiten. Wir arbeiten mit Leuten, die wir in einem großen, umfangreichen Recherche-Prozess suchen und hoffentlich dann auch finden. Die mit ihren Biografien oder beruflichen Kompetenzen auf die Bühne treten und dort Perspektiven verhandeln. Ihre eigenen – oder andere, an denen sie sich reiben. Wir suchen dieses Ensemble immer zu einem bestimmten Thema oder zu einem bestimmten Ort. Oder auch zu einem bestimmten Text: in diesem Fall 'Mein Kampf''."
Auf der Bühne der Münchner Kammerspiele flimmert der Eichmann-Prozess von 1961 über einen Fernseher-Bildschirm. Menschen stehen auf Leitern zwischen Bücherregalen und Aktenschränken und lesen Hitlers Kampfschrift. Zwischendurch werden sie immer wieder befragt. Etwa, ob sie dafür oder dagegen seien, dass Bücher verboten werden. Fast alle sind dagegen. Bei anderen Fragen müssen sie sich zwischen Antworten entscheiden, die die Regie auf eine Wand hinter ihnen projiziert. Die Möglichkeiten lauten: "Nö", "Pfff", "Och", "Jein", "Naja". Sie sollen die Indifferenz und Unwissenheit zeigen, mit der viele Menschen auch heute noch dem Buch "Mein Kampf" begegnen.
"Für uns ging es in erster Linie darum, in das Buch reinzuschauen. Reinzulesen. Was steht denn tatsächlich drin? Welche Textstellen sind die vermeintlich gefährlichen? Welche sind die wirklich gefährlichen? Da gibt es dann unterschiedliche Leute, die man treffen kann und die mit einem in das Buch hineinlesen."
Da ist zum Beispiel die Juristin Anna Gilsbach. Der Journalist Christian Spremberg. Da ist Alon Kraus, ein Anwalt aus Tel Aviv. Oder Volkan T Error, ein türkisch-stämmiger Rapper.
"Yeah, wir sind Deutschland, halt Dein Maul, Land!"
Der Rap von Volkan T Error ist deshalb heikel, weil er ihn vor Jahren zusammen mit Denis Cuspert aufgenommen hat, alias Deso Dogg. Der war ein Berliner Kleinkrimineller, der sich später dem Salafismus verschrieb und als IS-Kämpfer nach Syrien ging. Dort soll er vor einigen Monaten bei einem amerikanischen Drohnen-Angriff getötet worden sein. Im Rimini Protokoll von "Mein Kampf" hört man posthum Denis Cusperts Stimme, die rappt: "Ich bin deutscher als viele Deutsche!'" In einer Montage mit Textzeilen aus "Mein Kampf" ist das gewagt.
"Wir haben das Buch selber wenig für uns gelesen, wir haben es immer zusammen mit anderen gelesen. Es macht einen Unterschied, ob man es mit einem Politikwissenschaftler liest, mit einem Bibliothekar, mit einer Juristin. Weil jeder seine eigene Perspektive auf dieses Buch wirft."
"Christian, kannst Du bitte die Stelle mit dem Marathonläufer vorlesen?"
"Okay: 'Denn je größer die Werke eines Menschen für die Zukunft sind, desto weniger vermag sie die Gegenwart zu erfassen. Umso schwerer ist auch der Kampf und umso seltener der Erfolg. Blüht er aber dennoch in Jahrhunderten einem, dann kann ihn vielleicht in seinen späten Tagen schon ein leiser Schimmer seines kommenden Ruhmes umstrahlen. Freilich sind diese Großen nur die Marathonläufer der Geschichte. Der Lorbeerkranz der Gegenwart berührt nur mehr die Schläfen des sterbenden Helden..."
"Stopp, stopp, stopp! Nicht so nett und freundlich. Härter und österreichischer!"
"Österreichischer? 'Zu ihnen aber sind zu rechnen die großen Kämpfer auf dieser Welt, die, von der Gegenwart nicht verstanden, dennoch den Streit um ihre Idee und Ideale durchzufechten bereit sind. Sie sind diejenigen, die einst am meisten dem Herzen des Volkes nahe stehen werden; es scheint fast so, als fühlte jeder Einzelne dann die Pflicht, an der Vergangenheit gutzumachen, was die Gegenwart einst an den Großen gesündigt hatte. Ihr Leben und Wirken wird in rührend dankbarer Bewunderung verfolgt und vermag besonders in trüben Tagen gebrochene Herzen und verzweifelnde Seelen wieder zu erheben. Hierzu gehören aber nicht nur die wirklich großen Staatsmänner, sondern auch alle sonstigen großen Reformatoren. Neben Friedrich dem Großen stehen hier Martin Luther sowie Richard Wagner."
"Danke, danke! So klingt für mich 'Mein Kampf'!"
Originalzitate aus dem ersten Band von Adolf Hitlers Hetzschrift "Mein Kampf". Eigentlich ist es noch bis Ende des Jahres verboten, das Buch mit seinen rassistischen Botschaften zu verbreiten. Zumindest ohne Zustimmung des Rechte-Inhabers, also des Freistaates Bayern. In der Theater-Aufführung von "Rimini Protokoll" bekommt deshalb nur ein Zuschauer ein Exemplar in die Hand gedrückt - inklusive Leselampe.
"Für uns gab es am Anfang des Projektes eine Einladung aus Weimar, sich mit Rechtsradikalismus in den neuen Bundesländern zu beschäftigen. Mit Hasko Weber zu seiner neuen Intendanz in Weimar. Und wir haben die Debatte um die auslaufenden Urheberrechte mit 'ein Kampf' zum Anlass genommen, uns mit diesem Buch zu beschäftigen. Und sind sehr schnell auf die Berührungsängste und die Aversionen gestoßen, den Unwillen [sich damit zu beschäftigen], die Beschwörung von Gefahr: alles Gefühle, die mit diesem Buch verbunden sind. Das hat uns interessiert und neugierig gemacht: Die Frage, wie wir mit diesem Buch umgehen sollen im nächsten Jahr, wenn die Urheberrechte auslaufen. Die Frage aber auch: Wo sind die zwölfeinhalb Millionen Exemplare nach Kriegsende hin? Wir haben angefangen, bei uns selber in unseren Familien in den Bücherregalen zu schauen. Und wenn man guckt und nachfragt – das ist das interessante! – dann hat eigentlich jede Familie eine Geschichte zu diesem Buch. Nicht unbedingt das Buch ist noch da, aber man weiß, wer es mal besessen hat und wo es hingewandert ist. Und so ist das Buch für uns auch eine Art Sonde in die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte, die auch in Schichten des Beschwichtigens und Beschweigens vordringt."
Für Hitler als Witzfigur braucht es 3800 Fußnoten
Viele Jahrzehnte lang beschwieg Deutschland "Mein Kampf". Als wolle sich das Land vor der Frage drücken, wie es sein konnte, dass hier ein Diktator – lange bevor er die Macht übernahm – sein gesamtes Denkgebäude in Schriftform errichtete. Und fast jeder hatte es im Schrank. Christian Hartmann vom Institut für Zeitgeschichte drückt es so aus:
"Es ist schon erstaunlich, wie viel von dem, was da beschrieben wird, später auch realisiert wird. Ich meine, das ist immer das Wissen der Nachgeborenen, aber trotzdem: Es wird schon relativ deutlich, was Hitler da vorhat."
Schon 1981 schrieb der Historiker und Nationalsozialismus-Forscher Eberhard Jäckel: "Selten oder vielleicht tatsächlich nie in der Geschichte hat ein Herrscher, ehe er an die Macht kam, so genau wie Adolf Hitler schriftlich entworfen, was er danach tat. Nur deswegen verdient der Entwurf Beachtung. Anderenfalls wären die frühen Aufzeichnungen, die Reden und die Bücher, die Hitler verfasste, höchstens von biografischem Interesse. Erst die Verwirklichung erhebt sie in den Rang einer historischen Quelle." Christian Hartmann, dessen kommentierte Ausgabe in wenigen Wochen erscheint, hält Hitlers Werk für ein ungeordnetes, ja geradezu chaotisches Konglomerat des Schreckens.
"Also dieses Buch ist außerordentlich diffus. Weil Hitler damals in einer schwierigen Lage war. Er war bedroht von der Ausweisung nach Österreich. Man hat ihm einige Auflagen gemacht, er durfte nicht öffentlich reden. Er war im Grunde sehr vorsichtig und hat vieles verschwommen formuliert. Es ist ein bösartiges, hetzerisches Buch. Aber er hat sozusagen für die Szene geschrieben. Irgendwelche Quellen oder Personen nennt er überhaupt nicht. Da beginnt unsere Arbeit, wo wir systematisch recherchieren: Was ist damit gemeint? Woher hat er das? Auf welche Personen zielt das?"
Adolf Hitler war kein professioneller Schriftsteller, sagt Hartmann. Andererseits habe der NSDAP-Führer als Autor hohe demagogische Fähigkeiten besessen. Um all seine kruden Theorien zu widerlegen, recherchierten die Wissenschaftler mit hohem Aufwand. Darauf ist Hartmann stolz.
"Eine Stelle, die ich zum Beispiel sehr eindrucksvoll finde, ist: Hitler kritisiert die Weimarer Republik, dass sie zu wenig für die Veteranen des Ersten Weltkriegs tut. Und wir verweisen dann erstmal darauf, dass selbst Reichspräsident Ebert die rückkehrenden deutschen Soldaten sehr empathisch empfangen hat. Dann verweisen wir zweitens darauf, dass es eine vorbildliche Sozialfürsorge gab, die einzigartig war in der Welt. Die ist erst in der Weimarer Republik realisiert worden. Und wir verweisen, drittens, in unserer Kommentierung auch nach vorne, in die damalige Zukunft: Dass Veteranen des Ersten Weltkriegs, die dauerhaft traumatisiert und in der Psychiatrie waren – dass von denen einige tausend im Dritten Reich ermordet worden sind. Und das ist eine Fußnote, wo wir wirklich auf ganzer Bandbreite Hitlers Behauptungen widerlegen. Und solche Fußnoten gibt es sehr, sehr viele."
Jede dieser Fußnoten, sagt Hartmann, sei die jahrelange Beschäftigung mit Hitlers 1000-seitigem Machwerk wert.
"Das ist ein Triumphgefühl, das ist wirklich ein Triumphgefühl. Diesen ganzen Mist auseinander zu pulen und dann wirklich Stück für Stück zu wiederlegen. Oder auch mal nachzuweisen: Woher kommt das eigentlich alles? Und da wird dann auch deutlich, was für trübe Quellen das sind. Man kann sich das nicht dürftig genug vorstellen. Wir haben ja das ganze Schrifttum hier. Das sind wirklich ganz, ganz dubiose Heftchen."
Die trübe Suppe, aus der Hitler beim Verfassen von "Mein Kampf" schöpfte, das dumpfe Geistes-Umfeld – niemand hat es je besser persifliert als der große österreichische Kabarettist und Schauspieler Helmut Qualtinger:
"Im Elternhaus. Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, dass das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint! Deutschösterreich muss wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande. Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich. Deutscher Knabe, vergiss nicht, dass Du ein Deutscher bist. Und Mädchen gedenke, dass Du eine deutsche Mutter werden sollst."
Soll man das Lachen, das einem beim Zuhören der qualtingerschen Hitler-Parodie überkommt – soll, ja muss man dieses Lachen nicht unterdrücken? Oder ist es befreiend und deshalb angebracht? Manchmal bleibt einem das Lachen im Halse stecken – etwa, wenn Qualtingers Hitler-Stimme die Vernichtung der Juden in derben, dürftigen Worten skizziert. Adolf Hitlers Nazi-Regime ist verantwortlich für den Tod von Millionen und Abermillionen Menschen. Das droht heutzutage bisweilen in den Hintergrund zu treten, wenn der Führer zu einer allgegenwärtigen Comic-Figur zu mutieren droht. "Er ist wieder da", schreibt Timur Vermes im gleichnamigen Bestseller. Im Film "Mein Führer" lässt Hitler einen Panzerkreuzer durch seine Badewanne segeln. Und in immer neuen Karikaturen wird aus Adolf Adi. Christian Hartmann hadert mit dieser Entwicklung.
"Hitler als Karikatur, Hitler als Witzfigur – das ist meines Erachtens eine sehr einfache Haltung, die natürlich diesem Phänomen vorne und hinten nicht gerecht wird. Ich kann da überhaupt nicht mit. Ich mein', ich habe mich sehr lange mit den Verbrechen des Dritten Reiches und im Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Ich weiß, welche Folgen dieser Mann, diese Partei, diese Ideologie für Folgen gehabt hat. Und lustig ist daran überhaupt nichts. Natürlich ist vieles heutzutage befremdlich. Wobei ich da auch immer dazu sagen muss: Die Begegnung mit der Geschichte ist immer die Begegnung mit dem Fremden. Und sich über dieses Fremde zu definieren und ironisch zu distanzieren – damit ist ja noch überhaupt nichts erklärt."
Zur Erklärung, sagt Wissenschaftler Hartmann, brauche es das Buch "Mein Kampf" - und mindestens 3800 Fußnoten.
Mehr zum Thema