Hitler, Stalin und 14 Millionen Tote

21.07.2011
Die Länder Ost- und Mitteleuropas, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, wurden zwischen 1933 und 1945 zu einer gigantischen Todeszone. Der US-Historiker Timothy Snyder analysiert die Massenmorde in dieser Region - und wagt einen Vergleich der Diktaturen Hitlers und Stalins.
Die Diktaturen unter Stalin und Hitler gehören zu den grausamsten Herrschaftssystemen des 20. Jahrhunderts. Zwischen 1933 und 1945 – in der Zeitspanne, in der beide Diktatoren gleichzeitig an der Macht waren – haben sie mehr als 14 Millionen Menschenleben gefordert: ukrainische Bauern, Regimegegner in beiden Ländern, Angehörige der polnischen Eliten, sowjetische Kriegsgefangene, schließlich fast sechs Millionen Juden.

In seinem Buch "Bloodlands" stellt der amerikanische Historiker Timothy Snyder diese unterschiedlichen Massenmorde in einen Bezug zueinander, wagt, nach einer ausführlichen Analyse, den (wenn man die Debatten um den Historikerstreit bedenkt) nicht unproblematischen Vergleich. Zum einen, argumentiert er, starben die 14 Millionen Menschen in einem konkreten geografischen Raum, in den "Bloodlands". Diese erstrecken sich auf das Territorium der Länder Ost- und Mitteleuropas, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Und sie wurden von beiden Diktaturen besetzt und ausgebeutet. Snyders Fazit: Wo beide Systeme zeitgleich oder nacheinander herrschten, sind die Zahlen der Opfer am größten, vor allem in der Ukraine, in Polen und Weißrussland.

Zum anderen verfolgten Stalin und Hitler ähnliche imperiale Ziele, so Snyder. Beide Diktatoren wollten ein modernes Weltreich auf der Grundlage einer autarken, mächtigen Landwirtschaft errichten und nahmen dafür den Tod von Millionen Menschen in Kauf. Als die Kollektivierung unter Stalin scheiterte, wurden die ukrainischen Bauern zu Sündenböcken erklärt und zum Hungertod verurteilt. Über drei Millionen von ihnen sind ums Leben gekommen. Als die Wehrmacht neun Jahre später die Sowjetunion überfiel, sah einer der deutschen Pläne ein Ähnliches, mit Blick auf die Zahlen aber viel größeres Szenario vor: 30 Millionen Menschen, kalkulierte Hermann Göring, sollten während des Winters 1941/42 systematisch verhungern. Der Fehlschlag des Unternehmens Barbarossa hat die Umsetzung dieser grausamen Strategie verhindert.

Die Geschichte der "Bloodlands" kulminiert in der planmäßigen Ermordung der europäischen Juden. Snyder entgeht der Gefahr, den Holocaust als logisches Resultat der Gewalt unter beiden Diktaturen zu deuten und ihm damit die historische Einmaligkeit abzusprechen. Dennoch ordnet er ihn in die Geschichte der Massenmorde zwischen 1933 und 1945 ein und erörtert, mit Dokumenten aus polnischen und ukrainischen Archiven, die systematische Radikalisierung auf Seiten der Deutschen. Die Erschießungsplätze in der Ukraine und die Todeslager im Osten Polens sind für Snyder die zentralen Orte des Holocaust.

Ein grundlegend neuer Blick auf die Verbrechen unter beiden Diktaturen entsteht dabei nicht. Wohl aber bietet Timothy Snyder – wie überhaupt einige amerikanische Historiker der Gegenwart – eine wichtige Grundlage für das Nachdenken über den Vergleich von Stalinismus und Nationalsozialismus. Und er bietet eine erste größere Bilanz der historischen Auseinandersetzung mit den Massenmorden zwischen 1933 und 1945 in Ost- und Mitteleuropa, die überhaupt erst nach dem Ende des Kommunismus möglich wurde. Letzteres ist das eigentliche Verdienst des Buches.

Besprochen von Niels Beintker

Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Stalin und Hitler
Aus dem Englischen von Martin Pfeifer
C.H. Beck Verlag München
523 Seiten, 29,95 Euro