Historiker Paul Nolte

"Hinter Merkels Kritikern steht keine Führungsfigur"

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sitzt in Karlsruhe (Baden-Württemberg) beim Bundesparteitag neben der CDU-Bundesvorsitzenden und Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Wolfgang Schäuble und Angela Merkel beim CDU-Bundesparteitag im Dezember 2015. © picture alliance / dpa / Uwe Anspach
Paul Nolte im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 20.01.2016
Historiker und Publizist Paul Nolte sieht derzeit keine akute Gefahr für Angela Merkels Stellung in der CDU. Dafür fehle den Kritikern der Bundeskanzlerin eine neue Führungsfigur. Selbst Wolfgang Schäuble sei ein "unzweifelhafter Merkel-Loyalist".
Paul Nolte, Historiker am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, sieht die Position von Bundeskanzlerin Angela Merkel trotz der Kritik aus den eigenen Reihen als derzeit nicht gefährdet an.
Hinter diesen Kritikern stehe keine neue Führungsfigur, sagte Nolte im Deutschlandradio Kultur vor dem heutigen Besuch der Kanzlerin auf der Klausur der CSU-Landesgruppe in Wildbad Kreuth: "Das wäre für manche von denen sehr gerne Schäuble. Wer von den anderen soll es denn sein, die dann auch noch in der ersten Reihe stehen und die möglicherweise als kanzlerfähig gelten? (...) Also da ist eigentlich eine Leerstelle. Wenn denn da etwas zu besetzen wäre."
Er sehe Finanzminister Wolfgang Schäuble als "unzweifelhaften Merkel-Loyalisten", betonte Nolte - auch wenn es nach außen hin manchmal ein wenig anders klinge: "Das ist ja auch in vieler Hinsicht die Situation in der Partei selbst, in der CDU. Und ich denke, man sollte das auch ein Stück weit ernster nehmen als vielleicht noch vor einigen Wochen oder Monaten."
Arbeit an kleinen Lösungen hinter den Kulissen
Die drei Landtagswahlen im März seien ein "Lackmus-Test" für die künftige Richtung der CDU und der Volksparteien sowie für das Abschneiden der AfD, äußerte Nolte. Im Moment herrsche seiner Meinung nach ein "Januar-Fieber": "Und dazu gehört Kreuth. Und alle hauen mal ganz kräftig auf ihre eigene Pauke. Das ist die Politik des Januar."
Hinter den Kulissen werde allerdings – etwa bei der Vereinbarung mit Tunesien – an kleinen Lösungen gearbeitet, um bestimmte Probleme in den Griff zu bekommen und Kritiker zu befriedigen, meinte Nolte.
Er rechne damit, dass diese Richtung in nächster Zeit weitergehen werde: "Also sozusagen eine Politik der kleinen Schritte, kein großes Abschwören Angela Merkels von ihrer Linie. Sondern gemeinsam mit dem Koalitionspartner SPD kleine Schritte entwickeln, um den Flüchtlingszustrom zu begrenzen und in den Griff zu bekommen."

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Die Kanzlerin, sie ist heute zu Gast bei der Klausur der bayerischen CSU-Landtagsfraktion in Wildbad Kreuth. Die Umfragewerte brechen ein, die CSU in Bayern droht potenzielle Wähler an die AfD zu verlieren, die Union verliert ebenfalls, und auch die Zustimmung zu Angela Merkel persönlich, sie sinkt. Ein Auslöser dieses Sinkfluges ist ganz sicher die große Zahl der Flüchtlinge, die ins Land kommen, und Merkels Credo "Wir schaffen das". Drei offene Briefe aus dem eigenen Lager gibt es gegen sie beziehungsweise gegen eine offene Opposition – eine Zeitung hat das mal "Kuschelkritik" genannt heute. Erleben wir da gerade so was wie die Kanzlerinnendämmerung, oder ist Angela Merkel am Ende doch, um das schlimme Wort zu nennen, alternativlos. Das will ich jetzt von dem Historiker Professor Paul Nolte wissen von der Freien Universität Berlin. Schönen guten Morgen!
Paul Nolte: Schönen guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Fangen wir mit den Unionsparteien an. Die CDU-Chefin ist ja in jüngster Zeit häufig bei der CSU. Beim Parteitag war sie, bei der Klausur der Landesgruppe, nun also bei der bayerischen Landtagsfraktion heute. Warum tut sich Angela Merkel das an und stellt sich den Kritikern so direkt. Das wirkt ja manchmal verdammt wie politisches Sado-Maso und persönliche Demütigung, oder?
Nolte: Ja, das wirkt so, aber erst mal gehört das auch zu ihrer Linie und zu ihrem Stil, das zu machen, aber natürlich auch zu dem politischen Mechanismus, auf dem die Unionsparteien beruhen. Und das Gefühl, die Angst, die CSU zu verlieren, ist in der CDU ja auch durch dieses Trauma, das sich mit dem seinerzeitigen Trennungsbeschluss 1976, also jetzt 40 Jahre her, verbindet, groß, und deswegen auch müssen diese Kontakte immer strukturell gepflegt werden. Sie muss sich dort wieder hin begeben. Ich bin mal gespannt jetzt auch wirklich heute, was sie sich einfallen lässt, denn man kann manchmal mit ihr auch mit einer subtilen Retourkutsche rechnen für das, was ihr beim letzten Mal angetan worden ist.
"Dieses Drohen der CSU hat andere Gründe"
Von Billerbeck: '76, das ist schon eine Weile her. Man könnte ja auch einwenden, dass im Bundestag die große Koalition aus Union und SPD so groß ist, dass eine CDU und SPD auch ohne die CSU die Mehrheit hätten. Sorgt auch das vielleicht bei der CSU dafür, dass die da zwar öfter den Mund spitzen, aber am Ende doch nicht richtig pfeifen.
Nolte: Ich glaube, das ist ja eine Option, die ist immer mal wieder auch durchgespielt worden in verschiedenen Konstellationen, als sich, wie das jetzt auch zum Teil der Fall ist, die CDU, eine Merkel-CDU, die liberaler geworden ist auch in vieler Hinsicht, mit einer ja auch durch den Schröder-Kurs und vieles andere auch in die Mitte gerückten, pragmatischer gewordenen SPD verbindet, aber das ist eine Alternative, die realpolitisch, denke ich, völlig ausscheidet.
Nein, dieses Drohen der CSU hat andere Gründe, hat immer wieder strukturelle Gründe auch in den Befindlichkeiten der Partei. Im Moment hat es natürlich auch viel zu tun mit der besonderen bayerischen Situation, mit sozusagen der Position Bayerns auf der Landkarte nach Südosten und als Eingangstür für die Flüchtlinge, so, wie das zunächst damals noch in der euphorischen Stimmung in München spürbar gewesen ist. Aber so eine Trennung sehe ich nicht. Das Dilemma, die Gefahr der CSU, die Angst der CSU ist ja vielmehr überhaupt, dass sich dieser liberalere Konsens in den beiden Volksparteien jenseits von ihr bildet, und sie muss das, nicht zuletzt wegen der AfD muss die CSU versuchen, das wieder einzufangen.
Von Billerbeck: Nun ist es ja auch so, dass in der CDU auch keine Einigkeit herrscht. Immerhin, die offene Kritik an der Kanzlerin wird zwar geäußert, auch wenn, ich habe es zitiert, das als "Wattestäbchenkritik" diffamiert wird in einer Zeitung – hilft es Merkel, dass da so ein Schwergewicht wie Finanzminister Wolfgang Schäuble nach dem umstrittenen Vergleich – Merkel Skifahrerin, Flüchtlinge Lawine – jetzt hinter seiner Parteichefin doch zu stehen scheint?
"Wer von den anderen soll es denn sein?"
Nolte: Über Schäuble ist ja in dieser Hinsicht immer wieder schon gerätselt worden, und vielleicht wusste er oder weiß er manchmal selber auch nicht genau, wo es jetzt weiter langgehen soll oder wo seine Loyalitäten hingehören. Ich sehe ihn eigentlich jetzt schon, wenn ich mir das so über die letzten Jahre anschaue, schon seit längerer Zeit, auch wenn es nach außen manchmal anders klingt, als einen unzweifelhaften Merkel-Loyalisten. Das ist ja auch in vielerlei Hinsicht die Situation selbst in der CDU, da gibt es – und ich denke, man sollte das auch ein Stück weit ernster nehmen als vielleicht noch vor einigen Wochen oder Monaten. Da gibt es diese stärkeren Bedenken, die Kritik – ja, soll man sagen, Kritik von rechts, das ist aber auch schon mit einem Fragezeichen zu versehen –, aber jedenfalls die Kritik an dieser relativ liberalen Flüchtlingspolitik, für die Angela Merkel steht.
Aber hinter diesen Kritikern erscheint ja, und deswegen bin ich auch bei dem Stichwort "Kanzlerinnendämmerung" noch skeptisch, hinter diesen Kritiken steht ja nicht eine neue Führungsfigur, um die sich sammeln. Das wäre von manchen von denen sehr gern Schäuble. Wer von den anderen soll es denn sein, die dann auch noch in der ersten Reihe stehen und die möglicherweise als kanzlerfähig gelten? Die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sicherlich nicht, was ihre liberale Haltung angeht, in der sie sich von Merkel nicht unterscheidet. Und dann ist sie sowieso mit Merkel engstens verbunden. De Maizière liegt letztlich genauso auch, noch stärker als Schäuble vielleicht auch, sowohl inhaltlich als auch von der persönlichen Loyalität auf der Merkel-Linie. Also da ist eigentlich eine Leerstelle, wenn denn da etwas zu besetzen wäre.
Von Billerbeck: Also, alternativlos, Angela Merkel als Kanzlerin?
Nolte: Im Moment noch, aber man soll nie nie sagen. Die Frage ist nur, in welcher Konstellation es passiert. Ich halte es jetzt auch, in dieser Situation vor den Landtagswahlen, für vollkommen unwahrscheinlich oder ausgeschlossen – im März sind die Landtagswahlen, das ist der entscheidende Lackmustest auch dafür, wo es mit der CDU und den Volksparteien hingeht, vor allen Dingen mit der AfD hingeht. Und wir müssen uns ein bisschen Gelassenheit auch angewöhnen. Im Moment ist das Januar-Fieber, und dazu gehört Kreuth, und alles hauen mal ganz kräftig auf ihre eigene Pauke, das ist die Politik des Januar. Und danach, aber auch da hinter den Kulissen, wie jetzt zum Beispiel die Tunesien über die Rücknahme zeigt. Es wird ja an kleinen Lösungen gestrickt auch, um das Problem in den Griff zu bekommen und Kritiker zu befriedigen. Und ich glaube, in diese Richtung wird es in den nächsten Tagen und Wochen auch weiter gehen, sozusagen eine Politik der kleinen Schritte. Kein großes Abschwören Angela Merkels von ihrer Linie, sondern gemeinsam mit dem Koalitionspartner SPD kleine Schritte entwickeln, um den Flüchtlingszustrom zu begrenzen, in den Griff zu bekommen.
"Eine Politik der stärkeren Unterscheidung"
Von Billerbeck: Das heißt also, "Wir schaffen das" als große Parole, praktisch aber eine Politik der Zwangsverschärfung und schnelleren Abschiebung von Asylbewerbern?
Nolte: Das muss man sehen. Sicherlich nach meiner Vermutung eine Politik der stärkeren Unterscheidung zwischen – das deutet sich ja auch in anderen Positionen an wie zum Beispiel des Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Voßkuhle, stärker zu unterscheiden, Asylrecht darf nicht in Frage gestellt werden, aber wir müssen eine Zuwanderungsbegrenzung im Sinne von Kontingenten für normale Migranten haben. Dann sind wir natürlich wieder bei dem technischen Problem der Unterscheidung und der Notwendigkeit, im Asylrecht viel schneller zu entscheiden, als wir das im Moment tun.
Von Billerbeck: Der Historiker Paul Nolte von der Berliner FU über die Kritik an Angela Merkels Flüchtlingspolitik und warum sie dennoch nicht zu einer Kanzlerinnendämmerung werden wird, jedenfalls zurzeit nicht. Ich danke Ihnen!
Nolte: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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