Historiker Norbert Frei

Gespaltenes Gedenken ans Kriegsende

Historiker Norbert Frei
Der Historiker Norbert Frei © imago stock&people
Norbert Frei im Gespräch mit Patrick Garber · 09.05.2015
Was war der 8. Mai 1945? Ein Tag des Sieges, der Befreiung, der Niederlage? Wie hat sich das Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland und in Russland gewandelt? Diese und andere Fragen beantwortet der Historiker Norbert Frei.
Deutschlandradio Kultur: Tacheles reden wir heute über den heutigen Tag und den gestrigen, also über den 8. und 9. Mai als Gedenktage für das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa vor 70 Jahren. Wir reden darüber mit einem Historiker, der uns erklären kann, an was da erinnert wird und wie unterschiedlich im Laufe der Zeit erinnert wurde und wird – in Ost und West, bei Siegern und Besiegten – und wie mit dem Gedenken Politik gemacht wird. Professor Norbert Frei, Sie sind Inhaber des Lehrstuhls für neuere und neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Guten Tag, Herr Frei.
Norbert Frei: Guten Tag, Herr Garber.
Deutschlandradio Kultur: Herr Frei, kurz erstmal zur Klärung, auch wenn das mancher Hörer in diesen Tagen vielleicht schon mitbekommen hat: Warum gibt es diese zwei Gedenktage, den 8. und den 9. Mai?
Norbert Frei: Das hat einfach mit dem Faktum zu tun, dass in der Tat die Kapitulation der Wehrmacht zweimal unterzeichnet wurde, einmal im westlichen alliierten Oberquartier in Reims, also im Hauptquartier von General Eisenhower, und dann – 46 Stunden, glaube ich, waren es – später noch einmal in Berlin-Karlshorst bei den Sowjets. Und dazwischen liegen also, wie gesagt, diese 46 Stunden, das war dann schon in den frühen Morgenstunden des 9. Mai. Und man hat dann, wenn Sie so wollen, ganz technokratisch den 8. Mai, 23.01 Uhr mitteleuropäischer Zeit als den faktischen Termin festgesetzt.
Deutschlandradio Kultur: Hierzulande wurde dieser Gedenktag deshalb wie üblich auch dieses Jahr am 8. Mai begangen und zwar ziemlich schlicht und einer Feierstunde im Deutschen Bundestag. Bei der hat Ihr Historikerkollege Heinrich August Winkler eine Rede gehalten. Also eine eher verkopfte, staatliche Veranstaltung. So richtig Feierlaune haben wir Deutschen offenbar immer noch nicht, wenn wir an das Ende der Nazizeit vor 70 Jahren denken.
Norbert Frei: Naja, es ist ja immer ein wirklich bedenkenswerter und schwieriger Tag gewesen, auch wenn natürlich wir, die wir heute feiern, im Wesentlichen alles Nachgeborene sind. Aber es ist in der Tat, glaube ich, auch ein Tag des Gedenkens, der eben verknüpft werden muss, wie es ja Richard von Weizsäcker seinerzeit gesagt hat, mit dem Gedenken an das, was 1933 passiert ist, also das Ende der ersten deutschen Demokratie.
Und am Ende eines Infernos der Gewalt, das dann der Zweite Weltkrieg gebracht hat, ist vielleicht auch zu einer fröhlichen Jubelfeier, anders als bei der Befreiung von Paris im August 1944 und anderen wirklichen Gefühlen der Befreiung, die ja auch dann konkret schon die Allgemeinheit in diesen von Deutschland besetzten Ländern gehabt hat, in Deutschland selbst kein wirklicher Anlass.
Deutschlandradio Kultur: Wie war das damals am 8. Mai 45 für die Menschen in Deutschland? War das das Ende eines Albtraums oder vor allem Zusammenbruch, Niederlage, das Ausgeliefertsein an die Siegermächte? Was weiß man darüber?
"Furcht vor der Roten Armee wurde auch in der letzten Phase des Krieges geschürt"
Norbert Frei: Man kann ganz allgemein, glaube ich, sagen, dass das Gefühl der Befreiung oder der Tag der Befreiung, als den wir das heute begreifen, dass das doch von den wenigsten Deutschen so empfunden worden ist. Es gab ganz sicher eine breite Erleichterung, dass einfach dieser Krieg jetzt vorbei ist, aber befreit, wirklich befreit konnten sich doch nur etwa das Millionenheer allerdings der Zwangsarbeiter fühlen, der Insassen der Konzentrationslager, der ausländischen Kriegsgefangenen, der Überlebenden der Todesmärsche, auch die immer als politische Gegner des Regimes sozusagen mannhaft Gebliebenen. Aber die breite Masse dieser nationalsozialistischen Volksgemeinschaft hat sich ja nicht wirklich befreit fühlen können, sondern es war eher ein Gefühl der Erleichterung erst einmal, dass es vorbei ist.
Deutschlandradio Kultur: Gab es dabei Unterschiede der Wahrnehmung im Westen, der von den Amerikanern, Briten und Franzosen befreit wurde, und im Osten, wo die Sowjetunion als Besatzer auftrat?
Norbert Frei: In der Tat, da gibt es deutliche Unterschiede. Das hängt zum einen zusammen mit der nationalsozialistischen Propaganda. Also, die Furcht vor der Roten Armee und vor dem Bolschewismus wurde ja auch in der letzten Phase des Krieges von Goebbels und anderen sehr stark geschürt. Der ganze Antibolschewismus des Nationalsozialismus spielt eine Rolle.
Und dann sind es aber auch natürlich die konkreten Erfahrungen der Besatzung: Die westlichen Besatzungsmächte, die ja schon im Spätherbst 1944 Teile des Reiches besetzen oder sich jedenfalls von Westen her nähern und dann die Rote Armee, die über Ostdeutschland, über den deutschen Osten hinwegrollt und vor der auch schon sozusagen in der Antizipation diejenigen, die können und denen es erlaubt wird, die Flucht ergreifen.
Natürlich spielt auch eine wesentliche Rolle das Wissen, das ja doch in der Bevölkerung vorhanden war, was man als Deutscher an Krieg im Osten inszeniert hat und wie der Krieg im Westen ausgesehen hat, der ja zwar auch mit einer harten Besatzungspolitik, aber doch nicht mit dieser Vernichtungspolitik wie im Osten begangen worden ist. Und insofern spiegeln sozusagen die Antizipationen der Deutschen dann auch ein Stück weit die Erwartungen dessen, was da als Besatzungsmacht auf einen zurollt.
Eine relativ schnell sich entfaltende antifaschistische Interpretation in der DDR
Deutschlandradio Kultur: Aus den alliierten Besatzungszonen gingen die beiden deutschen Staaten hervor und es bildeten sich dann unterschiedliche Sichtweisen auf den 8. bzw. 9. Mai, unterschiedliche Erinnerungskulturen.
Schauen wir erstmal auf die Bundesrepublik. Dort dauerte es 40 Jahre bis ein Bundespräsident, der von Ihnen schon erwähnte Richard von Weizsäcker, die Westdeutschen daran erinnert hat, dass der 8. Mai 1945 ja eigentlich auch ein Tag der Befreiung war, von der Hitler-Diktatur nämlich.
Wie war dieser Tag in der BRD davor gesehen worden, vor der Weizsäcker-Rede?
Norbert Frei: Es ist interessant, dass es eigentlich die Rede von Richard von Weizsäcker ist, die gewissermaßen als erste wirklich bundespräsidiale Rede zu diesem Tag direkt Stellung nimmt. Das heißt nicht, dass nicht andere Bundespräsidenten vorher um dieses Datum herum oder aus anderem Anlass über den Zweiten Weltkrieg gesprochen hätten. Aber die andere berühmte Rede, die von Theodor Heuss, dem ersten Bundespräsidenten, die datierte ja noch von der Zeit, bevor er Bundespräsident wurde, nämlich vom 8. Mai 1949, also zur Verkündung des Grundgesetzes. Und da sagt Heuss diese Worte als Mitglied es Parlamentarischen Rates: Die Deutschen seien damals am 8. Mai 1945 "erlöst und vernichtet in einem" gewesen.
Sie merken an dieser Formulierung, da ist natürlich dieses Element der Kapitulation, des Zusammenbruchs, der Niederlage noch sehr präsent. Das war eben auch für die Zeitgenossen wichtig, dass er sozusagen dieses Element hier mit eingebracht hat. Und die Erlösung, ja, das ist natürlich auch etwas, wo man sagen kann, hier steckt eine Deutung drin, die den Realitäten, den historischen Realitäten nicht ganz gerecht wird. Denn eines ist ja ganz deutlich, und das ist auch zur Weizsäcker-Rede dann 40 Jahre später zu sagen: Es ging den Alliierten und musste den Alliierten 1945 nicht um die Befreiung der Deutschen gehen, sondern um die Befreiung Europas und der Welt von dem Nationalsozialismus, von der Pest des Nationalsozialismus.
Deutschlandradio Kultur: Und wie war das in der DDR? Was war da der 8. bzw. der 9. Mai in der Erinnerungskultur?
Norbert Frei: In der DDR haben wir eine relativ schnell sich entfaltende sozusagen grundlegend antifaschistische Interpretation. Es wird ja auch davon ausgegangen, dass der Nationalsozialismus und seine Folgen nur das Problem der alten Bundesrepublik sind, dass die DDR damit nichts zu tun hat. Und insofern wird dann ganz gegen die Erfahrung von sehr vielen Ostdeutschen natürlich der 8. Mai sehr einseitig und sehr vehement als Tag der Befreiung durch die Rote Armee, durch den sowjetischen Bruderstaat gefeiert. Das atmet natürlich von Beginn an für viele Zeitgenossen einen falschen Zungenschlag.
Deutschlandradio Kultur: Kann man das denn heute nachvollziehen, inwieweit das mit der Zeit bei der Bevölkerung verfangen hat, diese seltsame Sicht der Dinge – gerade weil ja auch im Osten sehr viele Leute eher unerfreuliche Erinnerungen an die Befreiung durch die Sowjetunion hatten.
Chance für neue freiheitliche Entwicklung in Deutschland
Norbert Frei: Ja, das ist diese Spaltung zwischen öffentlichem Gedenken, Pflichtveranstaltungen, Routinen auch, Ritualen und dem, was jeder Einzelne in der zweiten deutschen Diktatur eben dann für sich gedacht hat und vielleicht sich als privaten Reim auf diese Erfahrungen gemacht hat. Und in dieser Hinsicht wurde natürlich auch die Spannung oder das Unglaubhafte dieses Antifaschismus eben für jeden ganz konkret fassbar.
Deutschlandradio Kultur: Und wie sieht es heute aus nach 25 Jahren immerhin deutscher Einheit? Gibt es jetzt so etwas wie eine gesamtdeutsche Sicht auf das Kriegsende, eine gemeinsame Erinnerungskultur?
Norbert Frei: Ich glaube, es gibt jedenfalls ein doch insgesamt sehr an den historischen Fakten orientiertes, sehr differenziertes Verstehen dieses 8. Mai, seiner Vorgeschichte und auch der unterschiedlichen Erfahrungen, die dieser Tag verkörpert. Das jedenfalls haben für mich auch die Reden, die politischen Reden, aber auch dann die Rede von Heinrich August Winkler im Deutschen Bundestag sehr deutlich gezeigt, dass es nicht darum gehen kann, hier eine fixe Deutung ganz festzuschreiben, sondern dass Raum bleiben muss für unterschiedliche Erfahrungen, aber dass auch klar ist, was unsere politische Bewertung dieses Tages ist, nämlich in der Tat: Der 8. Mai 1945 hat überhaupt erst die Chance für eine neue freiheitliche Entwicklung in Deutschland gelegt.
Deutschlandradio Kultur: Dennoch ist der 8. Mai in Deutschland kein offizieller Gedenktag, anders als etwa der 27. Januar, Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, oder der 20. Juni, der in diesem Jahr erstmals als Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung begangen wird. Die Linkspartei fordert, dass auch der 8. Mai einen offiziellen Charakter bekommen soll, eben als Tag der Befreiung – zu Recht?
Norbert Frei: Also, wir haben am 8. Mai 1949 ja auch die Verkündung des Grundgesetzes. Und ich glaube, wir sollten nicht immer noch neue gesetzliche Versuche machen, unser historisches Gedenken, unser Geschichtsbewusstsein festzuschreiben.
Die Formulierung dann auch als "Tag der Befreiung" verkürzt ja auch gerade das, worüber wir gesprochen haben. Ich würde insgesamt dazu raten, historische Reflexion, die wichtig ist, die aus der Gesellschaft auch kommen soll und muss, nicht in historische Gesetze zu gießen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Frei, in der Sowjetunion und in Russland war und ist das ganz anders. Da ist der 9. Mai als Tag des Sieges ein Jubeltag, bei dem zu Sowjetzeiten stets in martialischen Paraden militärische Stärke demonstriert wurde. Allerdings habe ich bei der Vorbereitung auf unser Gespräch festgestellt, dass das nicht immer so war, dass zumindest am Anfang Josef Stalin gar nicht so erpicht darauf war, diesen Tag so groß zu feiern. Warum war das so?
"Millionen haben die deutsche Kriegsgefangenschaft nicht überlebt"
Norbert Frei: Ja, in der Tat. In den 50er Jahren waren die Wunden, dieser ungeheure Blutzoll, den die Sowjetunion leisten musste in diesem Zweiten Weltkrieg, natürlich noch sehr frisch. Und ich glaube, viele Menschen haben einfach sozusagen aus den Erfahrungen, die die jeweils eigenen Familien gemacht haben, nicht unbedingt einen Grund zu Jubelfeiern gesehen.
Aber es kommt noch etwas anderes hinzu. Es sind ja auch alle diejenigen, die als Kriegsgefangene aus Deutschland zurückgekommen sind. Ganz viele, Millionen haben die deutsche Kriegsgefangenschaft nicht überlebt, wie wir wissen. Der Bundespräsident hat darauf zu Recht gerade neulich noch einmal sehr eindringlich hingewiesen. Aber die zurückkehrenden Kriegsgefangenen und nicht zuletzt das Heer der vielen sowjetischen Zwangsarbeiter, die dann, in der Sowjetunion zurückgekommen, neue Repressalien erlebt haben, sich übrigens auch gewundert haben über die unglaublich schlechten Lebensverhältnisse dort, obwohl sie nun in Deutschland auch wirklich unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten mussten.
Mit anderen Worten: Da waren ja auch sehr viele Teile der Gesellschaft, die ganz andere Erfahrungen und Erinnerungen und dann auch neue Repressalien erlebt hatten, so dass in dieser frühen Phase in den 50er-Jahren im Stalinismus in der Tat für solche Jubelfeiern noch kein richtiger Platz war.
Deutschlandradio Kultur: Ganz anders in diesem Jahr. Eine besonders große Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau hat Wladimir Putin angeordnet. Unter anderem wurde ein nagelneuer Panzer, angeblich der stärkste Panzer der Welt, präsentiert. Knüpft Putin mit dieser Art von Erinnern nahtlos an sowjetische Geschichtspolitik während des Kalten Krieges an?
Norbert Frei: Optisch sieht es zumindest so aus. Die Zeiten sind aber nicht mehr die des Kalten Krieges. Es ist nicht mehr, glücklicherweise, diese Ost-West-Konfrontation in der wechselseitigen nuklearen Bedrohung, wie wir sie Jahrzehnte lang hatten. Aber Sie haben Recht. Die Optik greift dort wieder an und nimmt wohl auch ganz bewusst Bezug auf das, was zu den glorreichen Zeiten, vermeintlich glorreichen Zeiten der Sowjetunion an Militärparaden der Fall gewesen ist.
Deutschlandradio Kultur: Obwohl wir den Kalten Krieg hinter uns haben, steht das Weltkriegsgedenken in diesem Jahr ja im Schatten des Ukraine-Konflikts und der doch immerhin wachsenden Spannung zwischen Ost und West. Darum haben zahlreiche westliche Staats- und Regierungschefs die russische Einladung zur Siegesparade ausgeschlagen. – Ist das der richtige Weg, um mit dem Gedenken an geschichtliche Ereignisse Politik zu machen?
Norbert Frei: Ich glaube, es war richtig, dass die deutsche Bundeskanzlerin gesagt hat, dass sie an dieser Militärparade jetzt nach der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ukraine nun nicht teilnehmen kann. Denn das war ja eine Zäsur auch nach dieser großen Zäsur von 1989/ 90, dass eben zum ersten Mal die Grenzen in Europa wieder nicht respektiert worden sind, die völkerrechtlichen Grenzen. Und da muss ein Zeichen..., das kann nicht einfach so akzeptiert werden.
Auf der anderen Seite hat die Bundeskanzlerin sich entschieden, dann doch am Tag danach dieser Millionen Opfer auf sowjetischer Seite zu gedenken, die dann, um Deutschland und Europa und die Welt vom Nationalsozialismus zu befreien, geleistet worden sind – und deswegen dann diese gemeinsame Kranzniederlegung am Denkmal des unbekannten Soldaten. Das halte ich für eine zwar komplizierte, aber insgesamt kluge und richtige Überlegung.
Deutschlandradio Kultur: Aber die russische Regierung wertet oder feiert die Kranzniederlegung von Frau Merkel und Herrn Putin als Ausscheren Deutschlands aus der Boykottfront des Westens beim Gedenken. Also, da sieht man vielleicht dann doch Grenzen dessen, was man mit solchen symbolischen Akten in der Tagespolitik erreichen kann oder auch nicht erreichen kann.
"Osteuropäische Staaten, Polen, die baltischen Staaten, haben ihre eigene Stimme"
Norbert Frei: Ja, aber trotzdem, glaube ich, müssen wir auf unserer deutschen Sichtweise hier dann beharren und uns nicht von der Instrumentalisierung, die von russischer Seite jetzt erfolgt, gewissermaßen von dem, was uns wichtig ist, nämlich in der Tat diesen hohen Anteil, den die Sowjetunion an der Niederringung des Nationalsozialismus hat, ablenken lassen.
Deutschlandradio Kultur: Wie gesagt, das Ganze findet vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts statt und laut regierungsamtlicher russischer Darstellung kämpfen da in der Ostukraine ja angeblich freiheitsliebende Separatisten gegen die angeblich von Faschisten unterwanderte ukrainische Regierung. Und da wird dieser Tage in Russland immer wieder der ganz große historische Bogen geschlagen: Damals haben wir gegen die deutschen Faschisten gekämpft. Heute geht es eben gegen die ukrainischen Faschisten.
Gibt es irgendeine historische Grundlage für diese Parallele?
Norbert Frei: Nein, für diese Parallelisierung gibt es selbstverständlich keine Grundlagen. Das können, das müssen wir im Westen auch immer wieder deutlich und vernünftig sagen. Und wir können natürlich auch ein bisschen darauf hoffen, dass in Zeiten des Internets und in der Zeit einer wirklich weltumspannenden Kommunikation auch gegen diese russische Propaganda der eine oder andere oder jedenfalls diejenigen, die es hören wollen, diese westlichen Argumente hören können.
Deutschlandradio Kultur: Ein Wort noch zu den Ländern in Ostmitteleuropa, wie Polen oder den baltischen Staaten: Deren politische Repräsentanten haben gestern auf der Danziger Westerplatte an das Kriegsende erinnert und daran, dass es für sie damals keineswegs Befreiung bedeutet hat.
Haben wir in Deutschland diese historischen Erfahrungen nicht genug beachtet? Haben wir den Krieg im Osten und die Versöhnung danach zu sehr als eine ja sozusagen bilaterale Sache zwischen Deutschen und Russen gesehen?
Norbert Frei: Also, ich glaube, in der Zeit der alten Bundesrepublik vor 1989/90 ist in der Tat da nicht immer der klare Blick auch auf das, was für die Osteuropäer mit dem Kriegsende verbunden war, allzu präsent gewesen. Das hat sich aber doch gründlich verändert. Die osteuropäischen Staaten, Polen, die baltischen Staaten, haben ihre eigene Stimme, sind Teil Europas, machen ihre eigenen Perspektiven geltend in Europa. Das ist richtig. Das ist wichtig. Und in diesem Sinne hat ja auch Heinrich August Winkler gestern im Bundestag zu Recht gesagt: Klar muss sein, dass die Deutschen nicht entscheiden können und niemals auch nur den Gedanken haben dürfen, dass sie wissen können, was für die Osteuropäer gut und richtig ist. Und es kann nicht sein, dass Berlin und Moskau gewissermaßen ohne Rücksicht auf unsere osteuropäischen Partner irgendwelche Verabredungen treffen.
Wenn uns das klar ist, dann können wir auch mit diesen unterschiedlichen Perspektiven auf den 8. Mai in Europa gut umgehen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Frei, ich arbeite seit 27 Jahren als politischer Journalist und ich habe den Eindruck, dass in dieser Zeit die Beschäftigung mit Geschichte für die Politik und für die Politiker wichtiger geworden ist, also, wie man bestehende politische Verhältnisse aus der Vergangenheit heraus legitimiert oder diskreditiert – auch durch die staatliche Pflege einer bestimmten Erinnerungskultur. – Teilen Sie diesen Eindruck? Gibt es einen Boom der Geschichtspolitik?
Norbert Frei: Ja, ich bin ähnlich lange in dem Feld aktiv, wie Sie es für sich gerade gesagt haben. Und ich würde Ihrer Beobachtung folgen. Allerdings glaube ich, dass das nicht erst jetzt eine Sache der letzten zehn oder vielleicht sogar noch nicht einmal der letzten 15 Jahre ist. Also, allein schon das Faktum, dass das 50. Kriegsende 1995 in noch sehr viel größerem, natürlich auch in diesem Gefühl des Überschwangs nach der Zäsur 1989/91 gefeiert worden ist, zeigt, dass wir seit langem jetzt doch schon in sehr geschichtsbewussten Zeiten leben, in Zeiten, in denen die Politik sehr daran interessiert ist, solche Daten dann auch für sich – ich würde nicht sagen – zu instrumentalisieren, sondern für sich aufzunehmen. Damit ist natürlich immer auch eine Gefahr einer unzulässigen Instrumentalisierung verbunden.
Aber auf der anderen Seite ist ja doch auch richtig, dass unser historisches Interesse, unser Interesse an historischen Daten immer aus der aktuellen Situation unserer Gegenwart gespeist wird. Deswegen ändern sich ja auch die Perspektiven. Deswegen schauen wir heute vielleicht anders auf den 8. Mai als 1995 in diesem Gefühl, dass jetzt wirklich die Epoche der Nachkriegszeit zu Ende gegangen ist. Und jetzt erkennen wir: Nein, es gibt 20 Jahre später wieder neue Problemlagen, über die wir ja auch gerade schon gesprochen haben.
Also, ja, die Politik hat ein großes Interesse an der Geschichte. Wir müssen nur darauf achten, dass nicht mit falschen Vorstellungen, immer nur von Erinnerung zu sprechen, operiert wird, sondern dass wirklich klar wird und klar bleibt, es geht darum, historisch kritisches Bewusstsein immer wieder neu zu erarbeiten. Geschichtsbewusstsein geht nicht in einem Erinnerungsappell auf.
Deutschlandradio Kultur: Was man nach der Wende mal zwischen Deutschland und Polen "Versöhnungskitsch" oder "Erinnerungskitsch" nennen wollte, dass man also im Überschwang der Gefühle die Probleme, die es aus der Geschichte eben auch noch gibt, unter den Tisch fallen lässt. – So etwas meinen Sie damit auch?
Norbert Frei: Ich meine damit in der Tat, dass auch diese geradezu zur politischen Rede gewordene Pflicht zur Erinnerung ein Element enthält, das auch gerade bei jungen Leuten nicht verfängt, weil es nicht darum gehen kann, dass wir uns erinnern. Wir haben am Anfang darüber gesprochen: Die allermeisten der heute Lebenden haben keine Erinnerung an das Kriegsende 1945. Aber wir haben natürlich trotzdem die Aufgabe und die Notwendigkeit, uns historisch kritisch damit auseinanderzusetzen. Und das ist ein Unterschied. Diesen Unterschied sollten wir auch machen und dessen sollten wir uns auch bewusst sein.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade vor der Instrumentalisierung von Geschichte durch Politik gewarnt. Ein ganz konkretes Beispiel angewandter Geschichtspolitik erleben wir ja gerade mit der Diskussion um Reparationsforderungen von Griechenland an Deutschland wegen der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Die Bundesregierung kontert diese Forderung mit juristischen Argumenten. Aber reicht das oder rächt sich jetzt, dass die Massaker an Zivilisten in den von Nazideutschland besetzten Gebieten in unserer historischen Erinnerung wenig Raum hatten, zu wenig Raum?
"Dass Misstöne ins Spiel kommen, das muss einen nicht wundern"
Norbert Frei: Ja, ich glaube tatsächlich, dass die harte Besatzungspolitik auf dem Peloponnes in Deutschland, in der alten Bundesrepublik, aber auch jetzt in den letzten 20 Jahren nicht adäquat präsent gewesen ist, auch im Vergleich mit anderen Bereichen, in denen wir uns sozusagen mit der deutschen Besatzungspolitik auseinandergesetzt haben.
Und das, ich würde nicht sagen: rächt sich, aber das ist jetzt ein Teil auch dieses Problems. Die Tatsache, dass es die Zwangsarbeiterentschädigung für die osteuropäischen Zwangsarbeiter gegeben hat, vor 20 Jahren begann die Diskussion darüber und ist dann auch in dieser Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft zu einer akzeptablen Lösung gebracht worden, und etwas Vergleichbares hat es in Bezug auf Griechenland nie gegeben.
Und dass dann jetzt in einer aus ganz anderen Gründen so aufgeladenen politischen Debatte auch Misstöne ins Spiel kommen, das muss einen nicht wundern.
Deutschlandradio Kultur: Hat das auch etwas damit zu tun, ich will mal sagen, mit dem langen Schatten von Auschwitz? Damit meine ich, wir haben uns zu Recht sehr intensiv mit dem furchtbarsten aller NS-Verbrechen auseinandergesetzt, dem Holocaust, darüber aber – ob aus Überforderung oder vielleicht auch einfach aus Bequemlichkeit – die vielen anderen Gräueltaten eher unterbelichtet.
Norbert Frei: Ich glaube nicht, dass man das so pauschal sagen kann. Also, es gibt natürlich gerade etwa um die Jahrtausendwende eine gesamteuropäische, fast möchte ich sagen, Bereitschaft, den Holocaust gleichsam als den negativen Gründungsmythos von Europa zu verankern.
Wir haben gesehen, dass das nicht zuletzt auch aufgrund der Einwände, die von Seiten unserer osteuropäischen Mitglieder der EU gekommen sind, in der Form nicht stattgefunden hat. Und wir haben dann doch auch zur Kenntnis nehmen müssen, dass es noch andere Großverbrechen im Zweiten Weltkrieg, die von Deutschland ausgegangen sind, gegeben hat, die zusätzlich und intensiver erinnert werden müssen und mussten, als das bis dahin vielleicht der Fall gewesen ist. Aber insgesamt scheint mir es doch so zu sein, dass wir längst Klarheit darüber haben, dass deutsche Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg überall ihre Verbrechensspuren hinterlassen hat.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch ein bisschen bei der Instrumentalisierung von Geschichte – sei sie nun berechtigt oder nicht. Was bedeutet das für die Arbeit des Historikers? Muss man sich als Historiker, während man eine Forschungsarbeit schreibt, schon mal überlegen, wie die möglicherweise politisch ausgeschlachtet werden könnte und von wem?
Norbert Frei: Nein, das sollte man nicht und das muss man auch nicht. Forschung und Quellenarbeit ist das eine. Wichtig ist natürlich, dass man, gerade wenn es um die Geschichte des Nationalsozialismus geht, auch – so meine ich jedenfalls – bereit ist, seine Forschungsergebnisse, seine Wissenschaft in der Öffentlichkeit zu präsentieren und zu vertreten. Aber dass ein Unterschied besteht zwischen Politik und Wissenschaft, das würde ich allerdings immer wieder markieren und auch sagen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Frei, wenn wir zum Schluss noch einmal auf den Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurückkommen, den 8. und 9. Mai 1945, können Sie sich vorstellen, dass es einmal zu einem gesamteuropäischen Erinnern an den Krieg und an dessen Ende kommen kann, zu einem gemeinsamen Narrativ über Ländergrenzen und politische Allianzen hinweg?
Norbert Frei: Ich finde es schon wichtig und beachtlich, wie intensiv überall in Europa über diesen Tag reflektiert wird. Und die Tatsache, dass es da unterschiedliche Akzente gibt und dass wir in Europa auch diese unterschiedlichen Akzente, diese unterschiedlichen Perspektiven haben und aussprechen können, das ist für mich ein Wert an sich.
Vielleicht besteht eben das europäische Narrativ zu diesem Datum wie zu anderen wichtigen Daten gerade darin zu sagen, wir sind uns dieser Daten bewusst. Wir setzen uns mit diesen Daten auseinander. Und wir legen keinen Wert darauf, ein auf Biegen und Brechen einheitliches Narrativ herzustellen, weil wir wissen, dass Europa sich aus vielen Perspektiven zusammensetzt, und weil wir wissen, dass Europa nach 1945 eine lange Zeit wirklich unterschiedliche Erfahrungen gemacht hat.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.

Prof. Dr. Norbert Frei, geboren 1955 in Frankfurt/Main, studierte in den 1970er-Jahren Geschichte, Politik- und Kommunikationswissenschaften in München, dort promovierte er 1979. 1979-1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte, München, daneben Forschungsaufenthalte in Harvard und am Wissenschaftszentrum Berlin. Lehrstuhl-Inhaber für Neuere und Neueste Geschichte an den Universitäten Bochum (1997-2005) und Jena (seit 2005). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der NS-Zeit sowie Vergangenheitspolitik und Gedenkkultur.

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