Hirschgarten in München

Ein Park für Muffelwild und das Volk

Der Biergarten Königlicher Hirschgarten im gleichnamigen Park in München am 15.02.2015
Angeblich der größte der Welt: der Biergarten Königlicher Hirschgarten im gleichnamigen Park in München © imago / Ralph Peters
Von Michael Watzke · 17.07.2015
Den Englischen Garten in München kennt jeder − den Königlichen Hirschgarten nicht. Dabei hat der 40 Hektar große Park einiges zu bieten: neben Spiel- und Grillplätzen und Wildgehege den angeblich größten Biergarten der Welt. Geschichtsträchtig ist er auch.
"Hallo, ich bin der Emil aus München." / "Ich bin der Philipp aus München." / "Und ich bin der Klemens. Auch aus München."
Willkommen bei "Emil und die Detektive 2.0". Auf digitaler Schnitzeljagd durch den Hirschgarten.
Emil: "Also wir gehen jetzt Geo-Caching. Das heißt, wir suchen jetzt hier Mini-Schätze. Da kann man dann unterschreiben. Das ist einfach der Spaß am Suchen. Und am Schauen, wo es genau ist. Im Hirschgarten."
Emil, Philipp und Klemens (14, 11 und 10 Jahre alt) lieben den Münchner Hirschgarten. Hier sind überall Caches versteckt, geheimnisvolle Schätze in verborgenen Kästchen. Das verschlungene Park-Gelände mit den uralten Eichen ist für die drei Schüler ein Geo-Caching-Paradies. Denn:
Klemens: "Der Hirschgarten ist voller Muggels. Hier sind fast nur Muggels."
Muggels – dieses Wort hat sich die verschworene Gemeinde der Geo-Cacher aus den Harry-Potter-Romanen geborgt.
Klemens: "Muggels sind Menschen, die nichts von diesem Geo-Caching wissen. Oder es noch nie gemacht haben."
Also 99 Prozent der Hirschgarten-Besucher an diesem sonnigen Samstag-Nachmittag. Emil und die Detektive nehmen die Fährte auf.
Klemens: "Nach Südwesten. Richtung Hirschgehege und Wasser-Spielplatz."
Klemens blickt auf ein kleines Gerät, das aus der Ferne wie ein Handy aussieht. Es ist aber ein GPS-Tracker, in den Emil die Schatz-Koordinaten eingegeben hat. Die Suche kann beginnen:
"Jetzt müssen wir hier ins Gebüsch und einen Weg finden. Wir müssen von der Route abweichen. Weil wir auf Luftlinie unterwegs sind."
Emil und die Detektive stoßen auf einen Zaun. Sie sind so vertieft in die Suche, dass ihnen nicht mal die Hirsche auffallen, die hier friedlich grasen und ihr mächtiges Geweih schütteln. Am Rande des Geheges steht Cornelia Sebald mit ihrer Tochter Klara, zwei Jahre alt. Die kleine wirft den Tieren Karottenschnipsel zu:
"Die Hirsche liegen im Gras, lassen sich die Sonne auf den Bauch scheinen und genießen das schöne Wetter wie wir auch. Unsere kleine Tochter ist begeistert. Sieht sie heute zum ersten Mal. Was ganz Neues für sie. Schön, dass es sowas gibt. Toll für die Kinder."
Dass es so etwas gibt, verdanken die Münchner der französischen Revolution von 1789. Damals stürmte das Volk in Paris auf die Straße – gegen den Adel. Auch die Wittelsbacher in Bayern spürten den Druck. Damit die Münchner nicht auf die Barrikaden gingen, öffneten die hohen Herren viele Tore für das gemeine Volk. Auch die ihres privaten Jagdreviers. Daher der Name – Hirschgarten.
Michael Brunner:
"Der kommt wirklich daher, dass 1780 vom Kurfürst Karl-Theodor ein Jagd-Park eröffnet worden ist. Das war damals alles Wald, da hat man einen Teil eingezäunt und ein Hirschgehe angelegt. Und 1790 wurde er der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das war für damalige Zeiten sensationell. Genauso, wie in der damaligen Zeit der Englische Garten gegründet wurde. So hat sich der Hirschgarten allmählich zum Volkspark entwickelt."
Stolze Baumriesen haben die Nazis überlebt
Für diesen Volkspark ist heute Michael Brunner zuständig. Der 61 Jahre alte Diplom-Ingenieur ist Landespfleger im Baureferat München. Vor sechs Jahrzehnten gehörte der Hirschgarten noch dem Wittelsbacher Ausgleichsfonds, der reichsten Privat-Stiftung Bayerns:
"1956 erst ist ein Teil des Parks, der nordöstliche Teil, von der Stadt gekauft worden. Vorher war das alles in anderen Händen. Wir haben den dann nach und nach in unserem Sinne weiterentwickelt."
Die Stadt München hat vor allem aufgeforstet. Das war bitter nötig, denn der Hirschgarten hatte schwer unter der Herrschaft der Nationalsozialisten gelitten. In den 30er Jahren ließ Hitler im Mittelteil des Hirschgartens hunderte alte Eichen abholzen.
Michael Brunner: "Dort sollte ein gigantischer Hauptbahnhof gebaut werden. Der jetzige Hauptbahnhof war ihm zu klein und zu sehr im Zentrum. Dort sollten ja andere Gigantomanien entstehen. Und es war vorgesehen, den Hauptbahnhof im Hirschgarten zu bauen. Abgeholzt ist bereits in der Zeit alles worden."
Noch heute erkennt man auf Luftbildern des Hirschgartens die Spuren der Nazis. Die stolzen Baumriesen stehen nur im Norden des Parks. Einen dieser 300 Jahre alten Giganten hat Michael Brunner besonders ins Herz geschlossen:
"Ja, es gibt eine alte, freistehende Eiche. Die hab ich seit zwanzig Jahren im Auge, weil wir schon damals Sorge hatten, dass die vielleicht umfallen könnte. Wir haben dann auch alle möglichen Gutachter eingeschaltet. Wir haben auch Zugversuche gemacht, um die Standfestigkeit prüfen zu lassen. Und heute, zwanzig Jahre später, steht dieser Baum immer noch. Und immer, wenn ich in den Hirschgarten komme, schaue ich vorbei, wie es ihm geht."
Dem Baum geht es blendend. In seiner Krone huschen Oachkatzln von Ast zu Ast, bayrisch für Eichhörnchen. In die Rinde seines Stammes haben unzählige Liebespaare Treueschwüre geritzt. Und im Schatten der riesigen Eiche findet jeden Donnerstagabend ein seltsames Schauspiel statt:
"Felix, 17, Kettenspieler!" / „Andi, 23, Q-Tip!" / „Ralf, 51, Trommeln!" / „Simon, 26, Stab!" / „Selina, 13, Langpompfe!" / „Anne, 21 und noch keine Ahnung."
Anne ist heute zum ersten Mal im Hirschgarten – beim Juggen. Die Studentin hält eine Langpompfe in der Hand - einen zwei Meter langen Stab, der aussieht wie ein überdimensioniertes Wattestäbchen. Annes Freund Andreas hat sie überredet mitzukommen. Er ist leidenschaftlicher Jugger.
Andreas/Anne: "Da stecken wir jetzt das Spielfeld ab. 20 mal 60 Meter, etwas kleiner als ein Fußballfeld, aber schon ordentlich mit vier bis fünf Spielern." / „Ich bin heute zum ersten Mal dabei. Er hat's mir erzählt, und dann dachte ich, ja, eigentlich ne coole Idee. Komm' ich mal mit, schau' ich mir an." / „Hier haben wir den meisten Platz, hier ist eine schöne Wiese, hier ist im Sommer gelegentlich ein bisschen Schatten durch die Bäume. Dann fangen wir an mit ein paar Aufwärm-Übungen. Erklären noch die Pompfen für Neulinge, die dabei sind. Und dann geht's mit Spielen los."
Axel Baschek: "Drei, zwei, eins – JUGGER!"
Die Jugger-Spieler schlagen mit ihren Pompfen aufeinander ein. Pompfen sind ritualisierte Schlagwaffen aus Schaumstoff. Sie heißen so, weil sie beim Aufschlag klingen wie, nun ja ...
... ein Pompf. Juggen ist eine Art mittelalterliches Fantasy-Spiel mit neuzeitlichen Regeln. Es gibt Schilde, Ketten mit stachligen Kugeln und einen stilisierten Hundeschädel aus Plastik. Das, erklärt Trainer Axel Baschek, ist der Jugg:
"Der Schädel erinnert an die Ursprünge des Jugger-Spiels. Das Ganze geht zurück auf einen Film aus den 80er Jahren. ‚Die Jugger – Kampf der Besten'. Spielt im atomar verwüsteten Australien, glaub ich. Und da ziehen Jugger-Teams von Dorf zu Dorf, um damit ihr Leben zu fristen. Also ähnlich wie Gladiatoren in der Arena gekämpft haben, haben die Jugger-Teams gegeneinander gekämpft. Und in diesem Film ist der Spielball kein Ball, sondern ein Hundeschädel."
Juggen ist ein Randsport. In München gibt es ihn nur im Hirschgarten. Das Team heißt Munich Monks – und zieht immer wieder erstaunte bis ratlose Blicke der restlichen Hirschgarten-Besucher auf sich.
"Wir haben immer sehr viele interessierte Zuschauer. Klar, das Spiel schaut halt martialisch aus. Ist mit sehr viel Gebrüll und Geschrei verbunden, weil man sich Kommandos gibt. Da werden die Leute schon aufmerksam. Und wir haben auch schon viele Mitspieler über diesen Open Space im Hirschgarten gewonnen."
23 Spieler sind heute gekommen. Die meisten sind Jungs in der Pubertät, die sich beim Juggen ordentlich austoben und spielerisch Aggressionen abbauen können. Trainer Baschek achtet darauf, dass niemand über die Stränge schlägt:
"So, wir spielen Zombie. Unfair. Das heißt jeder gegen jeden. Man darf auch die Leute von hinten abschlagen. Wenn Ihr jemanden von hinten abgeschlagen habt, müsst ihr den nächsten in einem realen Duell von vorne besiegen."
Während sich die Jugger-Spieler auf vorne und hinten konzentrieren, ahnen sie nicht, was unter ihnen passiert. Kaum jemand weiß, dass direkt unter dem Hirschgarten einer der spannendsten Orte Münchens liegt.
In der Gruft riecht es nach Moos
Eine Kaverne, ein unterirdischer Hohlraum von gewaltigen Ausmaßen. Das ist der Arbeitsplatz von Senol Özdemir, der 50 Meter unter der Erde gern türkische Schlager von Tarkan schmettert:
"Wenn ich hier unten bin, wenn wir waschen, dann singe ich ganz gern mal, wenn ich ehrlich bin. Meistens singe ich auf türkisch, ich kann nur türkisch singen. Und vom Echo her hört sich's ganz gut an."
Zum Beweis klemmt Senol Özdemir Daumen und Zeigefinger zwischen die Lippen.
"Einfach laut pfeifen halt." (Pfiff)
Das Echo zwischen den haushohen Betonwänden hallt 30 Sekunden lang nach.
"Das hört man immer noch. Das kann man eigentlich nicht beschreiben. Das muss man nur hören, das ist super."
Wenn Türk-Popstar Tarkan wüsste, dass ihn hier, in Münchens Unterwelt, Senol Özdemir imitiert! Ein 45 Jahre alter Vorarbeiter der Stadtentwässerung. Özdemir säubert Europas größtes Regenrückhaltebecken mit armdicken Feuerwehrschläuchen. Kein ungefährlicher Job, schließlich können sich hier unten schnell gefährliche Gase bilden. Özdemir trägt stets ein piepsendes Messgerät:
"Also Sauerstoff haben wir da, man kann Sauerstoff damit messen. Schwefelwasserstoffe. Methan. Gase. Das ist das optimalste Gerät, was es gibt."
Özdemir steht vor einer Phalanx von Wasserrohren. Mit beiden Händen öffnet er die schweren Eisendeckel auf der Oberseite.
Durch diese Ventile leitet die Münchner Stadtentwässerung gewaltige Abwassermengen, wenn es in der Stadt kräftig regnet. Und das tut es häufig. 90.000 Kubikmeter passen in die unterirdische Kaverne. Mit einer solchen Wassersäule könnte man ein Fußballfeld 18 Meter hoch fluten, erklärt Matthias Wünsch:
"Also das Bauwerk hat eine Länge von 210 Metern, eine Breite von 37 Metern und eine Höhe von 16 Metern. Das ist wirklich eine gewaltige Dimension. Wir haben in München halt die Sonder-Situation, dass die Stadt einen besonders hohen Jahres-Niederschlag hat. Knapp 1000 Millimeter. Die Regen sind bei uns sehr, sehr intensiv. Das heißt, wir haben in kurzer Zeit einen extrem hohen Niederschlag."
Matthias Wünsch ist Pressesprecher der Münchner Stadtentwässerung, eines Kommunal-Betriebs der bayerischen Landeshauptstadt. Er führt regelmäßig Besuchergruppen in die Hirschgarten-Gruft und erklärt, wofür das Regenrückhaltebecken gut ist:
"Man kann das Wasser hier zwischenspeichern, wenn große Mengen anfallen. Man hat keine großen Überschwemmungen an der Oberfläche, das ist ein Ziel dieser Bauwerke. Man kann es gezielt einstauen. Warten, bis die Niederschläge wieder vorbei sind, bis das Kanalnetz wieder leer ist. Und das Abwasser dann kontrolliert ins Kanalnetz einleiten und in den Klärwerken klären. Und nicht mehr, wie es früher einmal war, in die Isar einleiten."
Früher einmal – das war vor 1996, als die Stadt München das Regenrückhaltebecken Hirschgarten für 90 Millionen DM baute. Seitdem hat sich die Wasserqualität der Isar so sehr verbessert, dass sich heute mitten in der Stadt tausende Menschen im Fluss abkühlen können:
"Wir haben ja im Sommer sogar Badewasser-Qualität in der Isar, was für eine Millionenstadt wie München absolut einmalig ist. Und dementsprechend ist unser Interesse natürlich groß, da keine Mischwasser-Einleitung zu haben."
Stattdessen sammelt sich so mancher Dreck bei Herrn Özdemir unter dem Hirschgarten. Der Vorarbeiter findet beim Säubern die erstaunlichsten Dinge:
"Gabeln, Messer – alles, was man sich vorstellen kann." / „Wir haben einfach ein Sammelsurium, das wir auch bei den Kanalführungen zeigen. Von Dingen, die man im Kanal findet. Da sind wirklich sehr viele Mobiltelefone dabei. Wie die da rein kommen, sei dahingestellt. Halt alles, was im Klo landet."
Trotzdem riecht es in den unterirdischen Speicher-Kavernen angenehm. Nach Moos und Grundwasser. Es ist erfrischend kühl, 6 Grad Celsius. Senol Özdemir mag seinen Arbeitsplatz unter dem Hirschgarten. Jedenfalls, solange es nicht regnet. Wenn aber die ersten Tropfen fallen, muss er das Regenrückhaltebecken innerhalb von Minuten verlassen. Denn kurz darauf bricht hier unter der Erde ein kontrolliertes Inferno los.
Matthias Wünsch: "Wenn das Wasser hier reinläuft, muss ja die Luft, die hier drin ist, verdrängt werden. Und als das Becken das erste Mal gefüllt wurde, hat man nicht bedacht, dass die Luftmassen so extrem groß sind bzw. sich das Becken so schnell füllt, dass die Luft nicht entweichen konnte und es sämtliche Kanaldeckel in der Region rausgeschleudert hat. Danach hat man dann noch einen Luftablass eingebaut."
Die Münchner Stadtentwässerung betreibt insgesamt neun Regenrückhaltebecken in München. Jenes unterm Hirschgarten ist das größte. Bald könnten es noch mehr werden. Denn der Klimawandel sorgt für immer mehr Starkregen-Ereignisse in München – und damit für mehr Speicherplatz-Bedarf. Solange es aber nicht regnet, nutzen Filmemacher die unterirdische Kulisse für Dreharbeiten und Musiker für Tonstudio-Aufnahmen. Das Jazz-Duo Hofmann-Wangenheim hat gleich eine ganze CD in der Kanalisation aufgenommen. Titel: „wasser:weg".
"So, und jetzt sind wir wieder an der Erdoberfläche. Jetzt sind wir wieder im Hirschgarten." / „Genau, die Vögel zwitschern. Wir sehen Tageslicht. Schön."
Das Kugelstoßen der Rentner
Hier oben sind noch immer Emil und seine beiden Geo-Caching-Detektive unterwegs. Auf der Suche nach dem Schatz des Hirschgartens pirschen sie durchs Unterholz.
"Wieviel sind es noch? Wieviel Meter?" / „Nur noch drei Meter!" / „Also muss es hier im Umkreis sein." / „Jetzt müssen wir mal gucken nach irgendwelchen Baumhöhlen oder nach verräterischen Sachen, die irgendwo stehen oder liegen."
Die einzige verräterische Sache, die der Reporter-Muggel erkennen kann, ist eine Gruppe von braungebrannten Herren im Sandkasten.
Klemens: "Hier vorne ist auch so 'ne Rentner-Kugelbahn..." / „Die Rentner-Kugelbahn. Was machen die Rentner da?" / „Kugelstoßen!"
Das dürfen die Rentner nicht hören. Kugelstoßen heißt bei ihnen...
"Boccia. Wird Boccia gespielt."
Stipe Perkovic, 66 Jahre alt, ist Fast-Rentner. Der Speisewagen-Kellner der Deutschen Bahn muss noch genau drei Wochen arbeiten – dann wird er mit seinen Freunden noch häufiger an der Boccia-Bahn im Hirschgarten sitzen:
"Bei uns gibt's keine Unwetter oder Gewitter, wo wir nicht da sind. Da muss es wirklich in Strömen regnen oder schneien. Wir haben schon 30 Zentimeter Schnee weggeräumt, und auf der anderen Bahn waren wieder 40 Zentimeter, und wir haben weitergeschaufelt. Wir sind wirklich Tag und Nacht hier."
Stipe hat einen gewaltigen Bierbauch. Er trägt ihn stolz, ohne Scheu und ohne Hemd vor sich her. Im dichten Brusthaar versinkt ein Goldkettchen mit Kruzifix-Anhänger. Seine Freunde nennen Stipe Stefan. Stefan den Bayern. Obwohl...
"I bin a Kroate." / „Wie lange sind Sie schon in Bayern?" / „Seit 1968. Deutsche Staatsangehörigkeit. Und ich fühle mich langsam... weil Kinder und Enkelkinder und alle, also... fühle mich wie a Bayer. Oder wie heißt das? Mia san mia!"
Stipe verbringt jedes Jahr drei Monate in Dalmatien, aber seine eigentliche Heimat ist der Münchner Hirschgarten:
"Im Hirschgarten kann man gut essen, gutes Bier trinken, gute Leute treffen. Vor allem eigene Grills [benutzen], also wo Hirschgarten selber hingestellt hat. Oder wenn man [sich] einigermaßen benimmt, kann man eigene Grill mitbringen. Und grillen. Ob Wochenende oder unter der Woche. Also..."
... eigentlich perfekt. Trotzdem gab es eine Zeit, da wurde Stipe dem Hirschgarten untreu. Er ging fremd – in den Englischen Garten. Das ist vorbei.
"Englischer Garten ist für uns nichts. Weil die Nackerten und was da alles passiert – das erleben wir im Hirschgarten nicht. Englischer Garten gefällt mir nicht."
Jetzt ist Stipe am Zug. Er muss seine Boccia-Kugeln werfen. Die Spielregeln sind denkbar einfach.
"Zwei gegen zwei. Jeder hat zwei Kugeln. Die Kleine ist der Boule. Und wer gewinnt, kriegt ein Bier. So läuft das."
Es kommen so einige Biere zusammen an einem sonnigen Sommer-Samstag wie diesem. Und es ist ja nicht irgendein Bier im Hirschgarten:
"Seit ich in Bayern bin, trinke ich nur helles Augustiner. Vor allem im Hirschgarten aus dem Holzfass. Da können die Preußen einpacken, so leid's mir tut. Unser Bier ist unser Bier."
Der Wirt kämpft gegen Lärm-Gegner
Willkommen im Königlichen Hirschgarten. "Der Größte Biergarten Europas!"
... stellt in aller Bescheidenheit Johann Eichmeier klar. Der Hirschgarten-Wirt.
"8500 Plätze. Einzigartig, wenn man in der Welt rumkommt. Er ist in den letzten 60 Jahren zu dieser Größe angewachsen."
Dabei gibt es den Biergarten seit dem 18. Jahrhundert, betont Eichmeier, als habe er damals schon persönlich am Zapfhahn gestanden:
"Der Biergarten bzw. das Jagdhaus selbst ist 1791 vom Kurfürst Karl-Theodor erbaut worden. Es war seinerzeit in erster Linie ein Jagdschloss, wo die Königlichen Herrschaften sich eingetroffen haben, um dann von hier die berittene Jagd zu starten, die bis zum Starnberger See nach Seeshaupt geführt hat."
Die jahrhundertealte Tradition des Hirschgartens ist nicht nur ein touristisches Marketing-Argument für Eichmeier. Der Wirt zitiert die Geschichte auch deshalb, weil er gegen Lärm-Gegner kämpfen muss. Denn manchmal, wenn der FC Bayern oder die Nationalmannschaft Fußball spielen, geht's vor den Public-Viewing-Leinwänden des Hirschgartens zu wie in der Arena.
"Der Mensch, der Freizeit hat und sich ausgelassen benehmen möchte, der ist nun mal nicht unbedingt leise. Das sind Kinder nicht, das sind auch Erwachsene nicht. Sie wollen lachen, sie wollen rufen, vielleicht sogar mal schreien. Ich denke, das sollte den Menschen auch erhalten bleiben. Dass diejenigen, die schlafen wollen, sich darunter gestört fühlen, das ist verständlich. Aber jeder hat auch für sich selbst zu entscheiden, wohin er zieht, in welche Umgebung er zieht. Ein stückweit kann er das selber bestimmen."
In die Umgebung des Hirschgartens ziehen immer mehr Menschen. Die Stadt München, in ihrem chronischen Wohnungsmangel, hat im Süden des Parks ein gewaltiges Neubau-Gebiet hochgezogen. Hier sind auch Karina Hesse und ihre Familie eingezogen:
"Wir wohnen in der Winfriedstraße. Wenn man aus dem Hirschgarten rauskommt, kommt man da vorbei. Wir haben gemerkt, dass in den letzten fünf Jahren immer mehr Freunde in die Gegend gezogen sind. Es ist in München so schwer, eine Wohnung zu finden. Und hier gab's halt noch welche."
Vor allem bezahlbar und mit S-Bahn-Anschluss. Dazu vor der Haustür ein wunderschöner Park und ein lebhafter Biergarten.
"Wir haben ja hier in München doch einige schöne Finalspiele mit dem FC Bayern gehabt, und es ist wirklich so: wenn wir wissen, heute Abend ist Fußball, dann geht unsere Zubettgeh-Zeit automatisch nach hinten. Weil wir wissen: jetzt kommen die Fans. Die auch zum Teil immer mal wieder Maßkrüge dabei haben. Und die dann klirrend und jubelnd und Lieder trällernd an unserer Wohnung vorbeiziehen."
Karina Hesse will sich nicht beklagen. Die Schönheit der Wohngegend am Hirschgarten wiege die Lärmprobleme locker auf. Andere Anwohner dagegen haben geklagt. Deshalb räumt Biergarten-Wirt Eichmeier neuerdings die leeren Maßkrüge am Ende des Abends nicht mehr ab. Er wartet damit bis zum nächsten Morgen. Aus Rücksicht:
"Ja, wir tun sicher alles, um das Miteinander zu fördern oder zu stabilisieren. Wir sind uns für nahezu gar nichts zu schade, um eine ausgewogene Situation zu erreichen. Ich denke, das ist eine Entwicklung, die man einfach nicht verändern kann. Eine Stadt kann sich ja nur entweder verdichten oder nach außen erweitern. Was anderes bleibt nicht. Ich denke, die Stadt wird beides tun."
Die Stadt wird immer dichter an die Münchner Parks und Grünflächen und Biergärten heranwachsen. Die Lärmprobleme werden zunehmen. Aber auch die Zahl der Menschen, die abends unter Kastanienbäumen eine gepflegte Maß trinken wollen. Der Hirschgarten ist der letzte Biergarten Münchens, in dem das Bier noch aus einem 200-Liter-Holzfass fließt. Dem sogenannten Hirschen.
"Der Hirsch ist zu seinem Namen gekommen als Bierfass, weil die Könige und Kurfürsten zur Jagd ein 200-Liter-Fass Bier mitgenommen haben. Um auf der Jagdreise ihre Gesellschaft damit zu verköstigen."
Schon wieder so eine historische Geschichte aus dem Hirschgarten. Dem vielleicht münchnerischsten Park Münchens. In dem an jedem ersten Mai die Burschen in Tracht ganz selbstverständlich einen Maibaum aufstellen. Einen besonders hohen, selbstredend. Im Hirschgarten sind die Bedienungen grantiger als grantig, das Gras ist grüner und der Himmel blauer als irgendwo sonst in der Stadt. Für Michael Brunner, den obersten Park-Wächter vom Baureferat, ist sogar die Stimmung im Hirschgarten entspannter als anderswo.
"Für die Menge an Leuten, die sich da aufhalten und die wirklich dicht an dicht ihre Freizeit verbringen, ist das sehr verträglich und tolerant. Ich weiß nicht, das liegt irgendwie am Hirschgarten selber, das muss die Ausstrahlung von dem Park sein, die das ausmacht."
Der diplomierte Landespfleger Brunner kennt den Hirschgarten wie kein zweiter. Er hat sogar - zusammen mit einem Historiker - ein Parkpflege-Werk erstellt. Ein 200-Seiten-Buch, in dem alles steht, was man über den Hirschgarten wissen muss. Wer es nicht ganz so ausführlich braucht, für den fasst Brunner den Inhalt knapp zusammen. Zu einem perfekten Tag im Hirschgarten gehört demnach:
"... auf der Nordostseite diesen jetzt wieder neugestalteten Eingangsbereich aus den 50er Jahren anzuschauen. Ein Gartendenkmal! Sich hier im Schatten der alten Eichen an dem kleinen Teich vielleicht eine Stunde aufzuhalten und die Ruhe zu genießen. Dann durch den Park zu flanieren und den Leuten zuschauen, wie sie verschiedene Sportarten betreiben. Von Boccia über Sommerstock bis Skaten kann man hier vieles machen. Da zuzuschauen ist immer recht lustig."
Und vielleicht entdeckt man ja sogar einen Schatz. Im Gebüsch. Unter einem alten Baumstamm. So wie Emil und die Detektive beim Geo-Caching.
"Ich hab's gefunden! Da ist so eine Tüte, da sind kleine Stifte drin und andere Sachen. Da kann man jetzt seinen Namen reinschreiben und vielleicht was tauschen oder so."
Manchmal sind die kleinen Schätze die größten. Emil, Klemens und Philipp sind jedenfalls so begeistert, dass sie auch den zweiten Cache des Hirschgartens finden wollen. Im Norden des Parks steht ein alter Luftschutzbunker. Er ist hermetisch versiegelt. Nur ein schmales Briefrohr führt ins Innere. Dorthinein werfen Geo-Cacher seit Jahren Briefe mit Wünschen an die Zukunft. Damit in tausend Jahren eine ferne Zivilisation lesen kann, was die Menschen im 21. Jahrhundert beschäftigte. Emil und Klemens haben schon Ideen, was sie schreiben werden:
"Weniger Krieg vielleicht. Und fliegende Sachen, Autos wie bei 'Zurück in die Zukunft'!" / „Vielleicht auch, dass der Fortschritt nicht so schnell vorangeht. Weil, man sollte halt die guten alten Sachen auch behalten. Der Hirschgarten kann so bleiben, wie er jetzt ist."
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