"Hier sind schreckliche Dinge passiert"

02.07.2010
Die berüchtigte Sekte deutscher Siedler in Chile lebt auch nach dem Tod ihres Anführers Paul Schäfer fort. Die Regisseure Matthias Zuber und Martin Farkas haben sich auf Spurensuche begeben.
Jürgen König: Ein urchristliches Leben im gelobten Land, das hatte Paul Schäfer den deutschen Siedlern versprochen, tatsächlich wurde seine Colonia Dignidad zum Folterzentrum. Kinder wurden missbraucht und vergewaltigt, während der Pinochet-Diktatur war die Colonia Dignidad Operationsbasis des chilenischen Geheimdienstes, viele Regimegegner wurden dort umgebracht. 1996 tauchte Paul Schäfer unter, 2005 wurde die Kolonie unter Zwangsverwaltung gestellt. Paul Schäfer wurde 2006 zu 27 Jahren Haft verurteilt, er starb in Haft am 24. April 2010.

Die Colonia Dignidad aber besteht in gewisser Weise fort, unter dem Namen Villa Baviera. Und über die, die dort heute leben und die auch schon in der Colonia Dignidad gelebt haben, über sie haben Matthias Zuber und Martin Farkas einen Film gedreht. Beide sind Regisseure, Martin Farkas war hier auch Kameramann. Der Film heißt "Deutsche Seelen. Leben nach der Colonia Dignidad", ist ab jetzt in unseren Kinos zu sehen. Meine Herren, ich grüße Sie!

Matthias Zuber: Hallo!

Martin Farkas: Guten Tag!

König: Sie stellen drei Sektenmitglieder in den Mittelpunkt, die alle 1961 nach Chile kamen: Rüdiger, der war da ein Kind, Aki, ein zwei Monate altes Baby, und Kurt, er war einer der Stellvertreter dieses pädophilen Sektenchefs Paul Schäfer. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie das gewesen ist, als Sie diese Drei zum ersten Mal gesehen haben. Was war das für ein Erlebnis?

Farkas: Ich denke, die Voraussetzung für den besonderen Kontakt, den wir mit diesen Menschen bekommen ist, dass wir nicht hinkamen als Journalisten, als Reporter, die die Gräueltaten noch mal nachzeichnen wollten und die Abgründe, sondern wir kamen hin, haben die Kameras eingepackt gelassen, haben wochenlang mit ihnen gelebt. Und unsere Voraussetzung, unser Grundinteresse war, dass wir nicht gesagt haben, also hier sind schreckliche Dinge passiert, aber wir gehen nicht davon aus, dass alle von Euch schreckliche Menschen sind, sondern wir sind hingekommen mit einem Interesse für Sie.

König: Also dass da jemand kam, der nicht schon sein Urteil gesprochen hat?

Farkas: Genau, der nicht wusste schon von außen, was für böse Menschen es alle sind, sondern zu verstehen, was ist hier passiert.

König: Rüdiger, Aki, Kurt, diese Drei lebten zusammen mit etwa 500 anderen deutschen Sektenmitgliedern 40 Jahre lang, völlig isoliert von der Welt, wie weggeschlossen. Sie arbeiteten in der Landwirtschaft und lebten in einem, ja, perversen Wertesystem mit diesem Paul Schäfer als Alleinherrscher an der Spitze. Aber alle finden das Leben irgendwie ganz normal. Das Ganze kommt einem vor wie ein großes perverses Experiment mit Menschen – war das das Phänomen, dem Sie nachgehen wollten in diesem Film?

Farkas: Unbedingt. Die vielleicht stärkste Erfahrung, die übrig geblieben ist, dass in diesem Abgrund, in diesem völlig perversen Lebenszusammenhang Menschen sich immer noch menschlich verhalten können, dass jemand so wie Aki übrig bleiben kann, der in dem völligen Bewusstsein, dass es ein Fehler ist, was er macht, dass er Widerstand leistet, weil er von außen keine andere Identifikationsmöglichkeiten hatte, aber der bis zum Ende inneren und äußeren Widerstand geleistet hatte, das war für mich eine der stärksten und bewegendsten Erfahrungen dort.

Zuber: Für mich war das ähnlich, und ein Punkt, warum mich das so fasziniert, ist, dass wenn ich Filme mache oder auch Radiostücke mache oder so, finde ich es besonders spannend, mit Menschen zu tun zu haben, die in ganz extremen Situationen sind, weil ich das Gefühl habe, dass man da am meisten oder sehr viel von unserem eigenen Menschsein auch erkennen kann. Und ich glaube, dass so nach dem Dritten Reich zum Beispiel die Menschen ähnlich reagiert haben. Die haben so wie Herr Spatz im Film sagt – ja, wir schauen nach vorne und wir haben unseren Frieden sozusagen mit der Geschichte gemacht, und auf die Frage, geht das, sagt er, ja, bei uns geht das. Und man sieht dann, das geht doch nicht. Also es gibt da ganz viele Wunden, die da offenliegen.

Und für mich war das ein ganz starker Moment, Menschen zu begegnen, die ganz furchtbare Dinge erlebt haben, die vielleicht auch ganz furchtbare Dinge selber gemacht haben, und immer in diesen Menschen mir selber auch zu begegnen. Also auch in Kurt. Kurt hat Anteile, dieses Verdrängen, was er macht, das kenne ich von mir auch. Für mich war so, was von dem Film übrig geblieben ist, dass man jeden Tag aufs Neue entscheiden muss, wie verhalte ich mich. Also man kann sich nicht auf eine Tradition zurückziehen und sagen, der und der hat das dann und dann gesagt oder die Religion sagt das oder der Papst sagt das oder was auch immer, man muss jeden Tag für sich selbst entscheiden, wie verhalte ich mich.

König: Und es fallen dann im Film diese Sätze, die mir, als ich es gesehen habe, so typisch deutsch erschienen. Also Zitate: "Ich hab nicht gewusst, dass er Schlechtes gemacht hat", oder: "Es gab Schrecken, aber nicht Zweifel", also auch da kriegt man eine Gänsehaut. Oder: "Das mit der Geheimpolizei, das war alles im Dunkeln, alles nachts passiert, soweit ich weiß." Oder auch Sätze wie: "Ich trag niemandem was nach, ich hab zu Gott gefunden", oder: "Ich wage nicht zu sagen, der war’s und der." Also es ist eine sehr deutsche Kolonie, mit all diesen Momenten der Verdrängung, der Sehnsucht auch, und Sie bebildern das auch teilweise mit geradezu hoch romantischen Bildern, der deutsche Idealismus klingt da an, Schwenks über wogende Weizenfelder, über Flusslandschaften, auch eine Szene am Strand. Haben Sie auch gedacht, dass das ein sehr deutscher Film ist, den Sie da drehen?

Zuber: Also der Film heißt nicht umsonst "Deutsche Seelen". Also ich denke schon, dass da so ein Grundmoment war, dass wir, als wir uns drüber unterhalten hatten, haben wir gesagt, das ist eine wahnsinnig tolle Natur da. Also es ist so die Berge und … also es erweckt so die Sehnsucht nach Heilheit, nach so was, was man verloren hat oder was man glaubt, verloren zu haben. Und dass das vielleicht auch ein Punkt war, warum diese Menschen da dahin gegangen sind, dass sie gesagt haben, jetzt können wir hier unser Christsein leben, in der Natur, so quasi paradiesisch, wie Gott es geschaffen hat und …

König: Was man sich ja immer vergegenwärtigen muss, dass da ein Terrorregime errichtet wurde und auch funktioniert hat im ernsten Glauben, im Bewusstsein, etwas Gutes zu tun, Gott zu dienen, auch zu arbeiten, um Gott zu dienen.

Zuber: Ja, genau, also dieses sich vollkommen hingeben an so eine Idee – ich weiß jetzt nicht, ob das wirklich etwas rein Deutsches ist, aber das ist was, was mir aus der deutschen Geschichte, wie ich sie kennengelernt habe, hängengeblieben ist, so diese Idee haben, okay, hier in die Natur zu gehen, da was zu schaffen und das für ein ganz hohes Ziel zu machen und dann all die anderen Dinge auszublenden, dieses Sehr-Konzentriertsein auf einen Punkt und alle anderen Punkte draußen rum nicht sehen zu wollen. Ich denke mal, dass sie es nicht sehen wollen, also die Leute dort haben einen sehr hohen Energieaufwand gehabt, um überhaupt das zu verdrängen, was da passiert ist.

König: Was ja faszinierend ist, dieser Versuch, nach den Jahrzehnten von Folter und Vergewaltigung und Mord als Kollektiv dann weiter zu bestehen. Wie geht das, Herr Farkas? Man kann es ja nicht begreifen, diese Verdrängung, die dazu nötig ist, dass die Opfer weiter mit ihren Folterern von früher zusammenleben. Aber dann sieht man ja, es geht doch. Nämlich, wie geht das?

Farkas: Also es ist so, dass schon sehr viele gegangen sind und auch immer noch tröpfchenweise gehen, es findet so eine Ausdünnung statt, aber es ist wahnsinnig schwer auch für die, die gehen, und auch für die, die gegangen sind, sie bleiben in einem starken, mindestens inneren Kontakt, weil sie nie eine andere Identität gelernt haben. Und wir haben auch ein interessantes Gespräch gehabt mit dem Psychiater, der mit diesen Leuten dort arbeitet, und wir haben ihn gefragt, wie kann er denn dort die Leute therapieren an den Orten, wo sie gefoltert worden sind. Und er sagt: Ja, ihr Deutschen könnt das leicht sagen, ihr konntet auch nicht nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Holocaust konntet ihr auch nicht aus Deutschland auswandern, sondern ihr musstet euch dort neu finden.

Und so ist es auch dort. Die Leute haben diese einzige Identität, und in der müssen sie sich entwickeln und neu entwickeln. Sie haben nie gelernt, ein anderes Leben zu leben, ein selbstständiges Leben zu leben, sie haben nie gelernt, mit Geld umzugehen – das ist für uns unvorstellbar. Sie haben nie gelernt, täglich einzukaufen. Sie haben nie gelernt einen normalen Tagesablauf, und den lernen jetzt die Leute, die 40, 50 sind, und das ist wahnsinnig schwer.

König: Ich habe mich gefragt, ob Sie während der Dreharbeiten in der Villa Baviera auch in Gebäuden gewohnt haben, übernachtet haben, in denen früher gefoltert wurde. Wenn ja, Herr Zuber nickt schon, wie schläft man da?

Zuber: Das Erschreckende ist, nach einer Zeit habe ich sehr gut geschlafen. Ich hab die erste, wir haben … Im Krankenhaus waren wir untergebracht, und wir wussten, dass im Krankenhaus auch Folterungen stattgefunden haben oder Menschen wohl auch ermordet wurden. Die erste Nacht hatte ich mir dann meine Matratze angeguckt, und da waren, weil das natürlich eine Krankenhausmatratze ist, waren Flecken drauf auf der Matratze, also unter dem Bettlaken, und dann hab ich mich unters Bett gelegt in der ersten Nacht.

Und dann hatte ich aber am nächsten Tag solche Kreuzschmerzen, dass ich mich am nächsten Tag in das Bett gelegt habe, und am dritten oder vierten Tag habe ich sehr gut da geschlafen. Also dieses Verdrängen funktioniert anscheinend sehr, sehr, sehr gut. Und ich glaube, Freud hat das gesagt, das Verdrängen oder Vergessen ist lebenswichtig. Also ohne Vergessen könnten wir gar nicht leben, könnten wir nicht existieren.

König: Da sind die Kreuzschmerzen dann eben doch der stärkere Reflex als das, was man im Gehirn hat. Herr Farkas, wie war das bei Ihnen?

Farkas: Dort mit den Menschen zu leben, das war auch, wie Sie sagen, eine ungeheuer spannende Erfahrung, weil wir uns da dran gewöhnt haben, weil wir mit den Leuten gelacht haben nach einigen Tagen und uns unterhalten haben, und die waren interessiert an allen möglichen Dingen, und wie schnell man da zu einer Normalität kommen kann. Und wir waren sehr intensiv mit den Leuten, weil auch das Gesprächsbedürfnis der Menschen immer größer und immer stärker wurde und wir das Gefühl hatten, wir sind auch wie so ein Medium für sie. Und als wir dann nach zwei Wochen zum ersten Mal wieder die Villa Baviera verlassen haben und mit chilenischen Menschen zusammengetroffen sind, haben wir gemerkt, dass wir völlig die Verhältnisse verloren haben. Es hat uns, wir waren plötzlich, haben uns sehr entspannt…

König: Ein Teil der Gemeinschaft schon geworden.

Farkas: So schnell ging das. Wir haben gemerkt, dass wir … Wir haben uns richtig entspannt und haben gemerkt, wir müssen immer wieder rausgehen, um da wieder eine Referenz zu haben und zu merken, was ist eigentlich die Normalität.

König: Und auch ich sag mal freundschaftliche Gefühle oder so etwas in die Richtung Gehendes zum Beispiel zu Kurt gefunden, der auch, das muss man ja doch deutlich sagen, ein Verbrecher gewesen ist.

Farkas: Er ist ein Verbrecher gewesen, er ist also auch verurteilt dafür, aber das war natürlich auch eine sehr wichtige und starke Erfahrung unter dem Aspekt, dass wir eben glauben, dass das Böse nicht außerhalb von uns ist und auch der ganze Film so aufgebaut ist, eben nicht das Böse anzuprangern als etwas, was weit weg ist von uns und wo wir mit Abstand davorstehen und sagen, oh, da drüben ist das Böse, da vorne ist das Böse, sondern zu verstehen, wie nah uns das Böse ist und wie leicht man das erreicht in so einer Person von Kurt, der ganz viele charmante, freundliche, sogar kluge Seiten hat und der doch offensichtlich schreckliche Dinge mit zu verantworten hat. Und wie man sich so einer Person nähern kann, das war für mich persönlich eine sehr starke und bewegende Erfahrung, die auch einfach das Weltbild noch mal, glaube ich, sehr zurechtrückt.

Zuber: Also was Martin da gesagt hat, dieses Externalisieren des Bösen, das war auch so ein ganz starker Punkt am Anfang, wo wir so auch theoretisch über das nachgedacht haben, was wollen wir eigentlich erzählen, also was interessiert uns da jetzt dran, dass wir, wenn man mit Begriffen wie gut und böse operiert, ist das Böse meistens das andere, also man ist es selten selber, also in den wenigsten Fällen. Und so funktioniert eigentlich auch die Colonia. Die Colonia sagt, wir sind die Guten, also wir sind das auserwählte Volk Gottes, wir sind Brautgemeinde Christi, es gibt nichts Besseres als uns, und das rechtfertigt dann ganz viel Gewalt. Und das funktioniert bei uns im täglichen Leben auch.

Wenn wir sozusagen im Streit mit jemandem sind, dann finden wir an dem ganz viele negative Punkte, wo wir sagen, das ist eigentlich ein schlechter Mensch – also vielleicht drücken wir es nicht ganz so banal aus. Und das rechtfertigt dann ganz viele Sanktionen auch. Das rechtfertigt dann einige Dinge, die wir dann tun und sagen, ja, das ist ja nur eine Reaktion auf dieses Böse oder so. Das heißt, diese Einteilung, diese manichäische Einteilung in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse, ist im Prinzip der Anfang von Gewalt. Und wenn wir jetzt sozusagen einen Film über dieses Phänomen machen, wir fanden das unspannend, dann das zu übernehmen, eben wieder diese Einteilung zu machen, die im Endeffekt Gewalt ist.

König: "Deutsche Seelen – Leben nach der Colonia Dignidad". Der Film von Matthias Zuber und Martin Farkas läuft jetzt in unseren Kinos. Meine Herren, ich danke Ihnen und wünsche Ihnen alles Gute für Sie und für Ihren wirklich beeindruckenden Film

Zuber: Vielen Dank!

Farkas: Herzlichen Dank!

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