"Heute bin ich diesem Menschen unendlich dankbar"

Jörg Widmann im Gespräch mit Holger Hettinger · 26.03.2010
Jörg Widmann gehört zu den wichtigsten Komponisten der Gegenwart. Am Samstag ist in Düsseldorf die Neufassung seine Oper "Gesicht im Spiegel" zu sehen, die Widmann nach der Uraufführung 2005 noch einnmal grundlegend überarbeitet hat.
Holger Hettinger: Herr Widmann, die Kritiker der Opernwelt haben "Gesicht im Spiegel" als interessanteste Opernuraufführung 2003/2004 ausgezeichnet, das Musiktheater wurde zwei Jahre später mit großem Erfolg in Krefeld gespielt – warum war es notwendig, diese erfolgreiche Oper nun umzuarbeiten?

Jörg Widmann: Mir geht es manchmal so, nachdem ich ein Stück beendet habe, auch in der Kammermusik oder in der Orchestermusik, dass ich aufgrund der Erfahrungen der Aufführung einfach noch einmal überprüfen möchte, ob denn nun wirklich alles detailliert stimmt – sprich also die Dynamik zum Beispiel oder die Proportionen innerhalb des Stückes – und ich hatte immer an einer Stelle, nämlich in der zehnten Szene, das ist ungefähr die Hälfte des Stückes, immer den Eindruck, dass da die Balance etwas aus den Fugen gerät.

Dadurch, dass die bisherigen beiden Aufführungen ganz hervorragend waren, musste es also an mir liegen, und den Verdacht hatte ich von Anfang an. Jetzt habe ich eine ganz neue Szene für den Kinderchor – es ist eine Kinderchorszene – geschrieben, es ist Nacht, und jetzt, wenn ich den Proben sitze, denke ich mir, es war unbedingt nötig und ich bin sehr glücklich, das gemacht zu haben. Und außerdem habe ich dadurch, dass der Uraufführungsort, das Cuvilliéstheater, einen recht kleinen Graben hatte, habe ich eine relativ kleine Streicherbesetzung einer ziemlich großen Bläser- und Schlagzeugbesetzung gegenübergestellt. Das ist natürlich, in den Fortissimo-Momenten ist das nicht ideal, weil natürlich die Streicher man kaum hört. Und jetzt habe ich für die Düsseldorfer Fassung tatsächlich eine Vielzahl von Streichern, was für die lauten Stellen sehr gut ist, aber vor allem für die leisen Stellen, weil es sich noch schöner mischt und der Pianoklang noch samtiger und weicher wird.

Hettinger: Ihre Oper "Gesicht im Spiegel", die kreist um ganz viele Themenkerne. Sie erzählen da die Geschichte des Paares Patrizia und Bruno, die eine Biotech-Firma betreiben; einem Mitarbeiter gelingt es, ein Geschöpf zu kreieren, das aussieht wie Patrizia, und prompt verliebt sich denn auch Bruno in diesen Klon. Da steckt ja ganz viel drin: Faustisches, dann eine durchaus aktuelle Frage der Wissenschaftsethik, was darf der Forscher. Es geht um Profitstreben, weil mit dem Klonen von Menschen dem schwächelnden Börsenkurs dieses Biotech-Unternehmens aufgeholfen werden soll – Themen, die bei der Uraufführung 2003 brandaktuell waren und die heute auch noch aktuell sind, wenn auch mit anderen Akzenten. Inwieweit ist das in Ihre Überlegungen zur Neufassung eingegangen?

Widmann: Also zunächst, was die Aktualität anbelangt, habe ich schon den Eindruck, dass gerade durch diesen Börsencrash oder Finanzkrise, das haben wir auf den ersten Proben schon gespürt, das kann man richtig im Raum greifen, das ist sogar heute noch aktueller. Also das ist ja sozusagen der ganze Rahmen der Handlung, die beginnen und sagen, gleich ist es soweit, diese neue Erfindung wird alles ändern. Der Schluss des Stückes ist natürlich desolat.

Der Zuschauer sieht, dass überhaupt nichts sich geändert hat, beziehungsweise es hat sich alles geändert, aber bestimmt nicht zum Guten. Sie haben vollkommen recht, es ist ein ganz archaischer oder eben ein Archetypus, dieser ganz alte Menschheitstraum, auch hybride Menschheitstraum, sich selber eigentlich noch mal zu erschaffen. Aber der Unterschied zur Faust-Entstehungszeit oder eben Olympiafiguren im "Hoffmann", der große Unterschied, finde ich, ist schon, dass wir medizinisch vielleicht wirklich kurz davorstehen, das machen zu können, und das ist, finde ich, schon eine Verschärfung. Dieses Mythos – und mich interessieren überhaupt Mythen, die von dieser Grenzüberschreitung, von diesem Unerlaubten handeln, wo der Mensch sich in eine Sphäre begibt, in die er sich besser nicht begeben sollte.

Hettinger: Wenn man in Ihr Werkverzeichnis schaut , da merkt man, um Himmels Willen, dieser Jörg Widmann hat wahnsinnig viel gemacht. Sie sind Jahrgang 1973, haben sich aber in allen Gattungen hier geäußert. Bei Ihrem Violinkonzert haben Sie darauf hingewiesen, dass ein solches Konzert immer etwas Solitäres darstellt, also es gibt ja von den großen Komponisten der Romantik immer nur eins – Brahms, Beethoven. Auch bei den Quartetten war so etwas wie Gattungsdruck für Sie spürbar. Wie war das bei der Oper?

Widmann: Eine sehr gute Frage. Also dadurch, dass ich ja gar keinen Gegensatz sehe zwischen einer großen Traditionsliebe und dem unbedingten Weitergehen-Müssen, und zwar vielleicht deshalb, weil ich als Klarinettist, als Musiker mit der Musik der Vergangenheit natürlich täglich zu tun habe, habe ich ein unendlichen Respekt dafür, und insofern brauche ich solche Bezugsgrößen immer, um mich auch ein bisschen daran abzuarbeiten, vor allem mit dem Wunsch, insofern darüber hinauszugehen, dass man tatsächlich aus dieser Kenntnis und aus dieser Liebe zur Musik der Vergangenheit tatsächlich etwas ganz Neues schafft.

Auf dem Feld des Musiktheaters muss ich Ihnen ehrlich sagen, das ist ein ganz alter Traum von mir gewesen, und für mich war das eher eine Befreiung, also da habe ich eigentlich nicht so sehr geschaut, ja, wer hat in den vergangenen Jahrhunderten Opern geschrieben und warum und wie, sondern für mich war es eine große Notwendigkeit, ab einem bestimmten Zeitpunkt auch an trotz der jungen Jahre dann irgendwie Erfahrungsschatz …

Eine Oper ist ja immer irgendwo auch eine Summe des bisher Gemachten und gleichzeitig auch Ausblick. Und das habe ich gespürt, dass es ein bisschen beides ist. Es ist so ein bisschen Summe aus meinen bisherigen Werken auch und trotzdem, eine Oper zwingt einen natürlich auch immer, über sich selbst hinauszugehen und noch mal an den Rand zu gehen und diesen entscheidenden Millimeter auch darüber hinaus. Das ist eben auch Oper.

Hettinger: Es gibt ja dieses Bonmot von Wolfgang Amadeus Mozart, der gesagt hat: Komponiert ist schon alles, geschrieben noch nichts. Schöner Verweis darauf, dass Mozart seine Werke erst mal im Kopf entwickelt hat und dann einfach, in Anführungszeichen, nur noch niedergeschrieben hat. Wie gehen Sie vor?

Widmann: Bei mir ist es so: Ich brauche eine extrem lange, ich nenne es immer gerne die Inkubationszeit, so wie vor dem Ausbruch einer Krankheit oder von etwas Schönem vielleicht oder vor einer Geburt auch. Und dann kommt es quasi eruptiv an die Welt und ich schlafe kaum mehr und schreibe Tag und Nacht, wochen-, monatelang, hier im Fall von "Gesicht im Spiegel" ein knappes Jahr, fast ohne Unterbrechung dann an einem Stück. Und dann, ich kann nicht anders, es muss dann auch heraus.

Hettinger: Wie merken Sie das, dass jetzt das Werk so gereift ist, dass die Niederschrift folgerichtig ist?

Widmann: Ich muss es Ihnen ganz naiv und ganz ehrlich beantworten: Es ist so, dass man in Bewusstheit des Schreibtisches lebt und es einen Magnetismus zwischen einem selbst und diesem Schreibtisch gibt. Und dieser Schreibtisch schickt irgendwelche magnetischen Wellen aus, die einen immer abhalten und abstoßen von diesem Schreibtisch, und ich umschleiche diesen Schreibtisch immer wie eine Katze. Und irgendwann merke ich, es ist eigentlich schlimmer, es nicht aufzuschreiben, als sich jetzt hinzusetzen. Und das ist genau dieser Moment. Das ist ein ganz schlimmer Moment übrigens, das möchte ich gar nicht verklären. Aber wenn man dann loslegt, das kann ich kaum, also diese Glücksgefühle, es gibt kaum was Schöneres dann.

Hettinger: Wir haben ganz viele große Namen genannt – Mozart, Beethoven. Sie sind Jahrgang 73, also in einer Zeit – wenn ich jetzt so meine Erfahrungen so ein bisschen drauflege auf diese Zeit – in einer Zeit musikalisch sozialisiert, indem es nicht mehr selbstverständlich war, dass der Vater Schubert-Lieder gehört hat, sondern dann doch eher die Doors und Stones da durch die Gänge, durch die Lautsprecher gejagt hat. Wie war das bei Ihnen, welche musikalischen Sozialisationen, welche Eindrücke kristallisieren sich in Ihrer musikalischen Erfahrung?

Widmann: Also meine Eltern waren keine Musiker, hatten aber ein Hobbystreichquartett zu Hause. Mein Vater hat Cello gespielt und meine Mutter Geige, insofern ist das sicherlich sehr wichtig für die Prägung. Aber Sie haben natürlich ganz recht, dass ich einer Generation angehöre, die eigentlich mit MTV aufgewachsen ist, und das ist wunderbar, aber auch ganz problematisch, weil ich einer Generation angehöre, der man offenkundig nur noch zugetraut hat, sich für einen Drei-, Vier-Minuten-Clip lang konzentrieren zu können.

Und einer solchen Generation dann zu sagen, ja, setzt euch in eine Mahler-Sinfonie, die dauert eineinhalb Stunden, ist richtig brutal, da kriegt ihr unendlich viel mehr, das ist was ganz Schwieriges. Ich bin auf der anderen Seite dann auch von dieser Ästhetik sehr geprägt gewesen. Ich selber habe zum Beispiel eine Schulband damals gehabt und hatte einen Synthesizer, mit dem ich Tag und Nacht verbracht habe, da habe ich unendlich viel gespielt. Der wurde mir nach einer Aufführung mal geklaut, das war einer meiner schlimmsten Verluste überhaupt.

Und heute bin ich diesem Menschen unendlich dankbar, dass er das gemacht hat, weil ich dadurch natürlich Klarinette spiele und komponiere. Aber ich bin … Diese Musik ist mir nicht fremd, ich bin auch mit ihr aufgewachsen, aber mein Weg ist eben ein anderer gewesen.

Hettinger: Der Musikkritiker Gerhard Koch hat zu der Krefelder Aufführung von "Gesicht im Spiegel" 2005 sinngemäß geschrieben, dass Sie als erfahrener Interpret sehr genau wissen, wie man klangliche Wirkungspracht entfaltet, und angemerkt: Für seine Entwicklung wird es wichtig sein, sich spröde gegen die eigene Leichtigkeit zu machen. Wie sieht es aus, wie spröde haben Sie sich da gemacht?

Widmann: Da ist ein Kern Wahres deshalb dabei, weil bei mir grundsätzlich es erst mal aus einer Klanglust, aus einer Klangfülle kommt. Und für jemanden wie mich ist es sozusagen nicht die Frage, am Schreibtisch zu sitzen, ach Mensch, wann kommt denn die nächste Idee – mein Problem ist, ich habe zu viele, und ich weiß im Prinzip gar nicht, wohin damit. Das war von Anfang an so, deshalb ist tatsächlich in den letzten Jahren bei mir ein Fokus auf Struktur, auf Form, ich fessele mich sozusagen, ich wähle sogar Formen, weil ich genau weiß, dass etwas Ungebundenes wird es immer bei mir geben, sozusagen dieses Freiheitssüchtige wird es immer geben, aber ich finde es viel spannender, mich da zu fesseln und mich selber zu fordern.

Und das Komische ist ja, dass die andere Seite geht ja dabei nicht verloren, sie wird sogar noch verstärkt, und vielleicht gewinnt man sogar eine größere Tiefe. Das ist aber mit viel, viel Arbeit verbunden, man kann es auch nicht auf Knopfdruck herstellen. Aber in diese Richtung geht schon meine Überlegung auch. Ich schlag mir eigentlich immer eine Wunde, eine neue, weil ich genau weiß, wenn ich jetzt nur das mache, was ich bisher gemacht habe, das würde mich entsetzlich langweilen. Ich muss weitergehen, und dazu muss man sich manchmal ein bisschen wehtun, um dann in paradiesische Zustände zu gelangen.

Hettinger: Schaut man sich im Internet die Spielplanstatistiken der letzten Jahre an, dann muss man ziemlich weit nach unten scrollen, um dort eine zeitgenössische Oper zu entdecken. "Die Zauberflöte", "Carmen", "Butterfly", all diese Repertoirereißer stehen ganz, ganz hoch im Kurs. Was glauben Sie, warum kann das gemeine Opernpublikum nicht genug bekommen von eiskalten Händchen, Vogelfängern, Hopsasa und diesem ganzen historischen Personal?

Widmann: Also ich glaube, das Opernpublikum hat da vollkommen recht, mir geht das genauso, nur ich finde, dass das eine das andere nicht ausschließt. Und deshalb finde ich es etwas ganz Besonderes und zeugt auch tatsächlich von einem besonderen Mut des Opernhauses hier in Düsseldorf, dass sie mit diesen Repertoirestücken, die das ja – ich glaube, kurz davor ist eine "Tosca", ich glaube, das ist noch am Tag davor oder am Tag danach ist eine "Tosca". Und so verstehe ich mich selber eigentlich auch oder mein eigenes Musizieren. Ich liebe die "Zauberflöte" heiß und innig, ich finde das mit einer der genialsten Musiken, die es gibt. Allein diese Suizidarie von Papageno, da würde … jeder andere Musikdramatiker würde schon längst weitergehen, dann eben diese Endszene mit Sarastro und so weiter.

Und Mozart wirft da diesen liebevollen Blick noch mal auf diese nun wirklich eigenartige Figur Papageno und lässt ihm eine der schönsten und tiefsten und tragischsten Musiken, die er jemals komponiert hat. Der ergibt ja diese tiefe Musik zum Beispiel. Also ich finde nicht, dass man sagen kann, na ja, diese Repertoires sind halt so Reißer, das hat sich so eingebürgert, die sind einfach auch genial. Aber ich finde es ganz wichtig, dass man die Moderne dabei nicht vergisst. Und man wird auch in meinem Stück ganz konkrete Anspielungen hören. Es gibt ganz vieles, was in meiner Musik mit Robert Schumann zum Beispiel zu tun hat, weshalb ich mich besonders freue, dass es in Düsseldorf gespielt wird, der Stadt, in der Schumann …

Hettinger: Robert Schumanns Stadt quasi.

Widmann: Absolut, das ist für mich etwas ganz Berührendes.

Timm: Der Komponist Jörg Widmann im Gespräch mit meinem Kollegen Holger Hettinger. Morgen wird in Düsseldorf Jörg Widmanns Oper "Das Gesicht im Spiegel" aufgeführt, die nächsten Vorstellungen dann sind am 1., am 7. und am 11. April.
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