Herkunft spielt für sozialen Aufstieg stärkere Rolle als vor 30 bis 40 Jahren

Sighard Neckel im Gespräch mit Dieter Kassel · 11.04.2012
Der internationale Finanzkapitalismus schafft wieder einen Geldadel, sagt Sighard Neckel, Soziologieprofessor der Universität Frankfurt am Main. "Wer in einer höheren Herkunftsfamilie geboren ist, hat eine dutzendfach höhere Wahrscheinlichkeit, selbst wieder eine höhere Position zu erlangen."
Dieter Kassel: Man kann noch immer mit der Herstellung und dem Vertrieb von Waren Geld verdienen, mit Dienstleistungen auch. Aber nichts ist so lukrativ wie Geld zu verdienen mit Geld. Denn nur, wer schon viel hat, kann erfolgreich Teil des internationalen Finanzkapitalismus sein: Er investiert sein Geld in eine Firma, die ihm lukrativ erscheint, die ihm aber über den zu erwartenden Gewinn hinaus gar nicht interessiert, und zieht das Geld dann wieder ab, um es woanders zu reinvestieren. Diese Art zu handeln hat nicht nur unser Wirtschafts- und Finanzsystem verändert, sondern sie verändert auch unsere Gesellschaft, sagt Sighard Neckel. Er ist Professor für Soziologie an der Universität Frankfurt am Main und spricht, um das zu veranschaulichen, gelegentlich auch mal von Geldadel und von einer Refeudalisierung der Gesellschaft. Ich begrüße ihn jetzt am Telefon, schönen guten Tag, Professor Neckel!

Sighard Neckel: Guten Tag, Herr Kassel!

Kassel: Wie sieht er denn aus, der typische Geldadel unserer Zeit?

Neckel: Na ja, wir können sagen, dass sich das Bild des Unternehmerischen sehr verändert hat. Wir finden in der klassischen Industriegesellschaft den Unternehmer, der paternalistisch wie ein Vater seine Untergebenen regierte und der für das Wohl seiner Beschäftigten versuchte zu sorgen, wir finden in den 50er-Jahren beginnend einen technokratischen Typen von Unternehmer, der keinen ethischen Auftrag empfindet, aber denkt, dass er mit Technik und Innovation die Welt verbessern kann. Und wir haben heute eben den globalen Investor, der auf den Finanzmärkten tätig ist und der sein Geld sofort zurückzieht, wenn das Risiko zu groß ist, und der sich unter anderem auch deswegen vom klassischen Unternehmer des bürgerlichen Zeitalters unterscheidet, weil er für sein wirtschaftliches Handeln kein eigenes Risiko mehr trägt. Das Risiko, wie wir alle in den letzten Jahren gesehen haben bei Finanztransaktionen, bei Finanzspekulationen, wird an Dritte übergeben, an die Steuerzahler, die dann die Ausfallbürgschaften zu übernehmen haben. Und diesen Wandel sprechen wir unter anderem an, wenn wir davon reden, dass es durch den Finanzmarktkapitalismus neue Oberschichten gibt, die so etwas wie aristokratische Privilegien in der Gegenwart genießen, nämlich eine unvergleichbar andere Lebensform, unvergleichbar hohe Einkünfte, die sich jeder Vergleichbarkeit gegenüber anderen Einkünften entziehen. Wenn die Topmanager von Hedgefonds und der Finanzindustrie über das 350-Fache der durchschnittlichen Monatseinkommen von Beschäftigten verdienen, dann hat das mit einem bürgerlichen Wettbewerb und Marktprinzip nichts mehr zu tun, dann haben wir tatsächlich eine entrückte Oberklasse, die sich aus dem bürgerlichen Zeitalter der Vergleichbarkeit eigentlich verabschiedet hat.

Kassel: Aber wenn man diese Analogie zur Aristokratie vergangener Zeiten zu Ende denkt, würde das ja auch heißen, in diese neue Oberschicht, wie Sie sie gerade beschrieben haben, kann man nicht durch Leistung oder Aufstieg kommen, da muss man hineingeboren werden.

Neckel: Das ist eben etwas, was dazukommt: Das Aristokratische, das Ständische, das Vormoderne wird dadurch repräsentiert, dass die Herkunft immer wichtiger geworden ist für die soziale Platzierung. Wir sprechen davon, dass etwa in Deutschland in den Jahrgängen, die nach 1960 geboren sind, die Rolle der Herkunft, wo man geboren wurde, in welcher Familie man geboren wurde, immer wichtiger wird für den Statuserwerb. Das hat drastisch zugenommen, bei den Frauen stärker noch als bei den Männern und bei den Ostdeutschen noch stärker als in Westdeutschland. Und das heißt, dass wiederum das moderne Prinzip der sozialen Mobilität, das moderne Prinzip, dass man durch eigene Anstrengungen einen verbesserten Platz in der Gesellschaft erreichen kann, unterminiert wird durch das Prinzip der sozialen Vererbung. Wer in einer höheren Herkunftsfamilie geboren ist, hat eine dutzendfach höhere Wahrscheinlichkeit, selbst wieder eine höhere Position zu erlangen. Und das ist durchaus schon mal anders gewesen in den Zeiten der 60er-, 70er-, bis in die 80er-Jahre. Das hat sich auch in Deutschland verändert. Das heißt, die sozialen Schichten sind undurchlässiger geworden. Und auch das erinnert eher an vormoderne Sozialstrukturen als an das moderne Prinzip des Aufstiegs durch Leistung.

Kassel: Diese neue Oberschicht, die ihren Erfolg und auch ihre Macht letzten Endes dem internationalen Finanzkapitalismus verdankt, tut die denn aktiv etwas für das, was Sie gerade beschrieben haben? Also, wollen die sozusagen, vereinfacht ausgedrückt, bewusst unter sich bleiben, und arbeiten darauf auch hin? Oder tritt dieser Effekt mehr oder weniger automatisch ein?

Neckel: Ich glaube, es gibt beides. Auf der einen Seite gibt es diesen Club-Charakter, wenn man so will, durchaus schon als ein gewollter Effekt. Das heißt, es wird schon auch Exklusivität hergestellt, die man haben möchte. Das Instrumentarium ist natürlich einfach der Preis. Von den VIP-Lounges sozusagen auf den Flughäfen bis über die Ressorts, wo man seine Urlaube verbringt, bis hin zu einer zunehmenden sozialen Segregation in den Städten und den Lebensformen, den entrückten Lebensformen einer globalen Elite hat man die Möglichkeit, Exklusivität herzustellen über Preise, über Geld, und man benutzt es auch dazu. Es gibt natürlich auch Effekte, die nicht bewusst angestrebt worden sind, sondern die sich einfach dadurch einstellen, dass, wie in anderen Schichten auch, immer nach dem Prinzip der Ähnlichkeit rekrutiert wird. Wenn man jemanden sucht, den man in eine Firma hineinbringen möchte, wenn man jemanden sucht, mit dem man gerne befreundet sein möchte, dann geht man häufig nach dem Prinzip der Ähnlichkeit vor. Das gilt natürlich auch für die Oberschichten, die sich auf diese Art und Weise selber rekrutieren und dabei unterstützt werden auch von einer Tendenz, die wir als die Privatisierung öffentlicher Institutionen ansprechen können. Und am Wichtigsten natürlich für die moderne Art der Klassenbildung sind die Bildungsinstitutionen, das heißt, die Tatsache, dass man allein schon über die Inanspruchnahme teurer privater Bildungsinstitutionen einen exklusiven Club-Charakter auch für den eigenen Nachwuchs herstellen kann.

Kassel: Wir reden heute Nachmittag hier im Deutschlandradio Kultur mit dem Frankfurter Soziologen Sighard Neckel über so etwas wie den neuen Geldadel und eine Refeudalisierung der Gesellschaft durch den Finanzkapitalismus. Das kann ja, was Sie beschrieben haben, Herr Neckel, nicht im Interesse der Mehrheit der Weltbevölkerung sein. Warum ist es trotzdem so weit gekommen, welche Mechanismen haben da versagt?

Neckel: Na ja, es haben sich bestimmte Mechanismen durchgesetzt. Die Finanzmärkte sind zum wirtschaftlichen Leitbereich geworden und haben ja eine Zeit lang tatsächlich auch etwa 20, 25 Prozent der Bevölkerung zumal durchaus auch teilhaben lassen an gewissen Formen der Wohlstandssteigerung. Das ist jetzt allerdings vorbei. Es ist auch in den Mittelschichten klargeworden, dass der Boom der Finanzmärkte letztendlich nur einer sehr, sehr kleinen Schicht dauerhaft tatsächlich große Einkünfte und materielle und finanzielle Vorteile gebracht hat. Und dass wir im Augenblick in der Öffentlichkeit so kontrovers auch über die Finanzmärkte sprechen, auch über die Einkünfte der wirtschaftlichen Führungsschichten sprechen, hat unter anderem damit was zu tun, dass der Zweifel an der Rechtfertigung dieser Einkommen und an der wirtschaftlichen Vernunft der Finanzmärkte bis tief in die Mittelschichten hinein gewachsen ist, dieser Zweifel bei Mittelschichten, die mittlerweile eben nicht mehr - im Unterschied etwa zum Telekom-Boom um die Jahrtausendwende - mittlerweile nicht mehr daran partizipieren.

Kassel: Auf der anderen Seite: Können die einen wirklich ohne die anderen? Wenn wir mal auf das Prinzipielle zurückkommen: Wenn jemand investiert in eine Firma, die Dienstleistung, Waren anbietet, ihm kann zwar die Firma völlig egal sein, aber wenn es nicht am Ende noch irgendwo Menschen gibt, die diese Produkte, die da hergestellt werden, in Anspruch nehmen, funktioniert ja das ganze Wirtschaftsmodell, das wir haben, nicht mehr. Das heißt, diese Entsolidarisierung, die diese neue Schicht, die Sie beschreiben, ja offenbar betreibt, muss die sich nicht auf die Dauer auch für diese Schicht rächen?

Neckel: Zunächst einmal haben sie Vorteile. Sie befinden sich viel weniger - genau, wie Sie das beschrieben haben - in gesellschaftlichen Abhängigkeiten. Der bürgerliche Unternehmer war davon abhängig, dass er Arbeitskräfte gefunden hat, die für ihn tatsächlich auch dauerhaft profitabel arbeiten. Er musste sich auch mit anderen gesellschaftlichen Kräften und Klassen auseinandersetzen und gewissermaßen seine Einkünfte und seine materiellen Vorteile hatte er auch zu rechtfertigen. Aus diesem Druck, aus dieser Vernetzung, einer Einbindung in die gesellschaftliche Arbeitsteilung hat sich der globale Investor herausziehen können. Wenn die Dinge nicht so profitabel laufen, wie er sich das vorstellt, braucht er sich weniger mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, mit anderen gesellschaftlichen Kräften auseinanderzusetzen, sondern geht einfach zu seinem nächsten Investitionsobjekt über. Und das hat dieser Schicht natürlich Vorteile gebracht, die öffentlich zwar stark auch skandalisiert werden, die aber erst einmal an den Tatsachen wenig ändern.

Kassel: Sighard Neckel war das. Er ist Professor für Soziologie an der Universität Frankfurt am Main, und ich denke, Herr Neckel, wir werden nicht das letzte Mal über dieses Thema gesprochen haben. Ich danke Ihnen für heute für das Gespräch!

Neckel: Gerne!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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