Heimliche Verwandtschaft

Rezensiert von Daniel Schönpflug · 17.06.2012
Diese packende Doppelbiografie erzählt die Geschichte einer Revolution, die aus einem einfachen Untertanen einen mächtigen Führer macht - die Geschichte zweier Männer, die für entgegengesetzte Prinzipien stehen, Absolutismus und Republik.
Uwe Schultz' Doppelbiografie "Der König und sein Richter" scheint auf den ersten Blick eine gängige Redewendung zu bestätigen: Man sieht sich immer zwei Mal im Leben. Als der französische König Ludwig XVI. zum ersten Mal Maximilien de Robespierre begegnete, hielt er es noch nicht einmal für nötig, aus seiner Kutsche zu schauen. Maximilien, 17-jähriger Eleve des Pariser Elitegymnasiums Louis-le-Grand, kniete im Schlamm vor dem Verschlag des königlichen Fahrzeugs und sagte lateinische Verse zum Lob des Herrschers auf.

14 Jahre später sahen sich die beiden wieder. Es war der 5. Mai des Jahres 1789, und die Zeiten hatten sich geändert. Robespierre war jetzt Abgeordneter des Dritten Standes bei den Generalständen. Bald entstand aus diesem Gremium die Nationalversammlung, die Frankreich in den Strudel der Revolution riss und die 1793 die Hinrichtung des Königs beschließen sollte.

Eine einfache Geschichte, so scheint es auf den ersten Blick: Die Geschichte einer Revolution, die aus einem einfachen Untertanen einen mächtigen politischen Führer macht. Die Geschichte zweier Männer, die für zwei entgegengesetzte Prinzipien stehen: für Absolutismus und Republik.

"Bei aller persönlichen Distanz sind sie in jenen Jahren, als die Revolutionäre Frankreich in kürzester Frist aus der mittelalterlichen Staatsstruktur befreiten und in einen utopischen Volksstaat verwandeln wollten, wie zwei politische Naturkräfte aufeinandergeprallt. Sie haben ihre jeweilige Position – die eine überlebt, die andere noch ungelebt – nicht preisgegeben und mit dem Tod bezahlt."

Uwe Schultz schildert in packender Prosa die Lebenswege des französischen Königs und des Rechtsanwalts aus Arras. Sie begannen räumlich und sozial weit voneinander entfernt und verwoben sich ab 1789 in Paris miteinander – mit historischen Folgen und mit tragischem Ausgang. Doch ist es wirklich die einfache Geschichte zweier Antipoden? Das Kräftemessen zweier Prinzipien in wechselnden politischen Konjunkturen? Tatsächlich ist die Geschichte viel komplizierter. Und viel spannender. Denn der König und sein Richter sind sich in vielen Punkten viel ähnlicher als man auf den ersten Blick meint. Fast scheint es, als verbinde die beiden historischen Figuren eine heimliche Verwandtschaft.

Ludwig XVI. ist anders als seine Vorgänger auf dem französischen Thron. Er wächst als Sohn eines Zweiges der Bourbonenfamilie auf, der sich von höfischem Pomp, vom Exzess exklusiver Zerstreuungen und von der Mätressenwirtschaft abwendet. Als idealer Herrscher wird dem Prinzen der "Telemachos" vorgehalten – jener vom Aufklärer Fénélon erfundene Friedensfürst, der sich durch weise Regierung die Liebe seines Volkes zu verdienen verstand. Entsprechend schrieb Ludwig vor seinem Regierungsantritt: "Ich muss alle Menschen gleich und unabhängig durch das Recht der Natur betrachten."

"So weit waren die liberalen Ideen bereits über den Erzieher La Vauguyon an den Hof vorgedrungen – bis zu eben jener Egalité, die einer der Grundwerte der Französischen Republik werden sollte."

Nach dem Regierungsantritt war Ludwig XVI. ein frommer Herrscher, der zumindest versuchte, durch Milde die Liebe seiner Untertanen zu verdienen. Auch wenn er fest davon überzeugt war, dass seine absolutistische Herrschaft von Gott gewollt war, war Ludwig XVI. ein König, der die Aufklärung von Kindesbeinen an aufgesogen hatte.
So wie der junge Ludwig XVI. kein Hardliner des Ancien Régime war, so war der junge Robespierre alles andere als ein Rebell. Er war früh verwaist, hatte, dank eines Stipendiums der Kirche, seine Heimatstadt Arras verlassen und eine hervorragende Ausbildung in Paris erhalten. Vor 1789 strebte er keineswegs nach Umsturz, sondern vielmehr nach Ansehen und Wohlstand, nach einer gesicherten bürgerlichen Existenz in der Provinz. Gewiss gehörte Robespierre zu den breiten Kreisen von Adel und Bürgertum, die mit roten Ohren die Schriften Jean-Jacques Rousseaus gelesen hatten. Doch es sollte lange dauern, bis diese Lektüren bei Robespierre Wirkung entfalteten:

"Der 24-jährige Anwalt war vor allem, wenn nicht ausschließlich, an seiner Karriere interessiert, was in jenen Jahren gesellschaftliche Geselligkeit und elegante Garderobe nicht ausschloss. […] Der ehrgeizige Anwalt war inzwischen fest in das Milieu der Honoratioren von Justiz und Kirche der Stadt Arras eingebunden."

Erst am Vorabend der Revolution, als Paris und ganz Frankreich in fiebrige Stimmung verfielen, begann Robespierre, die Gesellschaft des Ancien Régime zu kritisieren und sich in die Politik zu mischen. Als Kandidat für die vom König für das Jahr 1789 einberufenen Generalstände prangerte er Ungerechtigkeiten und Missstände der Verwaltung an. Gleichzeitig sprach er jedoch mit höchster Ehrerbietung vom König, dem er zutraute, Frankreich von diesen Krankheiten zu heilen.

In der Anfangsphase der Revolution war Robespierre nur ein Hinterbänkler der Nationalversammlung – ohne feste politische Zugehörigkeit, ohne konsistente ideologisch-politische Linie. Vom amerikanischen Historiker Timothy Tackett stammt die These, dass es nicht die Revolutionäre waren, welche die Revolution hervorgebracht haben, sondern dass umgekehrt die Revolution die Revolutionäre geschaffen hat. Robespierre ist dafür ein gutes Beispiel.

So wie Robespierre in der Frühphase der Revolution weder als Feind des Königs noch als Feind der Monarchie oder gar als Republikaner auftrat, so schien Ludwig XVI. phasenweise durchaus bereit, sich mit dem neuen Regime zu arrangieren. Gewiss hatte er die Ansprüche der Nationalversammlung anfangs zurückgewiesen und versucht, seine Position mit Gewalt durchzusetzen. Welcher Monarch hätte dies nicht getan? Immerhin forderten die Abgeordneten des Dritten Standes damit nichts Geringeres als seine Souveränität. Und dennoch schreckte er am 14. Juli 1789 davor zurück, das Militär gegen das revoltierende Volk einzusetzen. Und dennoch steckte er sich nach dem Bastillesturm die blau-weiße-rote Kokarde der Revolution an. Und dennoch begab er sich im Februar 1790 in die Nationalversammlung, um eine Rede zu halten, die in dem Bekenntnis gipfelte, dass er die konstitutionelle Freiheit verteidigen und unterstützen wolle:

"Es ist unter Historikern heftig und lange über diesen Richtungsschwenk des Königs diskutiert worden - häufig wollte man darin nur ein Scheinmanöver sehen, von dem Ludwig XVI. sich erhoffte, einen größeren politischen Freiraum zu gewinnen, es ist aber keineswegs ausgeschlossen, dass er nach realistischer Abwägung der inzwischen geschaffenen Fakten eine politische Neuorientierung suchte – vielleicht auch in dem Bewusstsein, dem Erhalt der Krone für Frankreich und auch für seine Dynastie eine solche Anpassung schuldig zu sein."

Obwohl sie auf unterschiedlichen Seiten kämpften, lagen der zu Kompromissen gezwungene Ludwig XVI. und der noch tastend nach seiner politischen Rolle suchende Robespierre in der Anfangsphase der Revolution viel näher beieinander, als der weitere Verlauf der Geschichte vermuten lässt.

Der tiefe Graben zwischen den beiden Protagonisten brach erst 1791 auf. Katalysator war der Fluchtversuch des Königs im Juni diesen Jahres, der einerseits sein Taktieren beendete und andererseits den Beginn der republikanischen Strömung in Frankreich mit sich brachte. Von jetzt an drifteten die Monarchie und die radikalsten revolutionären Kräfte auseinander – und Robespierre und Ludwig XVI. wurden zu den Antipoden, als die sie die Geschichte in Erinnerung behalten hat. Die Unruhen vom 10. August 1792 führten zur Absetzung des Königs und zur Ausrufung der Republik. Robespierre gehörte zu denjenigen, die sich für eine Hinrichtung ohne Prozess aussprachen. Als der Prozess gegen Ludwig XVI. dann doch zustande kam und im Januar 1793 seinen Höhepunkt erreichte, war Robespierre der erste, der für das Todesurteil stimmte.

Ein trügerischer Sieg. Spätestens seit dem Tod des Königs lastete auf der Republik das ganze tonnenschwere Erbe der Monarchie. Wie leicht war es gewesen, sie mit Gewalt hinwegzufegen! Doch wie unendlich schwer, sie durch ein neues, von der Mehrheit akzeptiertes Regime zu ersetzen. Die Franzosen waren – trotz aller republikanischen Symbole und Redensweisen – in ihrem tiefsten Inneren noch von der Monarchie geprägt. Wie von einem Phantomschmerz geplagt, suchte diese Gesellschaft nach Ersatz für die verlorene Zentralfigur, nach ihrer Mitte. Es war Robespierres Schicksal, dass er – gemeinsam mit den anderen Mitgliedern des Wohlfahrtsausschusses – jene Leerstelle füllen musste, die der Tod des Königs hinterlassen hatte. Sie übten die Exekutive in einem Land aus, das innere und äußere Konflikte zu zerreißen drohten. Ihre Antwort war die Guillotine, der Terror.

In ihrem Scheitern an den gewaltigen Ansprüchen, die die Revolution geweckt hatte, ähnelten sich der König Ludwig XVI. und der Jakobiner Robespierre. Ironischerweise war es das von seinen Feinden gestreute Gerücht, Robespierre wolle sich zum König krönen lassen, das seinen Gegnern den Vorwand lieferte, ihn zu liquidieren.

Der Historiker Thomas Nipperdey hat einst geschrieben:

"Die Grundfarben der Geschichte sind nicht Schwarz und Weiß, ihr Grundmuster nicht der Kontrast eines Schachbretts; die Grundfarbe der Geschichte ist grau, in unendlichen Schattierungen."

Uwe Schultz hat ganz in diesem Sinne ein historisches Tableau mit vielen Schattierungen gemalt – und keinesfalls grau in grau, sondern in bunten kräftigen Farben. So ist en passant eine packende Geschichte der Französischen Revolution entstanden. Nur eines ist zu bedauern: Dass der Autor die vielfältigen Gedanken und Deutungen, zu denen diese doppelte Biographie anregt, diese faszinierende Mischung aus Gegensätzen und Verwandtschaft, nicht vor seinen Lesern ausgebreitet hat.

Uwe Schultz: Der König und sein Richter. Ludwig XVI. und Robespierre. Eine Doppelbiographie
C. H. Beck, München 2012
400 Seiten, 24,95 Euro
Cover Uwe Schultz "Der König und sein Richter"
Cover Uwe Schultz "Der König und sein Richter"© C.H. Beck
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