Heimliche Opfer

Rezensiert von Christine Westerhaus · 24.04.2006
Sich nicht das neueste Handy oder die teuren Markenklamotten leisten zu können, ist für die Jugendlichen in unserer Gesellschaft ein echtes Problem. Viele Kinder in Entwicklungsländern sind dagegen schon froh, wenn sie überhaupt Schuhe besitzen und zur Schule gehen dürfen. Mit dem Problem, dass viele Kinder in Armut leben und schon sehr früh in ihrem Leben die Härten des Lebens kennen lernen, beschäftigt sich das Buch "Kinder ohne Kindheit".
Kinder ohne Kindheit, das sind viele. Viel zu viele. Das sind eine Milliarde kleine Menschen, die in Armut leben. Das sind 250 Millionen Kinder, die in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen leben müssen. Das sind eine Million Kinder, die jährlich sexuell missbraucht werden. Das sind Kinder, die als Opfer im Krieg umkommen - allein im Jahr 2004 waren es 1,7 Millionen, die schuldlos starben. Das sind aber auch 300.000 Kindersoldaten, die selbst zum Töten gezwungen werden. Von ihnen allen handelt das Buch "Kinder ohne Kindheit".

Es ist ein berührendes Buch. Ein Buch, das aufrüttelt und letztendlich zeigt: Es kommt auf jeden von uns an, damit das Elend dieser Milliarde Kinder ein Ende hat. Und Engagement lohnt sich!

Wer jetzt denkt, das ist doch nichts Neues, ich weiß doch schon alles über die traurige Situation dieser Kinder, der täuscht sich. Natürlich mag es stimmen, dass in den Medien darüber schon viel berichtet worden ist, aber selten bieten diese Berichte einen so nahen und persönlichen Einblick in das Schicksal dieser Kinder wie die Geschichten, die die Herausgeber Reiner Engelmann und Urs Fiechtner in diesem Buch zusammengetragen haben.

Insgesamt beschreiben 25 verschiedene Autoren aus der ganzen Welt die Situation der Kinder in Entwicklungsländern und in Industrienationen. Die meisten von ihnen engagieren sich in Kinderhilfsprojekten oder leben in Entwicklungsländern. In sechs verschiedenen Kapiteln, die nach den unterschiedlichen Kinderrechten unterteilt sind, geht es um das Recht auf Leben, auf Bildung und Beruf, Schutz vor Kinderarbeit und sexueller Gewalt oder das Recht auf Unterbringung und Gesundheit. In den einzelnen Erfahrungsberichten und Erzählungen begeleiten die Autor und Autorinnen die Schicksale von einzelnen Kindern, Schicksale, die stellvertretend für Tausende von ihnen erzählt werden. Zum Beispiel die qualvolle Geschichte von Amineh, die von ihrem Onkel missbraucht, dann mit einem viel älteren Mann zwangsverheiratet wurde und sich mit 16 Jahren das Leben nahm. Oder die Schilderungen der letzten Stunden im Leben der elfjährigen Alina, die bei der Geiselnahme in der Schule von Beslan erschossen wurde.

Die meisten dieser Erzählungen sind sehr persönliche Geschichten, die unter die Haut gehen. Die überwiegend authentisch und glaubwürdig sind. Die betroffen machen, obwohl man nicht zum ersten Mal davon hört. Die den Leser über das eigene Leben und die eignen Probleme nachdenken lassen, die im Vergleich mit denen der beschriebenen Kinder nur lächerlich wirken können. Trotzdem: auch hierzulande gibt es Kinder, denen die Kindheit geraubt wird. Auch ihnen ist das Buch gewidmet. Zwar wirken die Beispiele von verletzten Kinderrechten in unserer Gesellschaft auf den ersten Blick im Vergleich zu denen der Kinder aus Krisengebieten stellenweise eher wie Wohlstandsproblemchen, doch auch sie lassen Kinder leiden.

Besonders deutlich machen dies die Geschichten über den 14-jährigen Mark, der eine Ohrfeige einstecken muss oder die über die Kinder, die den ganzen Tag vor dem Fernseher oder am Computer sitzen, weil die Eltern nichts mit ihnen unternehmen. Das sind die Geschichten, die zeigen wie problematisch es für ein Kind ist, wenn es aus dem Freundeskreis ausgeschlossen wird, weil es niemanden zum Geburtstag einladen darf. Oder wie schrecklich ein Kind leiden muss, wenn es an Klassenfahrten nicht teilnehmen kann, weil die Eltern die Reise nicht bezahlen können. Einfühlsam wird hier deutlich gemacht: Armut und Misshandlung jeder Art zerstören Kinder, rauben ihnen die gesunde und schöne Kindheit, die sie aber brauchen, um reife Erwachsene zu werden. Wird die Kindheit geraubt, steht die Gesellschaft vor ihrem Ende. Um nichts weniger geht es den Herausgebern. Und das darf und kann nicht sein: Engagement ist daher umso wichtiger. Hier sind wir alle gefragt. Und das Buch will helfen zu motivieren. Das gelingt ihm.

Trotzdem ist nicht alles an diesem Erzählband gelungen: Zwischen die sehr persönlichen Erzählungen über die Schicksale verschiedener Kinder auf der ganzen Welt sind immer wieder Kapitel eingebaut, in denen dem Leser Fakten, Zahlen und Paragrafen über die aktuelle Situation der Kinderrechte präsentiert werden. Leider lassen sich die Autoren dieser Einschübe zu sehr von der Amtssprache der deutschen Gesetzgebung beeinflussen. Die komplizierten und oft umständlichen Sätze sowie die vielen Fachbegriffe und Paragrafen machen diese Texte unnötig schwer verständlich. Dass hier nicht mehr auf die Lesbarkeit und Verständlichkeit des Textes geachtet wurde, verwundert vor allem deshalb, weil dieses Buch in der Kinder- und Jugendbuchreihe des Patmos-Verlags erschienen ist. Dadurch verliert das Buch enorm an Qualität, da selbst Erwachsene eine gute Konzentrationsfähigkeit mitbringen müssen, um dem Inhalt zu folgen. Das ist schade, denn letztendlich zeigt die krasse Gegenüberstellung der persönlichen Fallbeispiele auf der einen Seite und die ebenfalls abgedruckten gesetzlichen Grundlagen der Kinderrechte auf der anderen Seite, wie sehr Theorie und Wirklichkeit immer noch auseinanderklaffen. Egal in welchem Land, egal in welcher soziokulturellen Gesellschaft, zu oft sind Kinder Opfer. Heimliche Opfer, die angesichts der enorm hohen Zahl viel zu selten zu Wort kommen. Reiner Engelmann und Urs Fiechtner samt ihrer Autoren helfen, dieses Schweigen zu brechen, wer ihr Buch gelesen hat, kann nicht mehr sagen, ich habe davon nichts gewusst. Und das ist gut so.

Reiner Engelmann Urs Fiechtner (Hg.): Kinder ohne Kindheit
Sauerländer Verlag
212 Seiten, 19,90 Euro