Heimat ist dort, wo man wegwill

11.01.2012
In einem ebenso spröden wie eindringlichem Ton beschwört Norbert Scheuer die sperrige Poesie der Eifel-Provinz. Nebelversunkene Landschaften, wo es ständig tropft, über die Landstraßen kriechende Rübentraktoren, der verlassene Steinbruch. Fernweh setzt er als Mittel der Verfremdung ein.
Norbert Scheuer, Jahrgang 1951, ist gelernter Elektriker, studierter Physiker und im Hauptberuf Systemprogrammierer. Literarisch bietet er allerdings Gegenbilder zur technischen Lebenswelt. "Neue Heimatgedichte" lautet die Gattungsbezeichnung seines neuen Buches – was nicht heißen soll, dass alle diese Verse erst kürzlich entstanden sind, sondern dass hier eine Spielart bodenständiger Poesie offeriert wird, die mit herkömmlicher lyrischer Heimatverklärung wenig zu tun hat.

Die Gedichte beschwören die sperrige Poesie der Eifel-Provinz: nebelversunkene, verregnete Landschaften, wo es ständig tropft und viele Pfützen den Himmel spiegeln. Sie inventarisieren die dörfliche Lebenswelt: die Kuhweiden, die Kirche, deren Glockengeläut über den Hügel weht, Sandhalden und Bahndamm, auf dem die Regionalzüge vorbeirauschen. Stilllebenartig wird die umgekippte Badewanne vor Augen geführt, die auf der "matschigen Pferdeweide" als Tränke dient.

Über die Landstraßen kriechen die "Rübentraktoren". In der Luft die Mauersegler, an Zaundrähten und Nägeln Fetzen von Schafswolle oder Strähnen von Pferdemähnen: melancholische Zeichen des Lebens. Das lyrische Ich – zweifelnd, wehmütig, unruhig – übt sich in Exerzitien der Wahrnehmung, das Besondere im Gewohnten entdeckend: "gefrorene Pfützen mit Schlieren/ weiße Luftbläschen/ die so zart unter der Sohle knacken".

Heimat ist dort, wo man wegwill. Fernweh wird als Mittel der Verfremdung eingesetzt: die Dinge und Menschen des Dorfs mit dem Blick dessen sehen, da ja auch gehen könnte – wenn er denn könnte. "Fortgehen fängt damit an / dass ich mich zurücksehne." Das Exotische findet sich um die Ecke: "Kühe mit Wimpern/ wie von indischen Tänzerinnen/ die Markierung/ der Bolzen auf der Stirn". Eine beinahe fernöstliche Weisheit liegt darin, wie hier dem "Universum des Zufalls" mit der Wiederkehr des Gleichen begegnet wird: Räumliche Beschränkung als Mittel gegen die Beliebigkeit. Der Welt entsagen, um eine Welt zu finden.

Von den Fossiliensammlern am Steinbuch ist einmal die Rede. Scheuer sammelt selbst die ethnologischen Fossilien des einstigen dörflichen Lebens: Landarbeiterinnen, die bei Regen ihre "Rockschöße über den Kopf" werfen und sich unter Zweige am Waldrand hocken – "betrachteten den Regen/ als würden sie beten". Die Beschwörung der verschwundenen Zeit holt auch Kindheitserinnerungen herauf, Nachhall einer magischen Welt mit ihren Legenden, Märchen, dörflichen Mythen und Tagtraumphantasien: "als Kind dachte ich/ in jedem Regentropfen wohne eine Königin". Da ist Desillusionierung vorprogrammiert.

Inzwischen sind auch in Scheuers Provinz die Windkrafträder eingewandert. Die Dorfgaststätte ist geschlossen, Bergwerk und Steinbruch verlassen. Das Dorf, das einmal Arbeits- und Lebensgemeinschaft war, eingebunden in die agrarischen Zyklen, ist heute bloß noch Stadtrandgebiet: "in der Nähe des Bahnhofs spielen Freunde Boccia/ Liegestühle stehen auf den stillgelegten Gleisen".

Der Ton dieser locker gefügten Verse ist ebenso spröde wie eindringlich, wechselt zwischen Schmerzlichkeit und Gelassenheit. Zum Reiz der Lektüre trägt die Anschaulichkeit bei: Die Gedichte erzeugen beim Leser sogleich eine Welt als Vorstellung. Am Ende der Bildfolgen steht meist eine lakonische Pointe, ein beiläufiges Resümee, eine lebensphilosophische Andeutung. Wie diese: "Der Tod ist nur eine falsche Bewegung/ aus allem raus/ dort ist es still/ wie in einem Bienenstock im Winter."

Besprochen von Wolfgang Schneider

Norbert Scheuer: "Bis ich dies alles liebte. Neue Heimatgedichte"
C. H. Beck, München 2011
101 Seiten, 14,95 Euro
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