Heimarbeit als Zukunftsmodell

Das Comeback des Jahrhunderts

04:08 Minuten
Historische Illustration eines Mannes an einem Webstuhl.
So sah das Homeoffice des 19. Jahrhunderts aus. © Getty Images / Photo12 / Universal Images Group
Überlegungen von Hans Rusinek · 09.09.2020
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Mit der Industrialisierung wurde die Arbeit von zu Hause vertrieben und in Fabriken und Büros verlagert. Durch Corona kehrt sie wieder nach Hause zurück. Das könnte viel Gutes bringen, meint Hans Rusinek: etwa ein Revival von Nachbarschaft und Heimat.
Ein Sommertag im Jahr 1837. In Berlin hat wieder eine neue Fabrik eröffnet, das Borsig-Lokomotivenwerk. Am Anhalter Bahnhof kommen die neuen Arbeiter an, aus Schlesien, aus Ostpreußen, sie blicken ratlos in ihre berufliche Zukunft. Gerade noch waren sie Landarbeiter, deren Produkte nun nicht mehr konkurrenzfähig sind, oder in kleinen Betrieben, die der Fabrikproduktion nun nicht mehr gewachsen sind.
Hinter dem Tor, an dieser Schwelle von Agrar- zu Industriegesellschaft, erwartet sie nicht nur andere Arbeit, sondern ein ganz anderes Leben. Die Arbeit wurde von zu Hause vertrieben, nennt der Historiker Jonathan Beckman die zentrale Veränderung im 19. Jahrhundert.
Und heute, 180 Jahre später, gibt es eine epochale Kehrtwende, die Arbeit kehrt erneut für viele ins Zuhause zurück. Es ist das Comeback des Jahrhunderts: Was durch die Industriegesellschaft auseinandergerissen wurde, wird durch den Übergang in die Wissensökonomie und den Schub einer Pandemie wieder zusammenkommen.

Das Wort Privatsphäre gab es nicht

Beckman beschreibt die Vergangenheit, die die Menschen am Fabriktor zurückließen. Beschreibt er auch unsere Zukunft? Die vorindustriellen Arbeiter lebten und arbeiteten oft im gleichen Gebäude, der Schmiede, Mühle, dem Hof. Das Zuhause verschmolz mit dem der Nachbarn, mit denen tauschte man, handelte man, verheiratete seine Kinder. Zu Hause war, wo sich Wohnen, Gemeinschaft und Beruf überschneiden. Dort schliefen alle Wange an Wange, auch Diener und Lehrlinge. Das Wort Privatsphäre gab es nicht. Auch der Begriff Heimatort als Abgrenzung zum Wohnort taucht zum ersten Mal 1824 im Wörterbuch auf: Vor der massenhaften Arbeitsmigration in die Städte gab es keinen Bedarf für diese Unterscheidung.
Die Industrialisierung führte dann zur Vergroßstädterung. Die künftigen Proletarier – auch dies ein neuer Begriff – zogen in kleine Baracken nahe den Fabriken, in der Mitte davon die große Dampfmaschine, dann die Arbeiter, drumherum erste Büros. Großstadt und Mietwohnung waren ebenfalls ein neues Phänomen.
Groß war auch das Umlernen von der bedarfs- zur betriebsorientierten Arbeit: Von den mit wöchentlicher Lohntüte bezahlten Arbeitern kamen die ersten nach der Hälfte des Monats nicht wieder, mehr blieben dann nach der dritten Monatswoche daheim. Sie waren es gewohnt, im Monat nur so viel zu arbeiten, wie sie zum Leben brauchten. Dass dies bei Bauern und Handwerkern geht, aber nicht in der Industrie, musste erst einmal gelernt werden. Rückblickend kann ich sagen: Das ist uns sehr gut gelungen.

Ratlos stehen viele vor der neuen Arbeitswelt

Heute ist ein Sommertag im Jahre 2020, ratlos stehen viele wieder am Tor zu einer neuen Arbeitswelt. Aber diese bringt uns zurück nach Hause. Muss man 200 Jahre in die Vergangenheit schauen, um in die Zukunft blicken zu können?
Trotz ihrer Schnelligkeit befinden wir uns immer noch in den frühesten Stadien der Work-from-home-Revolution, es wird Jahre oder Jahrzehnte des Experimentierens brauchen, um sie richtig hinzubekommen. Aber: Was wäre denn richtig?
Vielleicht eine Rückkehr des solidarischen Mehrgenerationenlebens, jetzt, wo viele aus urbanen Baracken, Studentenwohnheimen und Bürokästen wieder bei der Familie sind. Vielleicht eine fairere Verteilung von Lohn- und Hausarbeit im neuen Zuhausesein, jetzt, wo Männer sich vor Letzterem nicht mehr im Büro verstecken können. Vielleicht ein Revival von Nachbarschaft und Heimat und damit ein neuer Gemeinsinn gegen die Spaltungserscheinungen in der Gesellschaft.

Balance von Eigen- und Betriebsbedarf

Vielleicht denken wir in einer Zeit, die laut dem Philosophen Byung Chul Han von klassenloser Selbstausbeutung geprägt ist, auch die obige Anekdote mit der Lohntüte neu. Vielleicht schaffen wir eine bewusstere Balance von Eigen- und Betriebsbedarf, jetzt im neuen Arbeitszuhause.
Nein, wir wollen die vorindustrielle Vergangenheit nicht romantisieren, aber es gilt, sich diesen verblüffenden Ähnlichkeiten am Tor zur neuen Arbeitswelt zu stellen, damit wir in diese Welt nicht so hineinstolpern wie unsere Vorfahren in die der Fabriken.

Hans Rusinek (30) ist Transformationsberater, Autor (in Medien wie BrandEins und BusinessPunk) und Chefredakteur des Transform Magazins - einem Independent Magazin, das mit konstruktivem Journalismus ökologisch-gesellschaftlichen Wandel bewirken will. Zusätzlich engagiert er sich beim thinktank 30 des Club of Rome, wo er sich mit wirtschaftsethischen Fragen auseinandersetzt. Hans Rusinek beendete sein Studium der Volkswirtschaftslehre, Politik und Philosophie an der London School of Economics und ist ausgebildeter Design Thinker.

© Ulrike Schacht
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