Heike Schmoll: Begabtenförderung schon im Vorschulalter beginnen

Moderation: Jürgen König · 15.07.2008
Die Buchautorin Heike Schmoll kritisiert, dass in Deutschland Hochbegabte zu wenig unterstützt würden. Sie fordert, schon im Kindergarten Eliteförderung zu betreiben: "Ich glaube, dass man durch eine frühzeitige Förderung tatsächlich auch in benachteiligten sozialen Schichten sehr begabte Kinder auftun kann". Man müsse unvoreingenommen von der sozialen Herkunft nach Begabung schauen.
Jürgen König: "Lob der Elite - Warum wir sie brauchen", so heißt das Buch der Bildungsexpertin Heike Schmoll, die jetzt Gast im Studio ist. Frau Schmoll, willkommen! Sie beginnen Ihr Buch mit einer ausführlichen Beschreibung des deutschen Misstrauens gegenüber Eliten, hervorgerufen, wie Sie schreiben, durch das Versagen großer Teile der gesellschaftlichen Eliten in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus, in der DDR. Warum, Frau Schmoll, wirkte das so derartig nach?

Heike Schmoll: Weil Deutschland, glaube ich, wie kein anderes Land diese Wunde des Dritten Reiches nie losgeworden ist, Verrat an jüdischen Wissenschaftlern, Künstlern und so weiter. Wobei man immer sagen muss, dieses Eliteversagen bezieht sich nie auf alle Eliten, sondern es gab immer Ausnahmeerscheinungen. Es gab auch Einzelne, die überhaupt nicht versagt haben. Aber es gab eben auch viele, die in der Tat ihrer Eliteverantwortung nicht gerecht geworden sind.

König: Es kam in jüngster Zeit noch das Missmanagement vieler Manager dazu, auch das Fehlen politischer Identifikationsfiguren, dass man eben doch ausgesprochen ungern auf die Eliten blickt.

Schmoll: Ja, das ist sozusagen das Missliche, was in diesem Jahr zusätzlich geschehen ist. Die Zumwinkel-Geschichte war das Wiederaufflammen des alten Vorurteils gegen Eliten. Wir waren eigentlich gerade dabei, etwas endtabuisierter von Eliten zu reden. Ich habe das als große Chance empfunden, diesem Begriff und auch dem Elitestatus und dem Nachdenken und auch wiederum der Eliteförderung etwas unvoreingenommener entgegenzublicken. Aber Zumwinkel hat in der Tat das alles wieder zunichte gemacht und alle alten Vorurteile wieder aufleben lassen. Also: Eliten sind undemokratisch, Elite verschärft die soziale Ungerechtigkeit. Und es gibt ja auch einen Eliteforscher in Darmstadt, Michael Hartmann, der das zu seiner Kernthese gemacht hat und der zum beliebtesten Fernsehgast geworden ist, weil das Publikum das auch gerne hat, dass diese Vorurteile quasi wissenschaftlich bestätigt werden.

König: Und was sagen Sie, was sind Eliten?

Schmoll: Zumwinkel wäre für mich keine Elite…

König: Klaus Zumwinkel von der Post ehemals, muss man einmal dazu sagen.

Schmoll: Genau. Wäre für mich sicherlich kein Vertreter der Elite, weil ich mich dagegen wehre, alle Menschen, die in herausgehobenen Funktionen sitzen, gleich als Elite zu bezeichnen. Das ist eben die soziologische Übereinkunft, dass man bestimmte gesellschaftlich herausgehobene Funktionen als Funktionselite bezeichnet. Es ist dann vollkommen egal, was die für charakterliche Eigenschaften oder für ein Verantwortungsgefühl mitbringen, was diese für Menschen sind, was sie leisten, was sie vor allem auch zum Beispiel an Sozialem leisten, was man gar nicht immer weiß. Sondern es hängt alles nur an der Funktion. Insofern ist auch jeder Politiker Elite, jeder führende Wirtschaftsmanager, jeder führende Musiker, und das finde ich einfach zu undifferenziert.

König: Sie machen in Ihrem Buch einen großen historischen Exkurs. Lassen Sie uns den hier auch machen, wenn auch in etwas kürzerer Form. Sie schreiben kulturgeschichtlich gesehen gingen die Hochleistungseliten auf den Typus des protestantischen Berufsmenschen zurück, der seine Bildung und dann eben entsprechend seinen weltlichen Beruf wie eine religiöse Pflicht ausgeübt habe.

Sie beschreiben die aristokratischen Eliten, die gegen diese höfischen Eliten entwickelte humanistische Bildungsidee, Sie machen dann einen Gang durch die Bildungspolitik des 19. Jahrhunderts mit seinem Fächerkanon, all den streng definierten Aufstiegschancen und dann dieser homogenen Schicht von Gebildeten, die sich über Jahrzehnte hinweg halten konnte.

Im 20. Jahrhundert dann das Versagen der Eliten, auch das Verschmähen von Eliten in der Nachkriegszeit, wie wir es schon angesprochen haben, bis hin zu einem Zustand, den Sie nur noch "Bildungsgeschwätz" nennen. Ich will einen Absatz aus dem Buch zitieren:

"Halbbildung wurde im Zuge der Bildungsexpansion geradezu institutionalisiert. Die hohlen Phrasen von Bildungsstandards, Mindestanforderungen, Bildungsplänen und einer großflächigen Bildungsplanung offenbaren die Geistlosigkeit des allgemeinen Bildungsgeschwätzes."

Das klingt wie die Geschichte eines einzigen Verfalls, wenn man diese bildungspolitische Reise sich so anschaut. Sehen Sie das so dramatisch?

Schmoll: Ich glaube, dass es nicht nur Verfall ist, aber man muss schon sagen, dass diese Bildungsexpansion dazu geführt hat, dass zumindest Hochbegabungsförderung in den Hintergrund getreten ist und stattdessen immer im Vordergrund steht die Förderung der Benachteiligten, der Schwachen. Im Grunde muss man sich dafür rechtfertigen, wenn man Hochbegabte fördert in Deutschland, während das andere absolut opportun ist und im Übrigen auch dafür die Gelder fließen, für das andere nicht. Selbst solche Systeme wie Finnland, die ja bei den PISA-Studien ganz an oberster Stelle stehen, geben unter der Hand zu, dass bei ihnen zwar die Schwachen sehr gut gefördert werden, aber die Spitzen eben nicht gefördert werden. Das ist sozusagen der Nachteil von Einheitssystemen und auch der Nachteil davon, wenn man 70 Prozent zum Abitur führen will, wovon ja auch durchaus deutsche Bildungspolitiker träumen.

Ich bin überhaupt nicht dafür, so früh zu selektionieren und sozusagen bestimmten Leuten die Aufstiegswege zu versperren. Ganz im Gegenteil. Ich glaube, dass man durch eine frühzeitige Förderung tatsächlich auch in benachteiligten sozialen Schichten sehr begabte Kinder auftun kann. Das passiert hier häufig nicht, weil wir im Grunde keine Vorschultradition haben und auch keine vernünftige frühkindliche Bildung.

König: Aber Sie sagen eben, die Ungleichheit in Staatssystemen, in Gesellschaftssystemen sozusagen gewaltsam einebnen, nivellieren zu wollen, das sei ein Irrweg?

Schmoll: Das ist auch in der Tat so. Das glaube ich wirklich. Und die letzten Jahre zeigen das im Grunde auch. Man hat das Gymnasium nicht kaputt gekriegt, auch wenn man alle möglichen Anstrengungen dazu unternommen hat. Selbst so ein Land wie Schleswig-Holstein hat seine vergleichsweise noch akzeptablen PISA-Ergebnisse einzig und allein einer Schulform zu verdanken, und das war das Gymnasium.

König: Sie gehen sehr hart mit vielem ins Gericht in diesem Buch, was in den letzten Wochen, Monaten, Jahren sehr intensiv diskutiert worden ist. Die Exzellenzinitiative lehnen Sie als universitäre Mogelpackung ab. Der europäische Bologna-Prozess sei praktisch, na, nicht gescheitert, aber wirkungslos. Sehen Sie irgendeine Alternative? Denn die habe ich im Buch nicht entdeckt.

Schmoll: Ich glaube, und das wird ja auch deutlich beschrieben, dass man Eliten nicht durch Anpassung und durch Reglements heranziehen kann. Das Prinzip der Exzellenzinitiative ist ja, dass Sie Ihre Anträge so stellen, dass Sie durchkommen. Das heißt, Sie können nur in einem bestimmten Format gefördert werden. Und Sie müssen alles tun, um dieses Format zu erfüllen. Und ich glaube, dass die wesentliche Förderung von Elite, und das wird ja auch angedeutet, ein großes Maß an Freiheit ist. Das Zutrauen dazu, dass ein Forscher mit seiner Freiheit was sehr Konstruktives anfangen kann und dass der Sinn von Forschung ist, dass sie ergebnisoffen funktioniert. Bei der Exzellenzinitiative ist es im Grunde immer ergebnisgeleitete Forschung. Es ist klar, was am Ende dabei rauskommen muss, mindestens Interdisziplinarität. Aber wirklich freie Forschung hat immer die überraschendsten Ergebnisse gebracht.

König: Das deckt sich ja mit dem Begriff überhaupt, den Sie von Elite haben, nicht als eine soziale Kaste verstanden, sondern als eine innere Haltung sozusagen. Man wird Teil der Elite, schreiben Sie, nicht durch die Erziehung in einer Eliteschule mit gutem Namen, sondern durch Selbstbestimmtheit, Integrität, Verantwortungsbewusstsein, Leistung. Dann sagen Sie, Elite sei unentbehrlich für die Demokratie, weil demokratische Systeme diese Unabhängigkeit im Denken brauchen. Das stimmt ja nun ohne Zweifel. Aber warum ist zu diesem unabhängigen Denken nur eine Elite fähig?

Schmoll: Zu unabhängigem Denken ist sicher nicht nur Elite fähig. Aber wenn nicht eine Elite den Mut hat, das vorzuleben, wie man unabhängig denken kann und dafür auch im Grunde soziale Nachteile in Kauf nimmt, dann trauen sich die anderen das auch nicht. Dann traut sich die breite Masse erst recht nicht.

König: Inwiefern soziale Nachteile in Kauf nehmen?

Schmoll: Na, Sie sehen ja im Augenblick, dass es nicht opportun ist, bestimmte Meinungen zu äußern, zum Beispiel bildungspolitisch, gegen die Einheitsschule zu wettern, ist nicht opportun. Wenn Sie gegen die Einheitsschule und für das gegliederte Schulsystem argumentieren, sind Sie im Grunde schon ein Vertreter der sozialen Ungerechtigkeit. Wenn Sie es trotzdem tun, müssen Sie mit bestimmten Formen der sozialen Ausgrenzung rechnen. Das heißt, Sie müssen damit rechnen, unter Umständen allein auf verlorenem Posten zu stehen. Sie müssen mit einem hohen Maß an Einsamkeit rechnen, und Sie müssen auch damit rechnen, dass Sie nicht mehr eingeladen werden von bestimmten Leuten zu bestimmten Veranstaltungen und so weiter.

König: Aber man kann sich doch mit seinesgleichen dann umso öfter treffen? Da wiederum dann doch so eine Art Community bilden.

Schmoll: In der Tat, man kann dann, auf Neudeutsch, Netzwerke bilden. Das ist ja auch der Sinn von funktionierenden Eliten, dass man gute Netzwerke bildet. Das bedarf aber der Anstrengung, die fallen einem nicht gerade zu.

König: Sie schreiben: "Sobald in einem politischen System Eliten eine entscheidende Rolle spielten, war es zum Scheitern verurteilt." Warum sollte das ausgerechnet bei der Demokratie anders sein?

Schmoll: Weil bei der Demokratie sich Eliten nie als Dauerherrschende verstehen, sondern die Eigenart der Demokratie und von ihren Eliten ist es, dass es erstens plurale Eliten sind, das heißt, es gibt nicht die Elite, sondern es gibt eben in jedem gesellschaftlichen Sektor Eliten, seien es Handwerker, seien es Musiker, seien es Intellektuelle. Das ist vollkommen egal. Das ist keine Frage der Bildung, sondern eine Frage der inneren Haltung, wie Sie richtig sagen. Und Elitesein hat sozusagen immer dann seinen Sinn verwirkt, wenn man glaubt, man sei ein für allemal Elite. Eliten wechseln. Und Elite ist man immer für eine bestimmte Zeit, aber man darf nicht meinen, man dürfte persönliche Vorteile daraus ableiten, man darf auch nicht meinen, man kann das missbrauchen, um zu herrschen.

König: Sie sprechen ja immer von einer pluralistischen Gesellschaft vieler nebeneinander existierender Eliten. Wie können wir dahinkommen?

Schmoll: Indem wir möglichst früh Eliten fördern, im Grunde schon im Kindergarten, schichtenübergreifend, indem wir unvoreingenommen von der sozialen Herkunft nach Begabung schauen. Es gibt unter Arbeiterkinder mindestens so viel Begabte wie unter Professorenkindern. Aber die brauchen auch die entsprechende Förderung, die sie gerade zuhause nicht haben. Wenn die Eltern keine Bücher haben, haben sie eine schlechtere Ausgangsposition als ein Kind, was eine ganze Bibliothek zu Hause hat.

König: Unser Bildungssystem ist nun das, dass es ist. Sehen Sie Chancen, dass das, dass dieses Maß an Förderung zum Beispiel möglich sein wird?

Schmoll: Wenn man in der Tat die frühkindliche Bildung ausbaut, wie das ja geplant ist, halte ich das für möglich. Es wird immer ungleiche Chancen im Sinne von ungleichen Ausgangspositionen geben. Sie können die Eltern nicht auswechseln. Aber man kann durch entsprechende frühkindliche Bildung auch bei Ausländerkindern sehr, sehr viel erreichen.

König: Vielen Dank! Heike Schmoll im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Ihr Buch "Lob der Elite - Warum wir sie brauchen" ist erschienen im Verlag C.H. Beck.
Heike Schmoll: Lob der Elite
Heike Schmoll: Lob der Elite© C.H. Beck Verlag
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