"Hegel Lecture" von Hélène Cixous in Berlin

Schreien gegen die Endlichkeit

Die französische Essayistin, Romanautorin und Dramatikerin Hélène Cixous in ihrer Wohnung in Paris, September 2013
Die französische Essayistin, Romanautorin und Dramatikerin Hélène Cixous in ihrer Wohnung in Paris, September 2013 © AFP / Fred Dufour
Von Tobias Wenzel · 15.05.2016
Vor acht Jahren gab es die erste "Hegel Lecture" an der Freien Universität Berlin. Nun sprach die französische Schriftstellerin und Poststrukturalistin Hélène Cixous über den "Schrei in der Literatur" - und es wurde tatsächlich laut.
Hélène Cixous' Schrei hallt durch den fast vollen Max-Kade-Hörsaal der Freien Universität Berlin. Passend zum Titel ihres Vortrags "The Cry of Literature". Es ist ein literarisch-philosophischer Essay, in dem die 78-jährige französische Schriftstellerin, Poststrukturalistin und Frauenrechtlerin den Bogen vom Schrei bis zur Literatur schlägt, munter assoziiert und mit Worten spielt. Alles beginne mit dem Anrufen eines Gottes, des theos:
"Erst schreien wir ins Theolefon: 'Hallo? Schrei. Ai! Ai!' Dann schreiben wir: Wir übersetzen in der Ultrastille des Schreibens die grellen und kurzen Schreie der Wirklichkeit. Die Literatur ist da, um lange zu brüllen, um Schreie bis zur Musik auszustoßen."
Im offensichtlich vor allem von Akademikern besetzten Hörsaal ist es totenstill. Aufmerksame Faszination für das kreativ Assoziierte? Oder doch eher leises Wegdämmern bei dieser dekonstruktivistischen Suche in Sprache und Welt, mit der die Vortragende Trost für den angesichts der Endlichkeit verzweifelt schreienden Menschen spenden will?
"'Du bist tot. Ich entreiße dir die Welt. Ich nehme dir deinen Atem. Es ist vorbei. Aus', sagt die Sterblichkeit. 'Nein', schreie ich. 'Ich kapituliere nicht. Was vorbei ist, ist nicht vorbei.' Ich nehme das Wort néant (das Nichts) und wende es in sein Gegenteil: né en (geboren in ...)"

Hélène Cixous als poetische Geisterbeschwörerin

Dass dieses Wortspiel im aus dem Französischen übersetzten Vortrag weder im Englischen noch im Deutschen funktioniert – Schwamm drüber. Zack, hat Cixous den Tod oder dessen "Unabänderlichkeit" besiegt. Auch mit Hilfe der Literatur, die sie "die andere Allmacht" nennt. Dann spricht durch die poetische Geisterbeschwörerin Cixous auch noch der verstorbene Jaques Derrida, ein langjähriger Freund, der Vater der Dekonstruktion. Schon da fragt man sich, warum niemand schreit: "Dieser Vortrag ist zum Schreien!" Aber es bleibt ruhig und wird noch schlimmer, als Hélène Cixous behauptet, die Wunderkraft der Zahl 59 in den Texten von Shakespeare, Proust, Derrida und anderen ausgemacht zu haben.
"Irgendwann schreibe ich ein Buch, das 59 Seiten hat. Und auf der 59. Seite sage ich dann: "…"
Hélène Cixous macht eine lange Pause, um den Zuhörern die Zeit zu geben, das komisch zu finden.
"… Ist die 59 die Geheimzahl der Literatur?"
Gegenfrage: Warum lädt die FU Berlin zu einem angeblichen "Highlight" der Berliner Kulturangebote, zur Hegel Lecture, eine Esoterikerin ein, die so selbstverständlich über Telepathie spricht wie andere über Käsekuchen?

Eine Hommage an die Zahlenmystikerin

Als der Vortrag nach – natürlich! – 59 Minuten vorbei ist, steht eine Frage im Raum: Wie hätte Ferdinand de Saussure, der Begründer des Strukturalismus, gegen den sich Derrida und dessen Anhänger auflehnten, wohl auf Cixous' Vortrag reagiert?
"Ich hätte ihm leid getan."
Antwortet Hélène Cixous überraschend eindeutig. Will sich dann aber als gute Poststrukturalistin doch nicht festlegen, relativiert ihre Aussage und redet und redet.
So lange, dass die wie der ganze Vortrag mäandernde Antwort in normaler Geschwindigkeit leider nicht mehr in diesen Beitrag gepasst hätte. Der endet nämlich als kleine Hommage an die Zahlenmystikerin bei 3 Minuten und – richtig! – 59 Sekunden.
"... longtemps avant moi."
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